Region im Umbruch: Eine Reise ans Horn von Afrika

Analyse

Außenministerin Annalena Baerbock reist diese Woche ans Horn von Afrika. Ein Blick in die Region zeigt, dass sich die ohnehin krisengeschüttelte Region aktuell in einem dramatischen Umbruch befindet: Etablierte Gleichgewichte geraten ins Wanken und Großkonflikte spitzen sich zu, mit verheerenden Folgen für die Stabilität und die humanitäre Lage in der Region. Dies bringt besondere Anforderungen an die deutsche und europäische Außenpolitik mit sich.

Khartoum, Sudan am 17. September 2023 - Das Foto zeigt eine Luftaufnahme der Stadt. Im Hintergrund aufsteigender Rauch - resultierend aus den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF).

Erste geplante Station: Dschibuti, das seit zweieinhalb Jahrzehnten von Ismael Omer Guelleh, dem nur zweiten Präsidenten seit der Unabhängigkeit 1977 regiert wird. Der Kleinstaat an der strategisch wichtigen Enge zwischen Rotem Meer und dem Golf von Aden beherbergt zahlreiche ausländische Militärbasen; jene der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ohnehin, seit gut zwei Jahrzehnten die US-Armee, und neben anderen, kleineren Kontingenten seit 2017 auch die erste Übersee-Basis Chinas. Nach dem 11. September 2001 war Dschibuti der entscheidende Brückenkopf der „Operation Enduring Freedom“ am Horn von Afrika, später auch das Zentrum internationaler Anti-Piraterie-Operationen.

Sicherheitslage auch im Roten Meer akut

Frische Aufmerksamkeit erfährt Dschibuti seit Ende 2023, weil die Huthi-Miliz vom gegenüberliegenden Jemen aus Schiffe auf dem Weg von und zum Suezkanal mit Drohnen und Raketen beschießt - nach eigenen Angaben, um Israel zu einem Ende des Gaza-Krieges zu bewegen. Schiffe aus mehr als einem Dutzend Länder sind angegriffen worden. Mittlerweile wird ein großer Teil des Verkehrs über den mehr als 8.000 Kilometer längeren Umweg vorbei am Kap der Guten Hoffnung geleitet – mit enormen Folgekosten für Europa und Nordamerika.

Weniger beachtet, aber für die Regionalpolitik am Horn schwerwiegend: Die Sicherheitslage im Roten Meer betrifft mit dem Hafen von Dschibuti auch die weitaus wichtigste Route für Im- und Exporte Äthiopiens. Großbritannien und die USA greifen seit dem 12. Januar Stellungen der Huthi aus der Luft an, eine internationale Koalition unter US-Führung und eine EU-Marinemission im Roten Meer – voraussichtlich mit deutscher Beteiligung – sind in der Diskussion. Dem Standort Dschibuti wird hier unweigerlich eine wichtige Rolle zufallen.

Lage in Äthiopiens Amhara-Region bleibt angespannt

Auf dem Weg nach Kenia überfliegt Baerbock Äthiopien. Beide Länder galten lange als die „Stabilitätsanker“ der Region, was sich in Äthiopien jahrzehntelang vor allem auf einen zentral kontrollierten Partei- und Sicherheitsapparat stützte. Spätestens mit dem Aufstieg Abiy Ahmeds zum Premierminister 2018 geriet dieses Konstrukt aus den Fugen. Ab Ende 2020 entwickelte sich der Tigray-Konflikt im Norden des Landes zum bisher blutigsten Krieg des 21. Jahrhunderts. Das Pretoria-Abkommen beendete zwei Jahre später zwar die Kämpfe, von einer tragfähigen Friedenslösung ist das Land aber weit entfernt. Derweil eskalierte seit 2021 der Konflikt mit der „Oromo Liberation Army“ (OLA) im Regionalstaat Oromia. Auch die Spannungen zwischen der amharischen „Fano“-Miliz – einst Regierungs-Verbündete im Tigraykrieg – und der äthiopischen Bundesregierung schlugen 2023 in schwere Kämpfe um, seit fast sechs Monaten befindet sich der Regionalstaat Amhara im Ausnahmezustand. Erhebliche Teile Äthiopiens unterstehen daher kaum noch einer zivilen Regierungsführung, die Bewegungsfreiheit ist dramatisch eingeschränkt, und die Wirtschaft liegt am Boden. Dennoch, oder vielleicht gerade weil so dringend eine „einende Idee“ gebraucht wird, sorgt die Regierung des bevölkerungsreichsten Binnenstaates der Welt seit Monaten mit robust artikulierten Forderungen nach einem eigenen Meereszugang für erhebliche Irritationen in der Region.

