Die Freiheit zu sterben: Assistierter Suizid und aktive Sterbehilfe

Andreas Poltermann bei seiner Eroffnungsrede.
Bild: Heinrich-Böll-Stiftung/xpress. Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0. Original: Flickr.

 

6. Mai 2011
Dr. Andreas Poltermann ist Leiter des Referats Politische Bildung Inland, Heinrich-Böll-Stiftung

Für die Heinrich-Böll-Stiftung ist dies heute die dritte Konferenz, die sich mit der Freiheit zu sterben auseinandersetzt. Die vorausliegenden Konferenzen artikulierten den Bedarf und das Interesse an einer verbindlichen Patientenverfügung, die zu einem besseren Verhältnis zwischen Patient und Ärzten/Pflegenden führt. „Selbstbestimmung im Dialog“ war und ist die Fragestellung der Heinrich-Böll-Stiftung. In diesem Interesse waren sich die Heinrich-Böll-Stiftung und die jeweils mitverantwortlichen Partnerorganisationen einig.

Das gilt auch für die heutige Tagung, insoweit es um den Bedarf nach einer öffentlichen Debatte geht: Die Debatte über die Schlussfolgerungen aus der seit 2009 erreichten Verbindlichkeit der Patientenverfügung für medizinische Behandlung, Pflege und Sterbebegleitung; und die Debatte über den assistierten Suizid und die aktive Sterbehilfe.

Es geht heute aber nicht allein um die öffentliche Debatte. Die Humanistische Union und die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben bringen Positionen in diese Debatte ein, die auf Beschlüssen beruhen. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat hingegen keine Position, die wir in einer Kommission erarbeitet hätten; sie hat eine Haltung. Zunächst die Haltung, dass es in diesen grundlegenden Fragen immer ein Für und Wider gibt, das ausführlich erarbeitet, dokumentiert und in die öffentliche Debatte eingebracht werden sollte. Deshalb haben wir ergänzend zu dieser Tagung mit FürundWider.org das Debattenforum Sterbehilfe [www.fuerundwider.org/sterbehilfe] entwickelt, in dem auch Positionen vertreten werden, die denen, die heute zu Wort kommen, widersprechen. Argumente sollen Vorrang haben vor Schreckensbildern – diese Haltung des Debattenforums FürundWider.org macht sich auch die Heinrich-Böll-Stiftung zu eigen. Weiterhin meinen wir, dass wir mehr empirische Evidenz brauchen, um die vielfach kursierenden Schreckensbilder über Sterbetourismus und Sterbeindustrie in der Schweiz oder den Niederlanden in Argumente und ausgewogene und begründete Urteile verwandeln zu können. Deshalb ist es unserer Auffassung nach an der Zeit, die Erfahrungen mit der Suizidassistenz und ihren rechtlichen Grundlagen in der Schweiz sowie mit der Praxis und der Regelung der aktiven Sterbehilfe in den Niederlanden näher in den Blick zu nehmen. Was ich darüber hinaus zum Ausdruck bringe, ist meine persönliche Haltung.

Wie die Kontroversen um die eher halbherzige Änderung der „Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung“ (vom 18. Februar 2011) zeigen, gibt es in Deutschland großen Bedarf an einer breiten gesellschaftlichen Debatte über den assistierten Suizid. Die Frage hier ist, ob Suizidbeihilfe bereits heute legal ist, ob das ärztliche Standesrecht ihm widerspricht und ob strafrechtliche Anpassungen und weitere gesetzliche Änderungen, etwa im Betäubungsmittelgesetz, sinnvoll und notwendig sind. Dass sich ein großer Teil der Bevölkerung für die Suizidbeihilfe und auch rund ein Drittel der deutschen Ärzteschaft für deren grundsätzliche Möglichkeit aussprechen, steht hingegen nicht in Frage. Das gilt meines Wissens nicht in gleichem Maße für die aktive Sterbehilfe, die eine Mehrheit der Bevölkerung zwar nicht verboten wissen will, die sie aber auch nicht befürwortet. 

