Das neue Europa bauen: Bündnis 90 – Blicke auf ein Jubiläum

Hintergrund

Viele Menschen, die sich in der DDR in Friedens- und Oppositionsgruppen engagierten, erhielten entscheidende politische und kulturelle Impulse aus den östlichen Nachbarländern. Der Blick auf die politischen und kulturellen Impulse aus den östlichen Nachbarländern der 1980er Jahre macht Werte und Ziele der politischen Akteur*innen des "Bündnis 90" sichtbar, die das Profil der heutigen Partei "Bündnis 90/Die Grünen" mit geprägt haben.

Auf einer grauen Betonwand klebt ein altes, zerschlissenes Wahlplakat, darauf steht: "Bündnis 90 Bürger für Bürger Initiative Frieden und Menschenrechte
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Wahlplakat von Bündnis 90, Berlin-Mitte, Chaussestr. 36

Vor dreißig Jahren schlossen sich Bündnis 90 und die Grünen zu einer gemeinsamen Partei zusammen. Dieses Jubiläum wurde aktuell in verschiedener Weise begangen. In Leipzig, am Ort des Gründungskongresses, trafen sich am 6.Mai Veteran*innen, Politiker*innen der Partei, Mitglieder und Anhänger*innen zu einem ganzen Tag voller Gespräche, Debatten und Podien. Die Bundestagsfraktion organisierte einen eigenen Schwerpunkt dazu und im Juni wird die Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin dem Jubiläum einen Runden Tisch widmen.

Mit der Konzentration auf die Zeit der unmittelbaren Vereinigung, wird die Vorgeschichte der achtziger Jahre, wird das Spektrum von Oppositionsgruppen, dass zu Bündnis 90 hinführte, nicht immer richtig erfasst. Der Blick auf sie, gibt die Geschichte, die Werte und Ziele politischer Akteur*innen des Bündnis 90 frei, die das Profil der heutigen Partei mitprägten. Einige wurden nach dem Zusammenschluss zu Berufspolitiker*innen, andere gingen ins Privatleben zurück oder begleiteten den Weg der Bündnisgrünen in anderer Weise. Heute sehen sie sich mit einer ungeheuren Bedrohung konfrontiert, die für viele ferne Beobachter*innen immer noch unwirklich ist.

Viele der Männer und Frauen, die in der DDR den Weg in die Friedens- und Oppositionsgruppen fanden, erfuhren entscheidende Impulse in den östlichen Nachbarländern. Das polnische KOR, die tschechische Charta77, die Gruppen der ungarischen Opposition und dann als entscheidende Wirkung die Massenbewegung der Solidarność. Die Einsicht, dass alle in verschiedenen Zellen des gleichen Gefängnisses saßen und der Ausbruch, die Befreiung daraus, nur gemeinsam gelingen konnte. Dass die eigene Freiheit nur dann wirklichen Wert gewann, wenn sie die Befreiung der anderen einschloss.

Timothy Garton Ash, ein junger britischer Historiker, der seine Wege 1980 durch den Ostblock in der DDR begann, lernte die Dissident*innen in all diesen Ländern kennen, wurde vom Chronisten zum Partner und Gefährten. In seinem Buch „Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990“ beschreibt er seine Begegnungen mit Vacłav Havel, Adam Michnik, György Konrad, Gerd und Ulrike Poppe und zahllosen weiteren Personen. Dabei kommt er auch in Kontakt zu einer Minderheit von Westgrünen, die den Weg in die Küchen der mittelosteuropäischen Oppositionellen fanden.