Respekt der territorialen Integrität Somalias

Der vorläufige Höhepunkt: Am 1. Januar unterzeichnete Äthiopien eine – nicht öffentliche – Vereinbarung mit der international nicht anerkannten Republik Somaliland, die ihm offenbar den Bau einer Marinebasis und Zugang zu kommerziellen Handelsrouten in Somaliland eröffnen würde. Im Gegenzug erhielte letzteres äquivalente Anteile an der staatlichen Fluggesellschaft Ethiopian Airlines und – laut Präsident Muse Bihi – internationale Anerkennung. In Mogadischu wurde dies umgehend als Angriff auf die Souveränität Somalias interpretiert. In seltener Einigkeit insistierten die EU, USA, China, die Türkei, die Arabische Liga und viele andere auf der territorialen Integrität Somalias. In offiziellen Verlautbarungen bemühte sich Äthiopien zwar um Schadensbegrenzung, sprach fortan lediglich von einer „vertiefte Prüfung“ des Anerkennungswunsches Somalilands. Doch es ist klar, dass ein eigener Meereszugang für den äthiopischen Premier oberste Priorität hat, und dass Somaliland diesen wohl kaum ohne eine diplomatische Anerkennung gewähren würde – zumal der Deal mit Äthiopien auch innerhalb Somalilands gehörigen Widerspruch erfährt.
Ohnehin sind die möglichen innenpolitischen Auswirkungen der Vereinbarung mit Äthiopien für Somaliland nicht zu unterschätzen: Präsident Bihis Mandat hätte regulär im November 2022 geendet, doch er regiert auf der Grundlage einer umstrittenen Entscheidung der oberen Parlamentskammer weiter. Die überfälligen Wahlen waren zuletzt für November 2024 angekündigt, doch manches deutet darauf hin, dass auch dieser Termin nicht eingehalten wird.

Der Krieg im Sudan

Besonders in Kenia und im Südsudan soll es bei der Reise der deutschen Außenministerin stark um den Krieg im Sudan gehen, der offiziell im Zentrum von Baerbocks Reise steht. In Nairobi trifft sie Vertreter*innen der zivilen sudanesischen Lager, von denen viele Zuflucht in Kenia gefunden haben. Im Südsudan steht der Besuch eines sudanesischen Flüchtlingslagers auf dem Programm. Seit die Putschistengeneräle Al Burhan und Hemeti sowie ihre Anhänger bei der sudanesischen Armee (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF) ab April 2023 begannen, mit Waffengewalt um die Macht im Sudan zu kämpfen, hat sich die Lage im Land dramatisch zugespitzt – nicht nur durch die unmittelbaren Kämpfe, sondern vor allem auch wegen derer humanitärer Konsequenzen: Sieben Millionen Binnenvertriebene, mehr als in jedem anderen Land der Welt, kollabierte soziale Dienstleistungen und Versorgungswege, kaum Zugang für Hilfsorganisationen - und eine akute Unterfinanzierung der humanitären Hilfe. NGOs sprechen vom „vergessenen Krieg“, zuletzt auch überschattet vom Gazakonflikt. Jan Egeland, früherer Unter-Generalsekretär für humanitäre Angelegenheiten der Vereinten Nationen, fand im Dezember klare Worte:

Ich habe in all meinen Jahren noch nie eine so schreckliche Megakatastrophe mit so wenig Aufmerksamkeit oder Ressourcen gesehen, um Menschen in ihrer größten Not zu erreichen.

