Wahlen in der Slowakei: "Fico ist gefährlich, aber er kennt die Kraft des gesellschaftlichen Protests"

Interview

Mit der Rückkehr des ehemaligen Premierministers Fico könnten alte autoritäre Muster bei den kommenden Wahlen wiederaufleben. Allerdings haben auch die Progressiven eine Chance, die Parlamentswahl zu gewinnen - in einer Gesellschaft mit einer starken pro-europäischen und pro-westlichen Perspektive.

Zu sehen ist ein großes Wahlplakat, auf dem der ehemalige Premierminister Rober Fico abgebildet ist (mittelalt, Seitenscheitel, im Hemd und Jackett, ohne Krawatte)

In diesem Interview befassen wir uns mit der aktuellen Lage in der Slowakei mit Hinblick auf die für den 30. September angesetzten Parlamentswahlen. Wir wollen die Auswirkungen der aktuellen politischen Entwicklungen in Richtung Autoritarismus auf das Land und die Europäische Union untersuchen. Darüber hinaus werden wir erörtern, wie die europäische politische Landschaft die Wahlen in der Slowakei beeinflussen kann und wie die EU von den Ergebnissen dieser Wahl betroffen ist.

Jan Philipp Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll Stiftung, unterhält sich mit Adéla Jurečková, Leiterin des Böll-Büros in Prag mit Zuständigkeit auch für die Slowakei, und Zuzana Kepplová, einer slowakischen Journalistin von SME.

Jan Philipp Albrecht: Wie blickt ihr auf die bevorstehenden Wahlen? Was wird das Ergebnis für die europäische politische Szene bedeuten?

Zuzana Kepplová: Betrachtet man die Umfragen, so ist Robert Fico auf dem besten Weg, die Slowakei in ein zweites Ungarn zu verwandeln. Diese Vermutung wurde in führenden internationalen Zeitungen wie The Guardian und The New York Times geäußert. Glaubt man diesen, so wird Fico die nationale Politik an die des Kremls anpassen. Ich glaube jedoch, dass die Rolle der russischen Propaganda überschätzt und der Einfluss der drei Regierungen seit 2020 heruntergespielt wird. Ich plädiere dafür, diese russlandzentrierte Sichtweise zu überdenken und an die Präsidentschaft von Igor Matovič ab 2020 anzuknüpfen. Meiner Ansicht nach ist das, was wir heute erleben, eine Reaktion auf die Instabilität und das Chaos in der Politik während der Matovič-Zeit.

Wir müssen uns in der Analyse auf die innenpolitische Situation konzentrieren und nicht auf den Krieg, der in unserem Nachbarland tobt. Das Chaos, das in dieser Zeit entstanden ist, könnte die Ursache für die derzeitige Re-Politisierung der Öffentlichkeit sein. Parteien, die früher für sich warben, indem sie betonten, „unpolitisch“ zu sein, versuchen nun ,ihr Image zu ändern und politischer zu werden. Die deutet auf eine Verschiebung in der Innenpolitik in den letzten Jahren hin, die eine größere Verantwortlichkeit verlangt. Ich bin auch nicht ganz davon überzeugt, dass Fico diese Wahl gewinnen wird. Die Progressiven haben ebenfalls eine Chance zu gewinnen und selbst wenn sie eine Koalition bilden, könnten die Progressiven die Slowakei verändern.

Jan Philipp Albrecht: Wie seht ihr das Wiederaufleben von rechtsextremen und Anti-LGBTIQ-Narrativen in Europa in Bezug auf die Slowakei? Steht die Slowakei in diesen Fragen auf einer Linie mit anderen EU-Mitgliedsstaaten? Wie kann die aktuelle Situation in der Slowakei aus einer breiteren politischen Perspektive betrachtet werden?

Zuzana Kepplová: Nach der Spaltung der Smer-Partei, die die Slowakei etwa 12 Jahre lang regierte und nach drei Jahren in der Opposition in den Umfragen führt, gibt es nun eine gemäßigtere Partei mit Verbindungen zu den Europäischen Sozialdemokraten (Hlasm Anm. d. Red.) und die alte Smer-Partei, die versucht, sich als Mitglied einer illiberalen internationalen Allianz zu begreifen, mit Verbindungen zu Ministerpräsident Orbán in Ungarn, Dodik in Bosnien und Herzegowina oder durch Anspielungen auf Donald Trump. Diese radikalere Fraktion der Smer übernimmt die politischen Narrative der globalen Alt-Right und könnte möglicherweise die künftige Außenpolitik der Slowakei beeinflussen. Sollte mit Hnutie Republika eine neo-faschistische Partei Teil der Regierung werden, könnten wir uns in einer ähnlichen Situation wie Finnland wiederfinden, wo eine rechtsextreme Partei Mitglied der Regierungskoalition ist. Oder wie in Schweden, wo die faschistische Partei die Regierung aus dem Parlament heraus unterstützt.