Der Psychologe und Schriftsteller Jürgen Fuchs, der nach den Protesten gegen die Biermann-Ausbürgerung wie viele andere aus der DDR getrieben wurde, baute in der Emigration in Westberlin an dieser internationalen Verständigung der Oppositionellen, an dieser entscheidenden Brücke mit. Seine Wohnung wurde zum Anlaufpunkt für Solidarność-Exilanten, er war in Polen ungeheuer präsent, ohne je direkt dort sein zu können. In seinen Reflexionen versuchte er, die Erfahrungen vorangegangener Aufstände und Proteste, die den Ostblock erschütterten und die neuen Entwicklungen zu verbinden. Wie ließen sich Frieden und Freiheit, politischer Pluralismus und soziale Gerechtigkeit, verbinden, welche Balance sollte zwischen ihnen herrschen, in einer offenen, demokratischen Gesellschaft? Wie konnte man verhindern, dass sich ein gesellschaftliches Oben und Unten erneut verfestigte?

Es war kein Zufall, dass in Deutschland Vertreter*innen der Bündnisgrünen mit als erste die Zeichen der immer größeren Gefahr erkannten

Die Jahre 1989/1990 erfüllten den gemeinsamen Befreiungstraum aber nicht für alle Beteiligten gleichermaßen. Russische, ukrainische, georgische, südosteuropäische Dissident*innen waren mit einer anderen Realität konfrontiert. Der neue Russländische Staat, Nachfolger der untergegangenen Sowjetunion, wurde nicht zum Teil einer europäischen Friedensordnung von Lissabon bis Wladiwostok, sondern strebte in die imperiale Vergangenheit zurück. Die Bosnienkriege der neunziger Jahre setzten andere Zeichen.

Es war kein Zufall, dass sich in Deutschland Vertreter*innen der Bündnisgrünen, den neuen Gefahren als Minderheit entgegenstemmten und mit als erste die Zeichen der immer größeren Gefahr erkannten. Erst vor wenigen Monaten haben wir des Lebens und der Leistung von Werner Schulz gedacht.

Eine der wichtigsten Stimmen unseres polnischen Nachbarn, die ehemalige Solidarność-Aktivistin und heutige Europaabgeordnete Róża Thun (Bürgerplattform) beschreibt die neue Gefahr und zugleich entscheidende Aufgabe. In einer europapolitischen Grundsatzrede im Oktober 2022 an der Frankfurter Europa-Universität Viadrina sagte sie:

„Wir haben einen schrecklichen Krieg vor unseren Türen. Ich weiß, dass viele besonders in Westeuropa, glauben möchten, dass dieser Krieg weit weg ist, und dass es eigentlich nicht ihr Krieg ist. Es ist wirklich höchste Zeit zu verstehen: es ist unser Krieg!

Wir sind alle von Putin angegriffen worden, unsere Weltordnung ist angegriffen, unser Zusammenhalt, unsere Werte, unsere Zivilisation sind in Gefahr. Wir werden heute von den heldenhaften Ukrainern und Ukrainerinnen verteidigt, gestützt durch unsere, viel zu bescheidene Hilfe. Die Ukraine kämpft heute unter gelbblauen ukrainischen Farben, aber auch unter unserer Fahne, mit 12 goldenen Sternen auf dem ultramarinblauen Hintergrund. Sie sterben und sie siegen für das, was wir zu oft vergessen zu schätzen. Ich hoffe, ich bin sicher, dass der Kranz aus goldenen Sternen auf dem blauen Hintergrund, bald auch die Fahne von allen Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine sein wird.“

Róża Thun verbindet ihren Appell zur Unterstützung der Ukraine mit einer bitteren Feststellung:

„Zuerst müssen wir den Ukrainer*innen helfen, diesen Krieg für sich und für uns alle zu gewinnen. Waffen liefern ist die Pflicht Europas. Ich bin über das Zögern der deutschen Regierung wirklich enttäuscht. Der Aggressor ist gnadenlos. So paradox, wie es auch klingt, jetzt besteht die Möglichkeit, Leben zu retten, gerade auch mit schweren Waffen."

