Sexualisierte Gewalt im Konflikt in Nordäthiopien

Seit 2020 tobt in Nordäthiopiens Region Tigray der Krieg. Er hat sich schnell auch auf die Nachbarregionen Amhara und Afar ausgebreitet und zu einer humanitären Krise geführt. Seit Beginn des Konfliktes ist die Region jedoch fast völlig abgeschnitten: eine Telekommunikationskanäle, kein Internet, keine lebenswichtigen Güter. Die Bevölkerung ist auf sich allein gestellt, zahlreiche Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Sexualisierte Gewalt wird gezielt und systematisch von allen Konfliktparteien als ein Mittel der Kriegsführung eingesetzt. 

Eine Frau steht mit gehobener Faust bei einer Demonstration

Seit November 2020 tobt in Tigray, in Nordäthiopien ein bewaffneter Konflikt, der zu einer humanitären Krise geführt hat. Rasch weitete sich der Konflikt auch auf die Nachbarregionen Amhara und Afar aus. Seit Beginn der Kämpfe sind schätzungsweise bis zu einer halben Million Menschen gestorben[1] und mehr als 2,5 Millionen Menschen vertrieben worden.[2] Die Infrastruktur in Tigray wurde weitgehend zerstört. Millionen von Menschen sind auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Die Region ist seit Beginn des Konfliktes jedoch fast völlig abgeschnitten: Keine Telekommunikationskanäle, kein Internet, keine lebenswichtigen Güter. Nichts und niemand darf ohne Genehmigung in die Region, doch eine Genehmigung bekommt kaum jemand. So ist die Bevölkerung auf sich allein gestellt und die internationale Gemeinschaft verschließt die Augen vor zahlreichen Menschenrechtsverletzungen.

In Nordäthiopien wird sexualisierte Gewalt gezielt und systematisch von allen Konfliktparteien als ein Mittel der Kriegsführung eingesetzt.[3] Amharische, äthiopische und eritreische Sicherheitskräfte setzen Vergewaltigungen und andere Formen sexualisierter Gewalt gegen tigrayische Frauen und Mädchen ein, um tigrayische Gemeinschaften zu zerstören und Widerstände zu brechen. Menschen werden individuell unter Druck gesetzt, um sie gefügig zu machen, zu vertreiben und Gebiete zu kontrollieren. Umgekehrt begehen tigrayische Sicherheitskräfte an amharischen Mädchen und Frauen ähnliche Verbrechen.[4] Auf beiden Seiten haben diese Taten häufig auch den Charakter von Racheakten, die von rassistischen Beleidigungen der Mädchen und Frauen begleitet werden und somit die Gewalt im Konflikt weiter eskalieren lassen.

Sexualisierte Gewalt bezeichnet Handlungen, die das sexuelle Selbstbestimmungsrecht des Menschen verletzen und vorsätzlich erfolgen.[5] Sie kann verschiedene Formen annehmen. In Tigray werden Frauen und Mädchen, unter ihnen Kinder und Schwangere, individuell oder gruppenweise vergewaltigt, teilweise vor den Augen ihrer eigenen Kinder und anderer Familienmitglieder. Eine Frau, die im November 2020 in West-Tigray Opfer von sexualisierter Gewalt wurde, berichtete Amnesty International: "Sie vergewaltigten mich einer nach dem anderen. Ich weiß nicht, ob ihnen klar war, dass ich schwanger war. Ich weiß nicht, ob ihnen klar war, dass ich ein Mensch bin."[6]

Das Ziel der Täter ist es, ihren Opfern maximale Schmerzen und Schäden zuzufügen, weshalb die Vergewaltigungen oft mit zusätzlichen Misshandlungen einhergehen.[7] Sexualisierte Gewalt dient neben Folter, willkürlichen Verhaftungen und Plünderungen als ein Mittel, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und demütigen.[8] Überlebende berichten, dass Ihnen mit dem Tod gedroht wurde, sie geschlagen und teilweise mit Gegenständen verstümmelt wurden, wie beispielsweise mit heißen Metallstangen und Nägeln.[9] Manche Frauen werden auf der Flucht in den Sudan vergewaltigt und tage- oder wochenlang unter Umständen festgehalten, die sexueller Sklaverei gleichkommen.[10]

Alle Konfliktparteien haben sich durch den Einsatz von sexualisierter Gewalt Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, die während eines bewaffneten Konfliktes begangen werden und sich gegen die Zivilbevölkerung richten. Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes listet in diesem Zusammenhang „Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution und erzwungene Schwangerschaft“ als solche Verstöße auf.[11]