Jenseits einer Verstärkung internationaler Hilfsleistungen ist es dringend erforderlich, den Konflikt endlich in ein breit unterstütztes, konzertiertes Verhandlungsformat zu überführen, das auch möglichst viele Unterstützer und Alliierte der Kriegsparteien einbindet. Trotz erbitterter Kämpfe ist dies zwischen dem bilateralen Duo aus USA und Saudiarabien, der Regionalorganisation IGAD, der Afrikanischen Union und den – seit Kriegsbeginn massiv gelähmten – Vereinten Nationen bisher nicht gelungen. Zuletzt schien sich eine Führungsrolle IGADs abzuzeichnen. Doch dann tourte der im Krieg zunehmend erfolgreiche Hemeti durch die Region, und in Addis, Nairobi, Kampala und Kigali wurde der rote Teppich für ihn ausgerollt - eben jenen General, dessen Truppen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur und im Jemen verantwortlich gemacht werden, und der einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker an den zivilen Protestierenden in Khartum im Juni 2019 war.

Zivilgesellschaftliche Mobilisierung ist lebensnotwendig

Als Hemeti Mitte Januar schließlich zum Sondergipfel IGADs in Uganda eingeladen wurde, beendete General Burhan die Kooperation mit IGAD. Und so ist auch nach neun Monaten des Krieges unklar, in welchem Rahmen effektiv ein friedlicher Übergang für den Sudan verhandelt werden könnte. Gelingt dies nicht, droht auch der Osten des Landes bald in den Krieg hineingezogen zu werden, entlang der Grenze zu Eritrea bis nach Port Sudan, wohin die Armeeführung unter Burhan ihren „Regierungssitz“ verlagert hat. Die zivilgesellschaftliche Mobilisierung innerhalb des Landes ist weiterhin hoch und für viele Sudanesinnen und Sudanesen überlebenswichtig. Die politisch organisierten zivilen Lager haben – angesichts von Krieg und Flucht unter größten Schwierigkeiten – begonnen, sich vor allem im Ausland neu zu aufzustellen. Auch wenn es weiterhin ein breites Spektrum unterschiedlicher Strömungen gibt, kristallisieren sich dabei allmählich Strukturen heraus, die als Ansprechpartner zur Verfügung stünden.

Horn von Afrika - Umbrüche einer neuen Dimension

Dramatische Krisen kennzeichnen die Region am Horn von Afrika – mit all ihren katastrophalen Auswirkungen für ziviles Leben – seit Jahrzehnten. Und schon der Aufstieg von Premierminister Abiy Ahmed in Äthiopien 2018 und der Fall des Bashir-Regimes im Sudan 2019 markierten tiefgreifende Veränderungen. In der aktuellen Entwicklung stechen jedoch eine Reihe von Faktoren heraus, die Umbrüche einer neuen Dimension kennzeichnen könnten:

Erstens bewegen sich die fundamentalen Konflikte um das Wesen und die Verfasstheit des Staates auf mögliche Scheitelpunkte zu:
A) Die Frage der staatlichen Einheit Somalias könnte nach der äthiopischen Vereinbarung mit Somaliland nicht nur de facto sondern auch de jure zur Disposition stehen.
B) Der Sudan verfügt seit dem Putsch vor gut zwei Jahren effektiv über keine Regierung mehr, lokale und regionale Verwaltungsstrukturen haben sich im Zuge des Krieges vielfach aufgelöst. Ob das Land dauerhaft in verschiedene Lager gespalten bleibt oder am Ende eine Partei obsiegt – das Staatswesen als solches ist bereits weitgehend zum Erliegen gekommen.
C) Auch in Äthiopien sind lokale staatliche Strukturen vielerorts zum Erliegen gekommen. Dies betrifft besonders die zwei Großregionen Amhara und Oromia, in denen die Hälfte der äthiopischen Bevölkerung lebt – mit bis dato ungekannten Folgen für die öffentliche Sicherheit.