Gegen den ärztlich und von Angehörigen assistierten Suizid werden heute Gefahren beschworen und abschreckende Bilder bemüht, die auch schon gegen die Verbindlichkeit der Patientenverfügung vorgebracht wurden.

Mit der Drohung vor der „Entsorgung der Schwachen“ in einer Euthanasie-Industrie werden Schreckensbilder von Dammbruch und abschüssiger Bahn gemalt. Der Sterbewunsch eines einzelnen Menschen kann aber nicht beantwortet werden mit allgemeinen Befürchtungen und Behauptungen über eine drohende Ökonomie des Todes. Die Bilder und Normwelten, in denen Patientenverfügung, assistierter Suizid und aktive Sterbehilfe bekämpft, ja geradezu verteufelt werden, belegen, wie sehr religiöse Überzeugungen von Todsünde und Höllenpein ins Diesseits verlegt werden. Doch sie bleiben – bestenfalls - religiöse Überzeugungen, die in einer pluralistischen Gesellschaft keine überindividuelle Gültigkeit für sich beanspruchen können – und die, nebenbei bemerkt, als innerweltliche Versprechen vom sozial eingebetteten und palliativ betreuten „guten Tod“ auch theologisch-christlich nicht zu überzeugen vermögen, weil hier das schmerzlose Sterben an die Stelle des seligen Sterbens tritt. 

Himmel und Hölle werden bewegt, allein zur innerweltlichen Disziplinierung und zur Aufrechterhaltung der staatlich verfügten Kontrolle des Lebens und des Sterbens durch die dafür Privilegierten: durch die medizinische Profession und den medizinisch-pflegenden Komplex mit beachtlicher ökonomischer Bedeutung. 

Das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis solle geschützt werden; durch die Möglichkeit der Suizidhilfe oder deren rechtliche Freigabe werde es gestört. Aber dieses Verhältnis ist heute gestört! Die Laien verlassen sich heute nicht mehr auf das privilegierte Wissen der Professionellen, sie lassen ihre Weltkonstruktion nicht mehr unwidersprochen entwerten, die - je älter sie werden, um so stärker - von der professionellen Sicht auf das richtige Handeln beim Sterben abweicht. Je weniger die medizinische Profession auf diese Diskrepanz zwischen Weltwissen der Laien und Professionswissen einzugehen bereit ist, desto weniger wird der Profession das Vertrauen entgegengebracht, das sie braucht. So gilt es heute ein solches Vertrauensverhältnis durch vertrauensbildende Rahmenbedingungen wieder zu stärken, die den Anspruch der Patient/innen auf Selbstbestimmung und Schutz vor Verletzung ihrer Individualität und Würde ernstnehmen. Und es gilt, die teilweise eklatante soziale Ungleichheit auszugleichen, die heute zwischen denen besteht, die durchsetzungsstark ihren Willen als Individuen auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen zur Geltung bringen, und den vielen, deren Individualität dort einer „Rekollektivierung“, der Erzeugung einer den Strukturen und Interessen des medizinisch-pflegenden Komplexes angepassten „konformen Selbstbestimmung“  unterworfen wird.

Gerne wird die Würde der Patient/innen gegen jede Form sozial akzeptierter Assistenz beim Suizid oder bei der aktiven Sterbehilfe in Stellung gebracht. Gerade die Schwächsten müssten gegen jede Tendenz einer ökonomisch begründeten sozialverträglichen Verkürzung des Lebensendes bewahrt werden. Dabei wird er Eindruck erweckt, Würde und Lebensschutz fänden in einer „ökonomiefreie(n) Sterbezone“ statt.  In Wirklichkeit ist den professionell Beteiligten aber vollkommen bewusst, dass ihr Engagement für die unbegrenzte Behandlung am Lebensende ohne Ansehung der damit verbundenen Kosten den Kampf um die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen besonders effektiv führt. Nicht auszuschließen auch, dass Krankenhäuser und Pflegeheime geradezu ein ökonomisches Interesse an einem lange hinausgezögerten Sterben haben, weil sie mit den hier generierten Erträgen andere, viel stärker ökonomisch kontrollierte Bereiche quersubventionieren können.