Mehr als ein halbes Jahr nach diesem Appell, sollte die deutsche Regierung ihre Lektion gelernt haben. Die Bilder und Worte des Zusammentreffens von Wolodymyr Selenskyj mit Olaf Scholz, ihr gemeinsamer Aufenthalt in Aachen, könnten optimistisch stimmen.  
Entwarnung kann man aber nicht geben. Was die Worte des Bundeskanzlers, die er im Namen der Bundesregierung und damit der beteiligten Koalitionspartner abgibt, wirklich wert sind, werden die nächsten Monate und Jahre zeigen, wenn die Anstrengungen noch größer werden müssen und die Zumutungen steigen.

Die Ukraine kann den Krieg gewinnen, aber den Frieden verlieren, so formulierte es Andriy Melnyk, der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland. Sollte die Ukraine mit allen eigenen Anstrengungen und aller äußerer Unterstützung ein militärisches Übergewicht erreichen, stünde sie einem geschwächten aber weiterhin bedrohlichen Gegner gegenüber.

Die entscheidende Aufgabe geht über verstärkte Waffenlieferungen, militärische Logistik und finanzielle Militärhilfe hinaus. Sanktionen entfalten dann ihre Wirkung, wenn sie anhaltend und konsequent sind, Geldströme und verantwortliche Personen erfassen.

Die Sanktionen dürfen erst dann aufgehoben werden, wenn die ganze Ukraine befreit ist, die Bezahlung von Reparationen eingesetzt hat und die Verfolgung von Kriegsverbrechen fortsetzt wird. Bei all dem könnte Deutschland eine entscheidende Rolle spielen.

Ein freies Europa zu verteidigen, zu verbessern und zu erweitern ist eine Sache, die unsere Hoffnung und unsere Anstrengungen lohnt.

Es könnte zum führenden Teil einer europäischen Koalition werden, die es mit Polen, den baltischen Staaten, die Skandinavier, den Niederlanden, bereits gibt.
Für unseren Ausschnitt dieser Aufgabe, kommt den Akteur*innen von B90/Grünen verschiedener Ebenen, eine entscheidende Rolle zu. Sie sind mit den Traditionen von Bürgerbewegung und partizipativer Demokratie verbunden, setzen auf die Kraft des Wortes und die öffentliche Auseinandersetzung.

In der Realität der repräsentativen Demokratie, sind es gewählte Abgeordnete und durch die Beteiligung an der Regierungskoalition Vertreter*innen der Exekutive, die dazu beitragen könnten, dass die Bundesrepublik Deutschland ihrer Verantwortung gerecht wird.

Bei all dem geht es nicht um Wunschträume. Ein Historiker wie Timothy Garton Ash ist kein Träumer, wenn er seine aktuellen Wanderungen durch Europa beschreibt. Ein Europa mit all seinen Fehlern, Grenzen und Heucheleien. Wie Róża Thun ist er ein harter und eindeutiger Kritiker der demokratie- und europafeindlichen politischen Kräfte in Ungarn und Polen, hadert mit dem englischen Brexit.

Dennoch sieht er ein Europa, dass trotz aller Rückschläge der letzten Jahre für ihn immer noch viel besser ist, als das Europa, welches er Anfang der 1970er Jahre zu erkunden begann, ganz zu schweigen, von der Hölle, die sein Vater als junger Soldat in der Normandie erlebte.

Ein freies Europa zu verteidigen, zu verbessern und zu erweitern ist nicht nur für ihn eine Sache, die unsere Hoffnung und unsere Anstrengungen lohnt.

In einem solchen Europa, dessen Neubau noch Jahrzehnte dauern wird und kein Ende der Geschichte bedeutet, werden die Anstrengungen und Werte all derer, die sich zum Erbe von Bündnis 90 bekennen, aufgehoben sein.


Literaturhinweise

Ash,Timothy Garton (1990): Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980-1990, Hanser.

Ash,Timothy Garton (2023): Europa: Eine persönliche Geschichte, Hanser.

Kuczyński, Ernest (Hrsg): "Sagen, was ist. Jürgen Fuchs zwischen Interpretation, Forschung und Kritik", Neisse Verlag 2017.

Gräfin von Thun und Hohenstein, Róża (2022): Rede anlässlich der Verleihung des 21. Viadrina-Preises durch die Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).