Jan Philipp Albrecht: Nichtregierungsorganisationen und LGBTIQ-Rechte werden in der aktuellen politischen Landschaft zunehmend ins Visier genommen. Gibt es einen organisierten Wiederstand dagegen und kann die Zivilgesellschaft eine Rolle bei der Gestaltung der slowakischen Zukunft spielen, unabhängig vom Ausgang der Wahlen?

Adéla Jurečková: Fico mag zwar eine populistische Rhetorik an den Tag legen, aber in der Vergangenheit hat er meist als pragmatischer Politiker gehandelt. Jetzt ist er jedoch zu weit gegangen in seinem Versuch, Minderheiten, NGOs und alle fortschrittlichen Kräfte als Sündenböcke zu missbrauchen. Wenn er also die Wahl gewinnt und eine Regierung mit einigen rechtsextremen Parteien bildet, wird er einige Versprechen aus seinem Wahlkampf einlösen müssen. Das wäre eine beunruhigende Situation. Aber diese Entscheidung steht noch aus. Die Slowakei hatte in den letzten Jahren immer auch eine starke pro-europäische und pro-westliche Perspektive. Die Partei Progressive Slowakei vertritt diese Perspektive; ihr Vorsitzender Michal Šimečka ist Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Letztendlich wird die Partei jedoch eine Koalition bilden müssen – vielleicht sogar mit Partnern, die in vielen Fragen sehr unterschiedliche Ansichten vertreten…

Jan Philipp Albrecht: Die Slowakei war in der Vergangenheit ein verantwortungsvolles Mitglied in der EU. Waren angesichts der bevorstehenden Europawahlen Veränderungen im Verhalten der Slowakei gegenüber der Europäischen Union zu beobachten?

Adéla Jurečková: Die Slowakei hat eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der Ukraine gespielt und war ein konstruktiver Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Ein Blick auf die Meinungsforschung zeigt jedoch, dass nur 40 Prozent der Slowak*innen Russland für den anhaltenden Krieg gegen die Ukraine verantwortlich machen. Der Rest sucht die Verantwortung beim Westen oder der Ukraine selbst. Heute ist die Gesellschaft in Bezug auf diesen Krieg gespalten, und das zeigt sich auch im Wahlkampf. Nicht nur der Krieg, sondern auch COVID, die Inflation und die steigenden Energiepreise haben erhebliche Auswirkungen auf die Slowakei – ein Land, das stark von russischen fossilen Brennstoffen abhängig ist. Für die Bevölkerung ist es nicht mehr so wichtig wie früher, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, da sie nun die Krise der steigenden Lebenshaltungskosten als das dringendste Problem ansieht, das es zu lösen gilt.

Jan Philipp Albrecht: Die historisch großen Parteien haben ihre Wählerschaft verloren, und gleichzeitig stehen zahlreiche kleine Parteien vor dem Einzug ins Parlament. Ist politische Stabilität innerhalb des extrem fragmentierten parlamentarischen Systems dennoch möglich?

Zuzana Kepplová: Es ist nicht ungewöhnlich, dass es in der Slowakei eine große Auswahl an Parteien gibt. Die beiden Parteien, die sich in den Umfragen als Hauptkonkurrenten herauskristallisiert haben, sind jedoch die Smer SD und die Progressiven. Die kommende Koalition wird auf jeden Fall interessant sein, da sie von den anderen Parteien abhängen wird, die ins Parlament einziehen. Es gibt etwa sechs Parteien, die sich auf der Schwelle zum Einzug ins Parlament bewegen.

