Das Muster-Redaktionsstatut: Standard für Beteiligung von Redakteur*innen

Interview

Die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten sollten sich auf ein Mindestmaß an Mitwirkungsmöglichkeiten der Redakteure und Redakteurinnen festlegen. Hubert Krech, Mitarbeiter beim ZDF, erklärt im Gespräch mit Vera Linß, warum das Redaktionsstatut so wichtig ist.

Mehrere Hände strecken einer Person Mikrofone und Aufnahmegeräte entgegen

Ein Mindestmaß an Mitwirkungsmöglichkeiten der Redakteure und Redakteurinnen – dafür liegt eine Mustersatzung vor, auf die sich die deutschsprachigen öffentlich-rechtlichen Medienanstalten festlegen sollten. Einer der Sprecher der AGRA (Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Redakteursausschüsse), Hubert Krech, ist Mitarbeiter beim ZDF und erklärt im Interview mit Vera Linß das Anliegen.

Vera Linß: Das Muster-Redaktionsstatut soll die Unabhängigkeit der Redaktion wahren. Es gilt für alle journalistisch tätigen Mitarbeiter*innen und enthält Mindeststandards. Worin bestehen die? Was sind die Mindeststandards, die da vorgesehen sind?

Hubert Krech: Danke für die Gelegenheit, hier Stimmen aus dem sogenannten Maschinenraum der Öffentlich-Rechtlichen zu Gehör zu bringen. Die Mindeststandards sind klar umschrieben. Es geht um den Kern der Rundfunkfreiheit, es geht um den Meinungspluralismus und die innere Pressefreiheit der Medienhäuser. Diese Schlagworte beinhalten zwei wesentliche Elemente. Das eine bezieht sich darauf, was bei schwerwiegenden Eingriffen in die redaktionelle Freiheit geschieht, also von innen oder von außen, dass zum Beispiel ein Redaktionsleiter oder ein CvD einem Autoren vorschreibt, was in den Beitrag reinkommt und was rauskommt. So ein inhaltlicher Akt ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rundfunkfreiheit.

Und das andere ist die Forderung nach Mitwirkung bei wichtigen Programmenentscheidungen. Das fordern auch andere – Mitspracherechte, wenn zum Beispiel Sendungen eingestellt werden. Aus der Historie des ZDF etwa, da gab es ja diese Sendung “Mona Lisa” für Frauen- und Familienthemen. Als die eingestellt wurde, stellte sich redaktionell natürlich die Frage: Okay, man kann sie einstellen, aber wo finden diese Themen in Zukunft statt? Sind die dann künftig in dieser Sendung oder in jener Sendung unterzubringen? Also solche Gespräche müssen geführt werden, das ist ein solcher Mindeststandard.

Hubert Krech ist Fernsehredakteur beim ZDF. Er ist seit Oktober 2019 einer der drei Sprecher*innen der AGRA (Arbeitsgemeinschaft der Redakteursausschüsse).

Die Mindeststandards haben wir 2019 in Wien aufgestellt. Dazu ganz kurz die Historie: Die deutschen öffentlich-rechtlichen Anstalten ARD und ZDF, Deutschlandradio und Deutsche Welle haben Redakteursausschüsse in unterschiedlichen Ausstattungen. Und der österreichische ORF hat einen sehr starken Redaktionsrat – der damals unter starkem politischem Druck stand. In der Situation wurden wir nach Wien eingeladen. Wir haben dem Redaktionsrat den Rücken gestärkt und haben vereinbart, dass wir gemeinsam ein europäisches Musterstatut schreiben, in dem wirklich die Mindeststandards festgehalten sind. Tatsächlich sind einige Statute, die wir in deutschen Sendeanstalten haben, bereits besser aufgestellt als dieser Mindeststandard, andere sind aber leider weit darunter. Wir stehen gemeinsam mit den Kolleg*innen vom ORF für eine Homogenisierung dieser Mindeststandards, mit dem Ziel, dass mindestens diese Regeln überall gelten.

Das heißt, das Musterstatut würde zu mehr Gleichstellung und Gleichberechtigung führen, auch zwischen den Mitarbeitern und der Geschäftsführung zum Beispiel.

Also das Statut fußt auf Grundgesetzartikel 5 und auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts: Die Mitarbeitenden in den Redaktionen haben in der Gesamtheit eine Sonderrolle, weil sie ja die Träger*innen der Programme sind. Sie machen das Programm, sie verantworten die einzelnen Beiträge und die Sendungen, und deswegen sind sie als Gesamtheit verstärkt geschützt. Dabei geht es ja nicht um einen Dualismus: wir gegen die Führung. Das Statut ist ein konstruktiver Beitrag.

Natürlich sind in den Redaktionssitzungen in der AGRA eher die kritischen Menschen, aber die konstruktiv kritischen. Also ich habe in den letzten Jahren -, ich bin seit neun oder zehn Jahren in der AGRA aktiv, seit sechs Jahren als Sprecher - immer konstruktive Debatten erlebt. Wir treffen uns auch jedes Mal, wenn wir eine Tagung haben mit den jeweiligen Intendant*innen der Häuser. Wir sprachen zuletzt mit Herrn Gniffke, Intendant des SWR, auch dort wird der Austausch positiv gesehen.

Aber ein Beispiel, wie es nicht gut funktioniert, ist dieser Skandal des RBB. Ich kann das ausplaudern, weil es schon öffentlich wurde: Dem Redaktionsausschuss des RBB waren bestimmte Machenschaften der Spitze schon vor dem Eklat bekannt. Sie wussten natürlich nicht, wie genau es zustande kommt, dass Vorhaben teurer wurden, dass Gelder irgendwie verschwinden, aber es war klar, dass Aufklärung nötig ist. Sie haben mehrfach versucht, Gehör zu finden oder auch Antworten zu bekommen. Frau Schlesinger, damals noch die Intendantin, hat zu den Sprechern der Redaktion gesagt: ‚Sie können ruhig Ihre kritischen Fragen stellen, aber nicht mir. Stellen Sie Ihre Fragen draußen anderen Menschen.‘

Also das heißt jetzt nicht, dass der Skandal hätte verhindert werden können, aber man hätte vieles frühzeitiger gewusst. Gescheitert ist dann auch der Versuch, an die Gremien ranzukommen: Der Verwaltungsrat des RBB hat gesagt: ‚Wir dürfen ja gar nicht mit euch Redakteuren sprechen.‘ Und so prallte man – mangels vernünftiger Regelungen - an eine Wand. Das muss und darf nicht sein. Was daraus geworden ist, sehen wir alle.

Insofern ist eine funktionierende Redaktionsvertretung mit einem guten, starken Statut auch für die Führung der Häuser gut, weil sie frühzeitig wie ein Seismograf Stimmungen in den Redaktionen wahrnimmt. Im Flurfunk sind die Themen ja sowieso; aber mit einem vernünftigen Statut kanalisiert man Diskussionen - und hat was davon. Und die Mitarbeitenden haben natürlich den Vorteil, ein Sprachrohr zu haben. Das ist wie ein Sprecher in der Klasse. Und wichtig ist auch, sich klarzumachen: Wir haben sehr viele freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eine schwache Vertragslage haben. Wer von denen wird sich denn bei einem Programm-Konflikt durch alle Instanzen bis zum Intendanten durcharbeiten? Über den Personalrat, wenn sein Job auf dem Spiel steht? Da muss es zwingend die Möglichkeit geben, über ein anderes Gremium Recht zu bekommen. Dieses Gremium sind die Redaktionsvertretungen – die derzeit auch unterschiedlich gehandhabt werden von Nord nach Süd in Deutschland.

Inwieweit  wurde diese Satzung oder Teile daraus in den ARD-Anstalten, beim ZDF und Deutschlandradio denn bislang übernommen?

Also es ist so, dass es schon starke Statute gab. Vor allen Dingen der Norddeutsche Rundfunk und der Westdeutsche Rundfunk hatten sehr starke Redaktionsstatute. Die waren auch in den Landesgesetzen festgeschrieben, im NDR-Gesetz, im WDR-Gesetz. Beim NDR gibt es sogar eine eigene Geschäftsstelle mit Sekretariat und sehr umfangreichen Rechten. Inzwischen hat auch der Südwestrundfunk ein sehr starkes Statut.

Wir haben aus dem das Beste genommen, es mit Teilen des ORF-Statuts kombiniert und daraus das Musterstatut erstellt.

Das ist mehr oder weniger unsere Maximalforderung für Mindeststandards. Klingt ein bisschen komisch, “Maximal-“ und “Mindest-“, aber wir sehen einfach: Unter ein gewisses Niveau darf es nicht gehen, und innerhalb dieser einzelnen Aspekte wollen wir ein Mindestmaß für das Beste, weil es eben allen dient.

Wir haben eben auch schwache Statute. Zum Beispiel den Bayerischen Rundfunk - da gibt es gar nichts. Also alle Fragen, die die redaktionelle Freiheit betreffen, werden entweder nicht gestellt oder gehen über den Personalrat. Ich weiß von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Bayerischen Rundfunk, dass Leute, die in der Programmgestaltung einen Konflikt haben, dem aus dem Weg gehen und sich dann versetzen lassen oder sich einen anderen Job suchen - oder eben klein beigeben und sagen: Na ja, ich bin noch zehn Jahre hier, das sitze ich ab. Das ist natürlich nicht gelebte Rundfunkfreiheit, das ist völlig klar. Beim Saarländischen Rundfunk haben wir so eine Zwitter-Stellung. Dort sind Leute aus dem Personalrat auch Vertreter*innen der Redakteur*innen. Und beim ZDF, wo ich herkomme, da gibt es so eine wackelige Konstruktion, die nennt sich Leitordnung. Da ist das gesamte Gefüge der Arbeitswelt geregelt. Unter anderen gibt es da auch ein paar Worte zu Redaktionsvertretung.

Aber die gute Nachricht ist: Hier tut sich was. Wenn es eine gute Seite am RBB-Skandal für uns Redakteurinnen und Redakteure gibt, dann ist es das: Es gibt so eine Art Selbstbewusstsein, auch eine Selbst-Ermächtigung - ist ein blödes Wort, aber so eine Selbst-Inkraftsetzung: Jetzt oder nie. Das ist in vielen Bereichen beim RBB zu hören, der geht da voran. Oder auch bei Radio Bremen. Die Intendantin hat viele Rechte neu gewährt, weil sie einfach merkt, es muss was passieren bei den Redakteurinnen und Redakteuren. Sie haben dann auch eine Rekord-Wahlbeteiligung eingefahren bei der letzten Redaktionsvertretungwahl, weil die Menschen aufwachen. Insofern ist unser Ziel schon überall, also auch beim Bayerischen Rundfunk. Wer auch immer hier jetzt aus Bayern zuhört, möge sich einsetzen -  dass sich da was tut.

Da würde mich jetzt mal wirklich aus dem Nähkästchen interessieren: Mit welchen Argumenten stellt man sich denn dagegen zum Beispiel beim Bayerischen Rundfunk?

Braucht man nicht.

Okay….?  

Das war jetzt mit Gerhard Polt gesprochen - Ich komme ja aus Bayern. Der Polt, der großartige Kabarettist sagte immer: Wir brauchen in Bayern keine Opposition, weil wir sind ja schon Demokraten. Das ist natürlich flapsig dahingesagt. Ich will niemanden despektierlich angehen. Aber man erhofft sich dort natürlich, dass sich das regelt. Und vielleicht ein Einblick ins ZDF: Hier gibt es ja auch Regelungen bei Programmenkonflikten. Es wird keiner alleingelassen, man kann sich an den Personalrat wenden und es kann eskaliert werden bis hin zum Intendanten. Aber die Frage ist: Muss das gleich über die arbeitsrechtliche Frage gelöst werden, wenn es doch ein programmlicher Konflikt ist, der auf niedriger Ebene schon gelöst werden kann? Der andere Weg steht ja immer noch offen. Und da ist halt beim Bayerischen Rundfunk dieser normale juristische, arbeitsrechtliche Weg vorgesehen. Und der Weg ist aus Sicht der AGRA einfach zu kurz.

Dieses Musterstatut ist ja von 2019. Wie aktuell ist es denn noch?

Es ist immer noch aktuell, und es wird teilweise auch überholt und muss weiter bearbeitet werden (uns fehlt auch ein bisschen die Zeit): Der Mitteldeutsche Rundfunk zum Beispiel bekommt jetzt gerade ein neues Statut, das wieder verschärft ist im Vergleich zu dem, was davor war. Der SWR hat vor kurzem ein neues Statut bekommen, das schon an diese Mindeststandards herangeht. Es gibt noch einen Punkt, da kommen wir noch dazu, wenn wir über den ORF sprechen, es gibt ein Element, das noch in allen deutschen Redaktionsstatuten fehlt .. aber ansonsten tut sich einiges. Beim SR könnte man noch was tun, da gibt es nämlich noch diese Zwitterfunktion des Personalrats. Ansonsten merken wir schon einen Aufbruch. Auch der Hessische Rundfunk könnte noch was brauchen - und für die sind diese Mindeststandards interessant. Und wir haben die natürlich auch im Hinblick auf Polen, Ungarn, Italien aufgestellt. Dazu sollten wir auch mal über die EBU (Europäische Rundfunkunion) tätig werden, aber jedes einzelne Thema bräuche eine eigene Sitzung…

Als ein Vorbild gilt ja das ORF-Statut: Inwiefern gilt es weiter als dieses Musterstatut?

Es gibt einen entscheidenden Punkt, den das ORF-Statut vorsieht: Die Kolleg*innen haben eine große Mitwirkung oder Mitsprache bei der Bestellung von Chefs und auch ein Misstrauensvotum gegenüber von Chefs. Da geht es jetzt nicht darum, dass der Dienstplan mir nicht passt oder „jetzt habe ich dreimal am Stück am Wochenende gearbeitet - ich will jetzt ein Misstrauensvotum“. Sondern da geht es um politische Eingriffe in die redaktionelle Freiheit. Und da gibt es den Passus, dass, wenn der Chef hierzu dreimal so eine Art gelbe Karte gezeigt hat – etwa „Du hast hier in die redaktionelle Freiheit eingegriffen - zum Beispiel indem du gesagt hast, wir müssen mehr O-Töne von der ÖVP nehmen oder mehr von der SPÖ. Das ist nicht in Ordnung, es widerspricht unseren Grundsätzen vom ORF. - Nach drei solcher „gelben Karten“ gibt es für den Chef die rote Karte. Und dann gibt es den Ethikrat, der dann entscheidet: Muss der gehen oder nicht? Der Intendant - dort heißt der Generaldirektor - entscheidet letztlich. Aber die Redakteure und Redakteurinnen haben dadurch eine ganz starke Macht.

Überhaupt haben die österreichischen Kolleg*innen eine starke Wahlbeteiligung. Der Sprecher der Redakteurinnen und Redakteure in Wien ist wirklich der Sprecher dort. Er ist wirklich anerkannt. Er wird sehr oft interviewt. Wir arbeiten mit denen zusammen seit diesen Strache-Geschichten. Man muss natürlich diese Historie sehen: Beim ORF gibt es politische Einwirkungen und politische Besetzungen, wie es das bei uns meines Wissens nicht gibt, dass jemand aufgrund seines Parteibuchs Redaktionsleiter von irgendwas wird. Das hat heute nicht mehr diese Dimension, wie man es von früher kennt. Die Redakteurinnen und Redakteure haben sich so ein starkes Statut erkämpft, um ihre redaktionelle Unabhängigkeit verteidigen zu können und notfalls solche Menschen rauskriegen zu können. Seitdem ist das nie vorgekommen, weil alleine dieser Passus in dem Statut präventiv wirkt. Es wird einfach nicht mehr versucht. Und daran wollen wir uns orientieren.

Und wenn jetzt tatsächlich ein Chef 2/3 seiner Mitarbeitenden verliert aufgrund von politischer Einflussnahme, dann hat der Mensch auch keine Zukunft mehr in der Redaktion. Das muss man einfach sehen. Wie soll der oder die noch eine Redaktion führen? Also das ist immer noch ein Punkt, den wir in Deutschland noch nicht haben. Wir wissen nicht, wie sich hier politisch alles weiterentwickelt und wer sich wem andient. Wir wissen, dass sich beim ORF viele Leute angedient haben in den Redaktionsstuben, als die FPÖ aufstieg. Wir machen für euch ein bisschen Programm, dafür könnt ihr mich noch mal befördern, wenn ihr dann an der Macht seid. So was muss man von vornherein einfach ausschließen. Die Redaktionsfreiheit ist das höchste Gut, sie ist demokratiestiftend.

Vielen Dank.

 


Das Interview führte Vera Linß im Rahmen des Werkstattgesprächs „Reformdebatten ergänzen“, 28. Juni 2023.

 
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