Immer offener sprechen Beobachter*innen – zuletzt der ehemalige US-Sondergesandte Jeff Feltman, aber im Vertrauen auch viele äthiopische Intellektuelle – inzwischen auch über einen möglichen Zerfall Äthiopiens. Ganz besonders eine weitere Schwächung staatlicher Strukturen in Äthiopien könnte die Krisen am Horn von Afrika exponentiell verschärfen, im Innern wie auch für die Nachbarländer.

Zweitens würde eine Anerkennung Somalilands unter den aktuellen Rahmenbedingungen einen fundamentalen Tabubruch in der äthiopischen Außenpolitik markieren – nicht nur gegenüber Somalia, sondern auch mit Blick auf die in der Charter der Afrikanischen Union (AU) festgelegte Beibehaltung der kolonialen Grenzziehung. Freilich wäre dies nicht die erste Anerkennung eines neuen Staates in der Region, doch der Unabhängigkeit des Südsudan ging das Comprehensive Peace Agreement, eine sechsjährige Übergangsphase, und ein international überwachtes Referendum voraus. Auch die Anerkennung Eritreas folgte auf einen einvernehmlichen Prozess. Eine Anerkennung Somalilands ohne vorausgegangene Einbettung in einen politischen Aushandlungsprozess würde ohne Zweifel neue Konflikte in der Region schüren, auch wenn ein direkter Waffengang zwischen Äthiopien und Somalia unwahrscheinlich gilt. Besonders Al Shabaab würde wohl davon profitieren, und die wechselseitige Unterstützung von Rebellengruppen wäre geradezu absehbar. Darüber hinaus drohten durch eine Erosion der AU-Prinzipien gravierende Konsequenzen für andere Grenz- und Autonomiekonflikte in der gesamten Region.

Drittens entfaltet sich in der – auch ökonomisch – enorm gestiegenen Fragilität der Staaten am Horn sichtbarer denn je der wachsende Einfluss rivalisierender externer Akteure, insbesondere aus der Golfregion, und allen voran der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Aktuell scheinen sich zunehmend zwei regionale Lager herauszubilden: Die VAE haben Äthiopien Berichten zufolge während des Tigray-Krieges intensiv unterstützt und sind weiterhin ein enger Verbündeter der Regierung. Auch die Lieferung von Waffen und Munition an die RSF im Sudan gilt als gesichert, und der warme Empfang Hemetis in der Region wird von vielen Beobachter*innen auch auf den Einfluss der VAE zurückgeführt. Die Emirate haben zugleich hunderte Millionen US-Dollar in den Hafen von Berbera investiert, der auf den Handel mit dem äthiopischen Hinterland ausgerichtet ist und Somaliland einbindet. Trotz seiner regionalen Rivalität mit Äthiopien wird auch Kenia eine Nähe zu Hemeti nachgesagt, weshalb Burhan das Land mehrfach als Vermittler ablehnte.

Im anderen Lager sammeln sich die sudanesische Armeeführung um General Burhan (also der Gegner Hemetis); Ägypten, das den Sudan als eine Art Hinterhof betrachtet, das Militär als „Erben“ des ehemaligen Regimes unterstützt, und den äthiopischen Nil-Staudamm als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit betrachtet. Des weiteren Eritrea, sowohl in frischer Opposition zur Regierung Abiy in Äthiopien, als auch als Unterstützer eines geeinten Somalia; und natürlich Somalia selbst. Diese sicher noch unvollendete und oft auch widersprüchliche, aber zunehmende Blockbildung eskaliert die Lage in der Region weiter. Konfliktparteien erhalten Zugang zu umfangreicher externer Unterstützung. Autokratische Tendenzen werden weiter dadurch bestärkt, dass Rechenschaftspflichten im Innern durch Loyalität gegenüber externen Interessen ersetzt werden. Und die Herausbildung breiterer Allianzen birgt das Risiko, dass Konfliktfelder miteinander verknüpft werden und daher breiter, gegebenenfalls auch grenzüberschreitend eskalieren. Dies könnte sich noch weiter verschärfen, wenn die Region stärker in den Sog der Geopolitik gerät, so wie sich dies am Roten Meer bereits abzeichnet.