Ich möchte mich außerdem zu Herrn Ficos Doktrin „keine einzige Kugel“ mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine äußern, die in der ausländischen Presse auf breite Resonanz gestoßen ist. Ich finde das etwas heikel, denn die Slowakei hat ihre Vorräte bereits aufgebraucht. Alles wurde bereits in die Ukraine geschickt, einschließlich alter sowjetischer Munition, Waffen und schwerer Maschinerie. Das ist also bereits geschehen. Herr Fico verspricht nun, dass er nicht mehr schicken wird, aber das ist ein leeres Versprechen, muss ich sagen. Ich glaube, er wird sich wahrscheinlich an die Handelsverträge halten. Das ist meine Vermutung, wenn man bedenkt, dass die Slowakei in die Waffenproduktion involviert ist. Ich glaube also nicht, dass sich Herr Fico als Pragmatiker diese Gelegenheit entgehen lassen wird. Er hat auch den Wunsch geäußert, sich am Wiederaufbau der Ukraine zu beteiligen. Wenn die ukrainische Seite bereit ist, Herrn Fico und sein Team einzubeziehen, wird er mit Sicherheit daran interessiert sein, eine Rolle zu spielen. Ich glaube also nicht, dass es einen vollständigen Ausgabenstopp an der Schengen-Grenze zwischen der Slowakei und der Ukraine geben wird.

Die Slowakei wird zweifellos ihre Humanitäre Hilfe fortsetzen, und es gibt bereits eine große ukrainische Diaspora, die in der Slowakei lebt und die slowakische Gesellschaft mitgestaltet. Es gibt ukrainische Schüler*innen in Schulen, ukrainische Stimmen in Debatten und sogar ukrainische Nachrichten. Die Situation ändert sich schnell, denn in der Vergangenheit war in der Slowakei nie eine ukrainische Perspektive vertreten. Unsere Politiker waren nicht motiviert, sie zu vertreten und als Mitglied der Visegrád-Gruppe (V4) unterhielt die Slowakei traditionell lebhafte nachbarschaftliche Beziehungen zur Tscheschichen Republik und zu Ungarn, aber relative wenig zu Polen. Die Beziehungen zur Ukraine waren so gut wie nicht existent.

Dies mag erklären, warum die Slowak*innen manchmal als pro-russisch angesehen werden. Der Einfluss des Kremls ist in dieser Region seit der sozialistischen Ära ungebrochen und pro-russische Gefühle spielten in der slowakischen Nationalbildung im 19. Jahrhundert eine Rolle. Daher geht es in dem Konflikt nicht nur um die Verringerung der Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen, sondern auch um die Neubewertung wichtiger Narrative und Identitätsfragen. Es liegt noch viel politische, akademische und aktivistische Arbeit vor uns, und diese Herausforderungen werden nicht mit den kommenden Wahlen gelöst werden.

Wie ich oft sage, neigt die russische Propaganda dazu, zu gedeihen, wenn es Stereotype, einen Mangel an Informationen und bereits bestehende Missstände gibt, die sie ausnutzen und verstärken kann. Aber die Anwesenheit von Ukrainern auf unserem Territorium verändert die Wahrnehmung unserer Nachbarn erheblich.

Fico lernte, dass es rote Linien gibt, die nicht überschritten werden dürfen

Jan Philipp Albrecht: Wie seht ihr die Zukunft der Slowakei in der EU? Wird sich das Land mit reaktionären Bewegungen verbünden oder ein verlässlicher Mitgliedstaat bleiben?

Adéla Jurečková: Es liegt nicht in Robert Ficos Interesse, die EU zu stark zu untergraben. Unabhängig vom Wahlausgang gibt es immer noch unabhängige Gerichte und eine freie Presse, die nicht so schnell aufgeben werden. Ein beträchtlicher Teil der slowakischen Gesellschaft will, dass das Land gedeiht und zu einer modernen, demokratischen europäischen Nation wird. Fico hat bereits erlebt, wie die Menschen Stellung bezogen haben und die Kraft des Protests gegen ihn gespürt: Nach dem Auftragsmord an dem Enthüllungsjournalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten wurde die Korruption unter seiner Regierung aufgedeckt, und Tausende Menschen gingen auf die Straße und zwangen ihn zum Rücktritt. So lernte Fico, dass es rote Linien gibt, die nicht überschritten werden dürfen.

Zuzana Kepplová: Meiner Meinung nach ist die „Orbánisierung“ ein großes Problem. Diese Entwicklung wird jedoch auf erheblichen Wiederstand stoßen und nicht über Nacht geschehen. Wir haben über die lebendige und kritische Zivilgesellschaft gesprochen und dieser Geist ist ungebrochen. Je nach Wahlausgang könnten sich einige Personen dazu entschließen, in andere europäische Länder auszuwandern, während andere vor Ort mobilisieren werden.