Das Ausmaß der Gewalt in Tigray – hinsichtlich ihrer verbreiteten Anwendung und Brutalität - lässt darauf schließen, dass die äthiopische Regierung Kenntnis vom gezielten Einsatz sexualisierter Gewalt durch die sie unterstützenden Sicherheitskräfte hat. Es sind keine Maßnahmen oder Anstrengungen bekannt, diesen in ihrer Gesamtheit systematischen Vorfällen entgegenzuwirken. Amnesty International und Human Rights Watch haben in der Region West Tigray eine gezielte systematische Anwendung von sexualisierter Gewalt und anderer Menschenrechtsverletzungen gegen die tigrayische Bevölkerung nachgewiesen, die durch amharische Behörden und Sicherheitskräfte koordiniert und umgesetzt wird. Diese regelrechte Kampagne gegen die tigrayische Zivilbevölkerung erfüllt auch den Straftatbestand von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[12] Artikel 7 des Römischen Statuts listet explizit „Vergewaltigungen, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution und erzwungene Schwangerschaft, (sowie) Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt von vergleichbarer Schwere“ als Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, wenn sie systematisch gegen die Zivilbevölkerung und intendiert eingesetzt werden.[13] 

Dem Waffenstillstand im März dieses Jahres folgte eine Wiederaufnahme der Kampfhandlungen im August, die die Hoffnungen auf humanitäre Hilfe in der Region Tigray zunichtemachte.  Eine dauerhafte Lösung des Konfliktes und Frieden stehen nicht in Aussicht. Daher ist es umso wichtiger, dass die internationale Gemeinschaft ihre Aufmerksamkeit und ihr Engagement auf den Konflikt in Nordäthiopien lenkt. Zu Beginn der Kämpfe war dies zwar der Fall, jedoch ist im Zuge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine die internationale Aufmerksamkeit für Nordäthiopien drastisch gesunken. Trotz der Schwere des Konfliktes und der massiven Menschenrechtsverletzungen war der Konflikt noch nie Thema im UN-Sicherheitsrat. Die Afrikanische Union und die internationale Gemeinschaft müssen den Druck auf die äthiopische Regierung deutlich erhöhen, um zu erreichen, dass endlich humanitäre Hilfe nach Tigray gelingen kann und die Region wieder zugänglich wird. Die Situation der Mädchen und Frauen spielt bislang keine Rolle auf der politischen Agenda. Nur Druck der internationalen Gemeinschaft kann bewirken, dass sich alle Konfliktparteien auf den Weg zu Friedensverhandlungen begeben. Personen, die sich im Konflikt sexualisierter Gewalt und anderer Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, müssen aus Nordäthiopien abgezogen und zur Rechenschaft gezogen werden. Dies ist Voraussetzung für einen nachhaltigen Frieden. Die internationale Gemeinschaft kann eine positive Rolle spielen, indem sie Projekte unterstützt, die Opfern von sexualisierter Gewalt helfen, statt sie weiter zu missachten.

Ich bedanke mich bei Ava Schuster für die Unterstützung bei der Vorbereitung des Artikels.

* Inhalte und Meinungen in dem Artikel sind die der Autorin und geben nicht unbedingt die Ansichten von der Heinrich Böll Stiftung wieder.

 

[1] Ghent University: http://geoweb.ugent.be/projects/614af09dd397c8051012ae9a; aufgerufen am 29.09.2022

[2] United Nations High Commissioner for Refugees USA: https://www.unrefugees.org/news/ethiopia-s-tigray-refugee-crisis-explained/; aufgerufen am 29.09.2022

[3] Amnesty International: “I don’t know if they realized I was a person”: Rape and sexual violence in the conflict in Tigray, Ethiopia”, 2021: https://www.amnesty.org/en/documents/afr25/4569/2021/en/; S. 5ff

[4] Amnesty International: "Ethiopia: Summary killings, rape and looting by Tigrayan forces in Amhara"; 2022: https://www.amnesty.de/sites/default/files/2022-02/Amnesty-Bericht-Aethiopien-Amhara-TPLF-Kaempfer-Gewalt-gegen-Zivilbevoelkerung-Februar-2022.pdf; S. 14ff

[5] ZARTbitter Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt: https://www.zartbitter-muenster.de/informationen/sexualisierte-gewalt/begriffsdefinition; aufgerufen am 29.09.2022

[6] Amnesty International: “I don’t know if they realized I was a person”: Rape and sexual violence in the conflict in Tigray, Ethiopia”, 2021: https://www.amnesty.org/en/documents/afr25/4569/2021/en/; S. 13

[7] Amnesty International: “I don’t know if they realized I was a person”: Rape and sexual violence in the conflict in Tigray, Ethiopia”, 2021: https://www.amnesty.org/en/documents/afr25/4569/2021/en/; S. 17f

[8] Amnesty International, Human Rights Watch: “We will erase you from this land”: Crimes against humanity and ethnic cleansing in Ethiopia’s Western Tigray Zone”; 2022: https://www.amnesty.org/en/documents/afr25/5444/2022/en/

[9] Amnesty International: “I don’t know if they realized I was a person”: Rape and sexual violence in the conflict in Tigray, Ethiopia”, 2021: https://www.amnesty.org/en/documents/afr25/4569/2021/en/; S. 16f

[11] Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, Art. 8 (1998): https://www.un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html