Wärmespeicher: Das erste Stück der Zukunft ist aus Stahl und Wasser

Best Practice

Die Universitäts- und Hansestadt Rostock will bis 2045 klimaneutral sein. Die Fernwärme der örtlichen Stadtwerke Rostock AG soll sogar schon bis 2035 CO2-frei erzeugt werden. Dabei ziehen Politik und Stadtwerke an einem Strang, das gemeinsame Nachhaltigkeitsengagement wurde längst ins Stadtmarketing eingebaut. Damit generiert Rostock Erfahrungen und Erkenntnisse, die insbesondere größere Städte für die Transformation ihrer eigenen Fernwärmenetze nutzen können.

Gigantischer blau-weiß karrierter Turm mikt Metalltreppe an der rechten Seite
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Der Wärmespeicher in Rostock funktioniert wie eine überdimensionierte Thermosflasche.

Ein Stück die Unterwarnow hinauf Richtung Warnemünde, vorbei an Fußballstadion und Fischmarkt, ragt die Zukunft 55 Meter in den Himmel. Kreisrund und kariert ist diese Zukunft, in Weiß und Blau-Tönen gehalten, ihre Hülle besteht aus Stahl. In ihrem Inneren: 45 Millionen Liter fast kochend heißes Wasser. Dieses so schlichte wie eindrucksvolle Bauwerk ist der erste sichtbare Schritt, den die Stadtwerke Rostock AG in Richtung der klimaneutralen Wärmeversorgung ihrer Stadt unternommen haben. Denn Rostock hat sich viel vorgenommen: Bis 2035 will die Stadt ihr Fernwärmenetz, das schon jetzt eines der größten der Bundesrepublik ist, CO2-frei beliefern. 2045 soll dann die gesamte von der Stadt benötigte Energie zu 100 Prozent grün sein.

Die Stadt hat im Juni 2022 einen Wärmeplan verabschiedet, der für die Wärmeversorgung der Stadt ein klimaneutrales Zielszenario für 2035 entwirft. Laut Beschluss der Rostocker Bürgerschaft soll die Stadt innerhalb der nächsten 13 Jahre die Wärmewende vollziehen, um das 1,5°C-Ziel zur Sicherung des Weltklimas zu erreichen. Der Wärmeplan beruht auf ausdifferenzierten Fachgutachten. Wärmebedarfe und Gebäudeenergieeffizienz wurden analysiert, die lokalen und regionalen Erzeugungspotenziale für Wärme ausgelotet: saisonale Großwärmespeicher, Biomasse, Solar-Freiflächenanlagen, Großwärmepumpen, Abwärme und Tiefengeothermie. 

Rostock hat diesen Plan nicht beschlossen, weil es in Mecklenburg-Vorpommern eine Verpflichtung zu einer kommunalen Wärmeplanung gibtwie in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg für die größeren Städte und Gemeinden , sondern aus überzeugter Eigeninitiative. Die Stadt hat sich schon früh für nachhaltige Stadtentwicklung engagiert: Bereits 1999 konstituierte sich ein „Agenda21-Beirat“, 2008 wurde der Arbeitskreis Energiewende gegründet. Seit 2011 betrachtet das Netzwerk „Energiebündnis Rostock e.V.“ die Energiewende als Querschnittsaufgabe, die alle beteiligten Akteur*innen in den Prozess einbindet und in intensivem Austausch hält.

Rostock zur klimaneutralen „Smart City“ zu entwickeln war dann auch explizit Programm von Claus Ruhe Madsen, von 2019 bis 2022 Oberbürgermeister der Stadt. In seiner Zeit wurden Straßenlaternen auf LED umgerüstet, Firmenfahrräder angeschafft, Photovoltaik-Panels auf Dächern installiert, Plastikabfälle reduziert und die bereits in den 1990er und 2000er Jahren durchgeführten großflächigen Gebäudesanierungen fortgesetzt. Vor allem aber wurde die Stadt auf regenerative Energieerzeugung eingeschworen.

Mit Thermosflasche und Tauchsieder überschüssigen Strom als Wärme speichern

Seit Juni 2022 ist Madsen nun Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein. Sein Erbe als Oberbürgermeisterin in Rostock hat im Februar 2023 Eva-Maria Kröger angetreten. Auch sie sagt: „Als Smart City wollen wir unsere Stadt lebenswerter machen. Dabei hat die Technik dem Menschen zu dienen und nicht andersherum.“ Diese Technik ist fürs Erste der beeindruckende Wärmespeicher auf dem Betriebsgelände der Stadtwerke im Stadtteil Marienehe, wo bislang allein ein gigantisches, mit Gasturbinen betriebenes Kraftwerk steht, das Strom und Wärme in Kraft-Wärme-Kopplung erzeugt. Seit Jahresbeginn 2023 ist der Speicher nun nach zweijähriger Bauzeit und neunmonatigem Testlauf in Betrieb. Er funktioniert wie eine überdimensionierte Thermosflasche: Bis zu 98° heißes Wasser wird in ihm vorgehalten, was einer Kapazität von 2 Millionen kWh entspricht und die Rostocker Fernwärmekund*innen bis zu einem Wochenende lang mit warmem Wasser für Heizung und Dusche versorgen kann.

