Der 7. Oktober und der Weltfrieden

Kommentar

Der Angriff der Hamas auf Israel hat viele Illusionen über den israelisch-palästinensischen Konflikt abrupt beendet. Allen voran: Dass es ohne einen palästinensischen Staat Frieden im Nahen Osten geben könnte. Was es für den Traum vom Frieden braucht – und warum er ein ein realpolitisches Muss ist.

Die Silhouette des Panzers bei Sonnenuntergang.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Welt, gleich ob handelnde Akteure oder nur Zuschauer, eines Besseren belehrt worden. In den frühen Morgenstunden griffen Terroristen der Hamas Israel an, überwanden ohne größere Probleme und ohne auf organisierten Widerstand zu treffen dessen High-Tech-Grenzschutzbarrieren und töteten über 1200 Israelis, die meisten davon Zivilisten, auf barbarische Weise und verschleppten über 200 Personen als Geiseln nach Gaza. Israel und die Welt waren geschockt. Wie konnte das passieren?

Die stärkste Armee im Nahen Osten, gemeinsam mit den besten Geheimdiensten, die scheinbar alle terroristischen Aktivitäten diesseits und jenseits der israelischen Grenzen kontrollierten, waren von einer palästinensischen Terrorgruppe aus einem streng isolierten und überwachten Gaza heraus überrascht worden.

Der 7. Oktober hat viele Illusionen über den seit Jahrzehnten anhaltenden israelisch-palästinensischen Konflikt im Nahen Osten abrupt beendet: die Illusion, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern sei nicht lösbar, sondern könne maximal nur gemanagt werden; die Illusion, Israel könne mit den arabischen Staaten Frieden schließen und diplomatische Beziehungen aufnehmen ohne eine Lösung oder auch nur Beachtung der Palästinafrage; und schließlich die Illusion, es könne Frieden geben im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser, ohne einen palästinensischen Staat.

Als nach dem britischen Mandatsende für Palästina die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahre 1947 in der Resolution 181 die Teilung des von beiden Seiten beanspruchten Territoriums beschloss, begann der Krieg, der de facto bis heute anhält. Die denkbaren Alternativen haben sich bis heute kaum verändert. Entweder siegt eine der beiden Seiten und erobert das ganze Land zwischen Jordangraben und Mittelmeer, was de facto auf die Vertreibung der unterlegenen Seite hinausliefe, aber was die internationale Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert nicht mehr zulassen wird. Oder beide Seiten akzeptieren einen Kompromiss, der zwei Staaten, friedlich Seite an Seite lebend und wirtschaftlich eng verbunden, hieße.

Diese Zwei-Staaten-Lösung ist nach dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel und dem dadurch ausgelösten Krieg in Gaza verstärkt wieder aus dem Vergessen in der Diskussion um eine Lösung dieses Dauerkonflikts aufgetaucht. Allerdings bleibt dabei die Frage, ist dieses aktualisierte Interesse eher Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts des nicht überwindbaren Dilemmas in Nahost oder tatsächlich die einzige, äußerst schwierig zu realisierende Perspektive für einen Frieden in Nahost.

Die Zwei-Staaten-Lösung hatte ihren kurzen historischen Moment, in dem sie hätte funktionieren können, unmittelbar nach Oslo. Dieser Moment endete mit der Ermordung von Itzhak Rabin. Was danach kam, war der Versuch, Oslo zu retten, was misslang. Von Oslo ist heute nur noch ein Schatten übrig. Verstärkt wurde dieser Niedergang durch den historischen Fehler Arafats, in dem er glaubte, Israel mit einer Terrorkampagne, der bewaffneten Intifada, in die Knie zwingen zu können.

Seitdem ist Oslo nur noch die Erinnerung daran, wie es hätte gehen können mit einer Friedenslösung im Nahen Osten. Diese ist heute weiter entfernt denn je, denn beide Seiten haben sich unter dem Eindruck von Terror und Besatzung immer weiter in Richtung Gewalt und Konfrontation bewegt, bis hin zu dem furchtbaren Gemetzel an israelischen Zivilisten am 7. Oktober.

Wie soll eine Zwei-Staaten-Lösung denn tatsächlich funktionieren? Beide Seiten werden die jeweils andere mit ihren legitimen Ansprüchen ernsthaft akzeptieren müssen: Israel kann bei seiner Sicherheit keinen Kompromiss eingehen; die Palästinenser werden niemals auf einen unabhängigen Staat in sicheren Grenzen verzichten und eine schleichende Landnahme im Westjordanland durch israelische Siedler hinnehmen.

Nach dem Ende des Kriegs in Gaza werden neue Parameter eines wiederzubelebenden Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinensern entwickelt und eine dringend nötige Reform der palästinensischen Verwaltung angegangen werden müssen. Ähnliches gilt für Israel, denn mit der heutigen israelischen Regierung ist jeder Versuch eines Neustarts des Friedensprozesses illusorisch.

Ein solcher Prozess, der schwierig genug sein dürfte, wird militärisch, politisch und finanziell der massiven Hilfe durch eine dritte Partei bedürfen. Der Westen (die USA und die EU) werden diese Aufgabe nicht mehr allein schultern können, denn dazu haben sich die Welt und die Region zu sehr verändert. China wird dazu gehören müssen. Denn nur in dieser Konstellation wird sich die auf Terror beruhende radikale „Ablehnungsfront“, angeführt vom Iran mit seinem die gesamte Region umfassenden Terrornetzwerk, neutralisieren und so die Region befrieden lassen.

Neue Ideen, neues Personal, ein fester Willen auf beiden Seiten zum friedlichen Ausgleich und eine neue „dritte Partei,“ die den machtpolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts entspricht, all dies und vermutlich noch einiges mehr wird nötig sein, wenn der Traum vom Frieden in Nahost nach dem Gaza-Krieg eine neue Chance haben soll.

Der 7. Oktober hat aber auch gezeigt, wie gefährlich der Status quo im Nahen Osten für die gesamte Welt ist. Jederzeit droht eine Ausdehnung des Konflikts mit schrecklichen Folgen für die Welt. Frieden zwischen Israel und den Palästinensern ist deshalb kein bloßer Traum, sondern vielmehr unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung des Weltfriedens im 21. Jahrhundert ein realpolitisches Muss.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 5. Dezember 2023 auf Project Syndicate. Wir zweitveröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung.