Die Energiewende braucht Handwerk

Deutschland ist jetzt darauf angewiesen, dass Politik, Handwerksorganisationen, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft das Handwerk sichtbar machen und unterstützen.

Handwerker*in schraubt Solaranlage fest

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Aktuell erleben Länder wie Deutschland oder die USA, die sich nach Jahren mangelnder Ambitionen nun an die Umsetzung der Klimaziele machen, ihren „Heinzelmännchenmoment“. Zu lange wurde über das Handwerk hinweggesehen und seine Existenz als selbstverständlich hingenommen. Nun folgt ein bitteres Erwachen: Es gibt viel zu wenige Handwerker:innen, um die Klimaziele umzusetzen.

Ein Beispiel für diese selektive Blindheit: Der Weltklimabericht informiert zwar ausführlich über CO2-Budgets, Transformationspfade, Technologien und Konsumgewohnheiten. Dass Technologien installiert und Maßnahmen vor Ort umgesetzt werden müssen und dass all dies sehr viel qualifizierte menschliche Arbeit(-skräfte) erfordert, wird auf über 2.000 Seiten nur an einer Stelle explizit erwähnt. Nach Lösungsstrategien sucht man vergebens. Auch Deutschland fehlt das Verständnis für sein Handwerk und eine Strategie, seine Potenziale für die Energiewende nutzbar zu machen.

Transformationspotenziale des Handwerks

Vereinfacht gesagt liegen die Stärken des Handwerks dort, wo man aus den vor Ort vorliegenden Begebenheiten das Beste machen muss. Denn praktisches Erfahrungswissen und Könnerschaft befähigen Handwerker:innen, funktionale Lösungen für kontextabhängige Probleme zu improvisieren. Im Gebäudesektor erfordern das Bauen im Bestand und die (energetische) Sanierung handwerkliche Leistungen vor allem dort, wo Daten fehlen und wenige baugleiche Gebäude errichtet sind. In der Energiewende bedürfen der Ausbau von Dach-Photovoltaik und erneuerbarer Heizungssysteme vielfach spezieller Handwerkslösungen. Im Bereich der Produktion und Kreislaufwirtschaft liegen die handwerklichen Potenziale in der Verarbeitung und Instandhaltung von Materialien mit schwankenden Eigenschaften wie etwa nachwachsender Rohstoffe oder beschädigter Produkte.

Illustration von Menschen, die an einem Hebel ziehen

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Von herausragender Bedeutung aber ist Handwerk für die Anpassung an den Klimawandel mit seinen zunehmenden Extremwetterereignissen. Da diese oft lokal auftreten, sind schnelle, funktionale und kontextabhängige Lösungen vor Ort erforderlich (Stichwort: Ahrtal). Die Improvisationsfähigkeit ansässiger Handwerksbetriebe wird so zu einem maßgebenden Faktor der Klimaresilienz einer Gemeinschaft.

Darüber hinaus bieten die Organisation und Gruppenidentität des deutschen Handwerks die Chance, Politikmaßnahmen frühzeitig auf Praxistauglichkeit zu prüfen und funktionale Lösungen schnell in die Breite zu tragen. Doch genau wie diese langgewachsene Struktur als Schlüsselkatalysator Veränderungsprozesse beschleunigen kann, können ihre Beharrungskräfte den Wandel auch lähmen. Klar ist, dass ohne einen Schulterschluss von Politik und Handwerk die Energiewende nicht in der erforderlichen Geschwindigkeit umsetzbar sein wird. Klar ist aber auch, dass sich die Handwerksorganisationen und -betriebe wandeln müssen, um ihre Teilhabe am Gemeinschaftsprojekt Energiewende zu gewährleisten.

Die Transformation handwerksfreundlich gestalten

Das Handwerk kann als ein System aus den drei Ebenen Handwerker:innen, Handwerksbetriebe und Handwerksinstitutionen beschrieben werden. Um die Transformationspotenziale des Handwerks zu heben, sind Maßnahmen auf allen drei Ebenen erforderlich.

Handwerker:innen brauchen zuvorderst gesellschaftliche Wertschätzung, die sich in sozialem Prestige und guter Bezahlung äußert. Nur so lassen sich Menschen für das Handwerk gewinnen und nachhaltig in den Berufen halten. Zum Zweiten braucht es Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, die für vielfältige Zielgruppen attraktiv sind. Während die handwerkliche Ausbildung für viele Gruppen wie z.B. Geflüchtete beliebt ist, scheinen andere Gruppen vom Handwerk kaum angesprochen zu sein. So liegt der Frauenanteil in den für den Klimaschutz zentralen Engpassgewerken der Gebäudeelektrik und des Sanitär-, Heizung- und Klimahandwerks bei unter 1,5 Prozent.

Handwerksbetriebe beschäftigen die Handwerker:innen, bilden sie aus und agieren unter regulatorischen Rahmenbedingungen im ökonomischen Wettbewerb. Dafür benötigen sie Ressourcen wie fähige Fachkräfte, Material, Immobilien und Finanzmittel. Das Besondere: Da die handwerkliche Leistung dezentral erbracht werden muss, benötigen die Betriebe diese Ressourcen in der Fläche. Outsourcen und Zentralisieren handwerklicher Leistungen sind meist nicht möglich. Um im Wettbewerb bestehen zu können, brauchen die kleinen Handwerksbetriebe faire ökonomische und regulatorische Ausgangsbedingungen wie die Abwesenheit von Größendiskriminierungen, den Abbau von Fixkosten (Bürokratie) sowie die konsequente Internalisierung sozialer und ökologischer Kosten (vor allem bei im Ausland tätigen Konzernen). Darüber hinaus müssen sich ökologische Dienstleistungen betriebswirtschaftlich rechnen: Rahmenbedingungen sollten deshalb so gesetzt werden, dass die Reparatur einer Waschmaschine durch einen lokal ansässigen Elektrobetrieb im Vergleich zu in chinesischer Fließbandarbeit hergestellter Neuware konkurrenzfähig ist. Zuletzt ist die Stabilität von Regulierungs- und Finanzierungsstrukturen sowie politischer Prioritätensetzung von herausragender Bedeutung, da Unsicherheit und fehlende Planungssicherheit Investitionen und Verlässlichkeit im Handwerk untergraben und mit erheblichem Bürokratieaufwand einhergehen.

Handwerksinstitutionen unterstützen die Betriebe und Handwerker:innen als ausgelagertes kooperatives „Rückgrat“ und als Schnittstelle zu Entwicklungen in Politik oder Technik. Leistungsfähige Handwerksinstitutionen brauchen Handlungskapazitäten im Haupt- und Ehrenamt sowie Gestaltungsspielräume etwa zum Knüpfen von Allianzen. Solche Spielräume lassen sich beispielsweise über die Durchlässigkeit von Machtstrukturen, die Handlungsautorisierung der hauptamtlichen Verwaltung sowie verstärkte Mitbestimmungsmöglichkeiten für Mitglieder schaffen. Zudem brauchen Handwerksinstitutionen in Politik und Gesellschaft ein Gegenüber, das sie konsequent in Entscheidungen und Debatten einbindet. Damit die Energiewende funktioniert, sollten die Perspektiven der Umsetzung, der Dezentralität und Lokalität, der Kleinbetrieblichkeit, der beruflichen Bildung und des Praxiswissens mit am Tisch sitzen.

Impulse zum kollektiven Handeln

Die anstehende Transformation unserer Wirtschaft und unseres Energiesystems unterscheidet sich von historischen Veränderungen darin, dass sie eine klare Richtung hat: hin zu Klimaneutralität und Nachhaltigkeit. Der Weg dahin muss jedoch gesellschaftlich ausgehandelt werden, um eine breite soziale Teilhabe und Trägerschaft sicherzustellen. Aus Perspektive des Handwerks gilt es beispielsweise zu bedenken, dass die politischen Rahmenbedingungen einen Effekt darauf haben, ob lokal ansässige Handwerksbetriebe gegenüber fremdkapitalfinanzierten und international tätigen Konzernen wettbewerbsfähig sind, ob sich Ausbildung als gesellschaftlicher Beitrag für Betriebe lohnt oder ob der Umbau zur Klimaneutralität in Deutschland auf prekäre Arbeitsverhältnisse oder soziale Nachhaltigkeit setzt.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte im März, die gesellschaftlichen Ziele des Klimaschutzes ließen sich nur erreichen, „wenn das Handwerk funktioniert und sein Funktionieren politisch ermöglichend unterstützt wird. Das Handwerk rückt von einer Sparte in der ökonomischen Auffächerung des Landes […] zu dem Motor der Konjunktur.“ Das Schaffen handwerksfreundlicher Rahmenbedingungen ist also von gesamtgesellschaftlichem Interesse und könnte mit den folgenden Impulsen gelingen:

  1. Silos überwinden und Berührungspunkte schaffen. Zur Erhöhung des gesellschaftlichen Verständnisses und Prestiges des Handwerks mag eine „Imagekampagne“ einen kleinen Teil beitragen. Wichtiger und nachhaltiger jedoch als oberflächliches Aufpolieren ist, die gesellschaftlichen „Silos“ von Akademiker:innen und Handwerker:innen stärker zu durchmischen und mehr Berührungspunkte zu schaffen. Realistischere Vorstellungen von handwerklicher Arbeit und persönlicher Bezug sind wirksamere Werbung für Handwerksberufe als Hochglanzplakate. Generell sollte vermieden werden, Handwerk ausschließlich im Kontext eines Mangels zu porträtieren. Stattdessen braucht es eine erhöhte öffentlichkeitswirksame Präsenz des Handwerks beispielsweise auf Energiewendekongressen, in Jugendzeitschriften, Zukunftspodcasts, Wohnheimen oder Begabtenförderungswerken.
  2. Ausbildungsoffensive als Zeitenwende. Statt einzelner kurzfristiger Kampagnen braucht es auch in der Ausbildungspolitik eine politische „Zeitenwende“, die eindeutig die Zukunftsträchtigkeit und Wertschätzung handwerklicher Ausbildung und Arbeit signalisiert. Das umfasst neben dem Aufbrechen der „Silos“ eine Gleichstellung der dualen mit der akademischen Bildung und konkret eine Verbesserung der Ausbildungsqualität in Berufsschulen, überbetrieblichen Ausbildungsstätten und Betrieben. Zudem sollte eine Ausbildungsoffensive verschiedene Zielgruppen ansprechen wie zum Beispiel Frauen, Fachkräfte aus dem Ausland oder aus vom Strukturwandel betroffenen Branchen.
  3. Faktor Arbeit entlasten und Faktor Ressourcenverbrauch belasten. Der CO2-Preis als Hauptlenkungsinstrument der Energiewende sollte erhöht und im Ausland anfallende Emissionen über Klimazölle eingepreist werden. Zeitgleich müssten die Lohnnebenkosten und die Umsatzsteuer auf Klimaschutzdienstleistungen gesenkt werden, um die arbeitsintensiven aber ressourcenschonenden Handwerksleistungen bei steigenden Löhnen erschwinglich zu halten.
  4. Kapazitäten handwerklicher Mitarbeiter:innen für Kerntätigkeiten maximieren. Durch schlanke und stabile Antrags- und Berichterstattungsverfahren, Bürokratieabbau, digitale Hilfsmittel und den Einsatz von Hilfskräften können Handwerker:innen entlastet werden. Kommunale Maßnahmen in der Verkehrspolitik (etwa Handwerkerparkausweise) können dazu beitragen, dass Handwerker:innen im Außendienst weniger Zeitverluste bei der Anfahrt haben.
  5. Aus den Puschen ins Pushen kommen. Statt wie bisher auf Entwicklungen zu reagieren, sollte das Handwerk auf Basis seiner eigenen Stärken Initiativen einbringen und Allianzen knüpfen, um politische Maßnahmen praxistauglicher, wirksamer und sozial gerechter zu gestalten. Zu einer ermöglichenden Haltung im Handwerk gehört auch, interne Missstände wie Pfadabhängigkeiten in den Machtstrukturen der Handwerksorganisationen zu benennen und anzugehen.

Das Handwerk ist zentraler Akteur in der Umsetzungsallianz der Energiewende

Nach Jahren einer Selektivblindheit für das Handwerk ist Deutschland jetzt darauf angewiesen, dass Politik, Handwerksorganisationen, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft das Handwerk sichtbar machen und unterstützen. Die Energiewende braucht Hand(-in-Hand)werk.