Dicker Blau-weiß karierter Turm neben einem einem weißem Technik-Gebäude mit blauen Türen und Treppen
Die Power-to-Heat-Anlage erwärmt mit überschüssigem Strom das Wasser im Wärmespeicher.

Der Clou: Das gespeicherte Wasser kann ab dem Spätsommer 2023 mit überschüssiger Energie aus Wind- und Solaranlagen erhitzt werden. Direkt neben dem Speicher ist eine Power-to-Heat-Anlage entstanden, die nach dem Tauchsieder-Prinzip mit klimaneutral produziertem Strom, der akut nicht ins Netz eingespeist werden kann, das Wasser im Tank erwärmt. Schließlich produziert Mecklenburg-Vorpommern schon seit 2014 mehr Strom aus erneuerbaren Energien als es verbraucht. Und nicht immer kann das Netz den überschüssigen Strom in andere Bundesländer weitertransportieren. Diesen Strom zu nutzen, um saisonal anfallende Wärmeenergie zu speichern und bedarfsgerecht ins Fernwärmenetz abzugeben, ist ein zentrales Puzzleteil für die zukünftige Wärmeversorgung der Stadt.

Bürger*innen und Unternehmen in eine aktive umwelt- und klimapolitische Rolle bringen

Oliver Brünnich, Vorstandsvorsitzender der Stadtwerke Rostock AG, sagt: „Die Wärmewende ist für uns ein wichtiger Hebel auf dem Weg zur Klimaneutralität und Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern, auch von russischem Erdgas. Wärme soll zukünftig aus lokalen und regionalen Energiepotenzialen gewonnen werden.“ Dass die Stadtwerke neben der Stadt der „wichtigste Treiber der Energiewende in der Region sind“, so Brünnich, gehört mittlerweile zur deutschlandweit wahrgenommenen Corporate Identity des Unternehmens. Eine stark auf Transparenz, Optimismus und Verständlichkeit setzende Website nimmt die Bürger*innen mit in den anstehenden Transformationsprozess. Kaum eine Fachkonferenz zum Thema geht mehr ohne Vertreter*innen der Stadtwerke oder des Rostocker Amts für Umwelt- und Klimaschutz. Wenig überraschend wurde die Ostseestadt 2020 neben 73 weiteren Kommunen vom Bund als Modellstadt Smart City ausgewählt und erhielt vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauen eine Förderzusage in Höhe von 12 Millionen Euro, gestreckt auf sieben Jahre.

Ihre Vorreiterrolle haben sich die Stadtwerke durch ihr Nachhaltigkeitsengagement in den letzten gut zehn Jahren tapfer erkämpft: 2009-2013 haben sie eine Konzeptstudie zur Zukunft der Strom- und Wärmeproduktion erstellt, 2012 die ersten Ladesäulen für E-Autos in der Hansestadt eingeweiht, 2017 die mit 8.000 Quadratmetern drittgrößte Photovoltaik-Anlage der Hansestadt in Betrieb genommen, die mit einer jährlichen Leistung von 740 MW 230 Durchschnittshaushalte mit Strom versorgt. 2019 dann haben sie das „Energieeffizienz-Netzwerk Ostseeküste 2.0“ aus der Taufe gehoben, das Unternehmen aus der Region – von Ikea und Liebherr über die Hafen-Gesellschaft und den Abfallentsorger bis hin zur Ostsee-Zeitung – in einen konstruktiven Austausch darüber bringt, wo sich Energie einsparen lässt und wie auch Unternehmen eine aktive Rolle in der Umwelt- und Klimapolitik spielen können.

Anschlusspflicht ans Fernwärmenetz bringt Planbarkeit für die Stadtwerke

Bei ihren Plänen für eine treibhausgasneutrale Zukunft setzen Stadt und Stadtwerke auf das, was schon da ist: das städtische Fernwärmenetz. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde es massiv ausgebaut.