Vorrang der grundgesetzlich garantierten Patientenrechte und des gesetzlich verbrieften Rechts auf verbindliche Patientenverfügungen bedeutet: der Wille des Patienten hat auch dann Vorrang, wenn er sich gegen Therapien richtet, die ein Arzt / eine Ärztin für angeraten hält. Erst die Durchsetzung dieses Prinzips schafft Vertrauen. Heute hingegen müssen Patient/innen bangen, ob ihr Wille auch wirklich anerkannt wird und ihr Misstrauen ist groß und oft auch berechtigt, dass am Lebensende lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen werden, die ärztlich nicht indiziert sind. So ist zum Beispiel anzuzweifeln, ob 140.000 Magensonden, die in Deutschland im Jahr gelegt werden, wirklich ärztlich indiziert sind.

Die Patientenverfügung verlangt den behandelnden Ärzt/innen und den Pflegenden Alternativen ab. Die Palliativmedizin ist dabei der Verbündete der misstrauischen Patienten im Kampf gegen schlechte Medizin, die sich im Bewusstsein einer privilegierten und verpflichtenden Garantenstellung alternativlos gibt. Die Patientenverfügung, die die lebenserhaltende Maßnahme ablehnt, fordert ja die Pflegenden nicht auf, sich vom kranken Menschen abzuwenden, sondern im Gegenteil, sich ihm zuzuwenden, statt eine Magensonde zu legen, Beziehungen aufzubauen. Sie ist keine Todesverfügung, sondern eine Behandlungsverfügung - ein Instrument der Bejahung des Lebens, der Stärkung von Individualität, die nur in sozialen Beziehungen möglich ist, und der Abwehr eines Lebens ohne Würdigung der je konkreten Individualität.

Es ist unstrittig und wird von der Politik auch gerne betont, dass die Palliativmedizin in Deutschland angesichts der steigenden Lebenserwartung der Menschen ausgebaut werden muss. Dies geschieht auch, wenn auch viel zu langsam. Aber die Palliativmedizin kann nur eine Mindestanforderung abdecken. Es ist unredlich, sie gegen den individuellen Wunsch auf Hilfe beim Suizid auszuspielen. Vielmehr kann, wie im US-Staat Oregon, die Legalisierung der Suizidhilfe das Gespräch über die verfügbaren Behandlungsalternativen eröffnen – auch dies also ein mögliches Instrument der Stärkung von „Selbstbestimmung im Dialog“. Es hieße aber die Palliativmedizin überfordern, wollte man von ihr verlangen, dass sie sämtliche Todeswünsche austreiben soll. Mit diesem Gestus tritt sie zwar hier und da auf, so als wären die Kapitulation vor Schmerzen und Hoffnungslosigkeit grundsätzlich zu kurieren. Doch dieser Verfügungsanspruch ist unangemessen und widerspricht der Rolle der Palliativmedizin als Verbündete zunehmend misstrauischer Patient/innen. In bestimmten Fällen schwersten Leidens bleibt für kranke Menschen nur die Kapitulation. Auch und gerade diesen Menschen sollt die Palliativmedizin zur Seite stehen.

Aus meiner Sicht gibt es in Deutschland Reformbedarf bei der Ermöglichung und rechtlichen Absicherung des ärztlich assistierten Suizids. Ermöglicht wird er nicht dadurch, dass die Grundsätze der Bundesärztekammer ihn zu einer privaten Angelegenheit machen („Die Mitwirkung des Arztes bei der Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe.“) , die vom Arzt / der Ärztin nebenher als Privatperson erledigt werden kann; ermöglicht im Sinne von „eröffnet“ wird er dadurch, dass die Hilfe beim Suizid zu einer Aufgabe ärztlicher, und zwar palliativer Fürsorge wird, die der Arzt oder die Ärztin in freier Gewissensentscheidung annehmen oder zurückweisen kann. Ich bin davon überzeugt, dass das Vertrauen der Patienten in ihre Ärzte / Ärztinnen wieder zunimmt, wenn die Palliativmedizin nicht prinzipiell als Alternative zur Kapitulation, sondern als fürsorglicher Beistand angeboten wird, der auch für den freiverantwortlichen Suizid gilt.