Zwei Drittel (66 Prozent) aller Rostocker Haushalte sind heute an dieses Netz angeschlossen, 44 Prozent des Gesamtwärmebedarfs, inklusive Industrie und öffentlicher Einrichtungen, deckt die Stadt mit Fernwärme. Das städtische Netz hat eine ansehnliche Länge von 413 Kilometern und eine Leistung von 568 MW Wärme. Noch allerdings wird die Wärme hauptsächlich fossil erzeugt: Knapp 70 Prozent werden aktuell mit Erdgas gewonnen, der Rest kommt als Abwärme aus einem Kraftwerk im Überseehafen, das Steinkohle verstromt.

Die regenerative Weiterentwicklung des Fernwärmenetzes ist für die Stadtwerke vor allem wegen der hiesigen Fernwärmesatzung naheliegend und wirtschaftlich planbar. Seit 2017 nämlich schreibt diese Satzung vor, das Versorgungsnetz als „gemeinwohlorientierte Infrastruktur“ auszubauen und den Anschlussgrad zu erhöhen – vor allem, um den Stadtwerken konkurrenzfähige Preise zu ermöglichen. So bezahlen die Besitzer*innen eines Mehrfamilienhauses mit 160 kW Anschlussleistung und einem Verbrauch von 288.000 kWh/Jahr einen Mischpreis – Arbeits-, Grund- und Messpreis – von lediglich 11,5 Cent pro KWh. Übernehmen die Stadtwerke zusätzlich den Stationsbetrieb, erhöht sich der Mischpreis auf 13,3,Cent/KWh.

Eigentümer von bebauten oder bebaubaren Grundstücken im Satzungsgebiet sind laut der Satzung verpflichtet, sich unverzüglich ans Fernwärmenetz anzuschließen. Da, wo die Erschließung erst vorgesehen ist, müssen Neu- oder Umbauprojekte die Voraussetzungen für den Anschluss schaffen. Eine Befreiung von der Anschlusspflicht bekommen Heizungen nur dann, wenn sie mit Erneuerbaren arbeiten und außerdem nachweisen können, dass ihre CO2-Emissionen den zertifizierten CO2-Faktor der Fernwärme nicht übersteigen. Was im Umkehrschluss die Stadtwerke motiviert, diesen Faktor niedrig zu halten bzw. zu senken.

Die weitere Zukunft: Großwärmepumpen sowie Abwärme aus Elektrolyse und Klärwerk

Wie die Wärmegewinnung weiter dekarbonisiert werden kann, ist den Stadtwerken im Umriss klar: Eine Großwärmepumpe in der Warnow oder sogar in der Ostsee steht als Option im Raum. Auch über Abwärmenutzung bei der Müllverbrennung oder bei der Produktion synthetischer Treibstoffe und Düngemittel sowie der Wasserstoff-Produktion wird nachgedacht. Die im Juli 2022 neu gegründete Rostock EnergyPort Cooperation Gmbh will auf dem Gelände des perspektivisch abgeschalteten Steinkohlekraftwerks am Seehafen bis Ende 2026 einen mit Wind- und Solarenergie betriebenen 100-MW-Elektrolyseur zur Produktion von grünem Wasserstoff errichten. Die Stadtwerke wollen die Abwärme für ihr Fernwärmenetz nutzen. Des Weiteren wird geprüft, ob Abwärme aus der Verbrennung von Klärschlamm einzubinden ist.

Roland Schulz mit Helm, im Hintergrund der riesige Wärmespeicher
Roland Schulz leitet bei den Stadtwerken den Bereich Energiesysteme.

Roland Schulz, der bei den Stadtwerken den Bereich ‚Energiesysteme‘ leitet, konkretisiert: „Zusammen mit dem örtlichen Wasserversorger treiben wir intensiv die Abwärmenutzung aus dem Klärwerk voran. Eine Großwärmepumpe im Abwasser kann eine thermische Leistung von ca. 17 MW erbringen. Wir sind hier in der Vorplanungsphase.“

Schulz zeigt sich überzeugt: Der Schlüssel für die Wärmewende ist, einerseits unterschiedliche Erzeugungsanlagen und noch zu errichtende saisonale Wärmespeicher zu kombinieren – und andererseits den Fernwärmenetzausbau massiv voranzutreiben. Begleitend müssen die mittel- und langfristig entscheidenden wirtschaftlichen Vorteile einer auf Klimaneutralität setzenden Wärmewende für die Verbraucher*innen herausgestellt werden.

„Wir sind in Rostock deswegen schon so weit“, meint Schulz, „weil wir nicht erst jetzt anfangen, sondern schon seit mehreren Jahren Ideen für die Zukunft der Wärmeversorgung entwickeln. Mit neuen dezentralen Erzeugungsanlagen schaffen wir außerdem eine Wertschöpfung vor Ort, anstatt fossile Energieträger zu importieren“.