Rot-grüne Mehrheit in Niedersachsen – Bundespolitik unter Druck

Kurzanalyse

Die derzeit nationalen Herausforderungen wie die Fragen der steigenden Inflation, der Energiegewinnung und Versorgungssicherheit beeinflussten stark den Wahlkampf in Niedersachsen und die Wahlentscheidungen der Wähler:innen. Die Antwort auf die gestiegene Sehnsucht nach Sicherheit und Antworten auf Ängsten wird nicht in der Fortsetzung der rot-schwarzen Koalition gesehen. Vielmehr haben die Wähler:innen in Niedersachsen nun auch die letzte große Koalition auf Landesebene abgewählt. Wahrscheinlich wird eine rot-grüne Regierungsbildung. Die gesendeten Signale in Richtung Bundespolitik für eine bessere Handlungsperformanz sind eindeutig. Gleichzeitig fallen die Signale an die einzelnen Parteien sowohl in Regierungsverantwortung als auch in Richtung Opposition äußerst unterschiedlich aus, sodass mit Implikationen aus der Landtagswahl für die Bundespolitik zu rechnen ist.

Grafik Wahlurne: Landtagswahl in Niedersachsen 2022

Amtsinhaberbonus in Krisenzeiten, wenn mit der Person Handlungs- und Entscheidungskompetenz verbunden werden. Insbesondere in einer Zeit multipler Krisen, die mit Ängsten und Unsicherheiten verknüpft sind, honorieren Wähler:innen Handlungskompetenz und Ausstrahlung als politische Gestaltungskraft – so kann Stephan Weil aufgrund des Zutrauens in seine Person seinen Amtsinhaberbonus voll ausschöpfen und für die SPD trotz Verlusten (-3,5 Prozentpunkte) den Wahlsieg bei dieser Landtagswahl holen. Besonders stützen kann sich die SPD auf den Zuspruch in der Generation Ü60 und Senior:innen.

Die Grünen erreichen in Niedersachsen mit 14,5 Prozent ihr bestes Ergebnis. Mit einem Zugewinn von +5,8 Prozentpunkten verzeichnen sie unter allen Parteien den größten Anstieg an Stimmanteilen und gehen damit seit ihrer Regierungsbeteiligung im Bund aus der dritten Landtagswahl in Folge gestärkt hervor. Dennoch bleiben sie mit diesem Ergebnis hinter den Erwartungen zurück. Mit ihren Themen und Lösungsansätzen können sie in Niedersachsen punkten und werden voraussichtlich Verantwortung in der neuen Landesregierung übernehmen. Erstmals gelingt es ihnen, drei Direktmandate in den Wahlkreisen Göttingen-Stadt, Hannover-Mitte und Lüneburg zu gewinnen – und damit ihre Stärke an Universitätsstandorten auch in Niedersachsen auszuspielen. Zuwächse in allen Wahlkreisen sind insbesondere in einem Bundesland mit vielen eher ländlich geprägten Landkreisen für die Grünen ein besonderes Ergebnis. Der Zuwachs an Wähler:innen beruht auf gestiegenen Anteilen in allen Altersgruppen. Besonders deutlich ist der Rückhalt in der Gruppe der Jung- und Erstwähler:innen, hier sind sie stärkste Kraft. Wirksamkeit hinsichtlich der Stimmenkraft können insbesondere die Zugewinne in der Generation Ü60 enthalten, die in Niedersachsen gute 38 Prozent der Wahlberechtigten ausmacht.

Die CDU unter ihrem Spitzenkandidaten Bernd Althusmann überzeugt die Wähler:innen nicht und fuhr mit 28,1 Prozent das schlechteste Wahlergebnis seit Jahrzehnten in Niedersachsen ein. Sie verlor in allen Wahlkreisen Wählerstimmen. Programmatisch schien die CDU weniger zu überzeugen und auch ihre Strategie, in den letzten Wochen vor den Wahlen einen Wahlkampf gegen die Bundesregierung zu betreiben und von der in Kritik stehenden Performanz der Bundesregierung profitieren zu wollen, schien wenig zu greifen. Althusmann zog daraus bereits Konsequenzen und gab seinen Rücktritt als CDU-Landeschef bekannt.

Ergebnisscala Landtagswahl Niedersachsen 2022
Grafik: Erstellt von Heinrich-Böll-Stiftung / Datenbasis beruht auf Angaben der Niedersächsischen Landeswahlleiterin.

Für die Liberalen bedeutet das Ergebnis eine bittere Niederlage. Sie ziehen nicht wieder in den Landtag ein und erfahren damit seit Regierungsbeteiligung im Bund die vierte Niederlage bei Landtagswahlen in Folge. Mit dem Verlust der liberalen Kraft werden im niedersächsischen Landesparlament nur noch vier Parteien vertreten sein. Der CDU wird hier eine besondere Verantwortung in ihrer wahrscheinlichen zukünftigen Oppositionsrolle im niedersächsischen Landesparlament zu kommen. Die AfD in Niedersachsen profitiert von Ängsten und Unzufriedenheit mit der Politik auf Bundesebene. Der starke Zuwachs um 4,7 Prozentpunkte belegt erneut, dass die AfD von Krisensituationen profitiert – ohne dass sie mit einer klaren Kompetenz antreten muss und unabhängig davon, wie zerstritten das politische Personal im Landesverband oder in der Fraktion ist. Denn mit 71 Prozent ist der Anteil der AfD-Wähler:innen besonders hoch, die ihre Wahlentscheidung als Protestzeichen gegen politischen Kurs auf Bundesebene bezeichnen. Ökonomische Sorgen sind unter den AfD-Wähler:innen besonders groß. Zulauf erhielt sie insbesondere von ehemaligen CDU-Wähler:innen; das Abwandern ehemaliger FDP-Wähler:innen hin zur AfD trägt nachhaltig zu den veränderten Kräfteverhältnissen im Landtag bei. Auswirkungen auf das bundespolitische Handeln in Ampelkoalition und im Bundesrat. Bedingt durch die anders gerichteten Ergebnisse für die einzelnen Parteien der Ampelkoalition auf Landesebene wird der Druck zwischen den Partner:innen zunehmen, aber auch die Union als führende Opposition im Bundestag steht nach dieser Wahl verstärkt unter Druck. In Folge eines ausdifferenzierten Parteiensystems bleibt schlichtweg das Kernproblem bestehen, wie die Parteien einer veränderten Koalitionsarithmetik gerecht werden und so politische Entscheidungen gemeinsam austarieren können, dass Kompromisslösungen nicht per se als Schwächen des eigenen Profils gedeutet werden. Dieser Kurs bleibt herausfordernd; gleichzeitig besteht die enorme Verantwortung, durch die derzeitige Krise mit einer politisch stabilen Regierung und einer verantwortungsvollen Opposition Entscheidungen zu treffen und handlungsfähig zu bleiben. Auch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat werden sich verändern. Die Grünen werden voraussichtlich in zwölf von sechszehn Landesregierungen in vielfältigen Koalitionsmodellen mitregieren. Diese Vielfalt bleibt nicht ohne Konsequenzen auf Aushandlungskraft von Kompromissen zwischen Bund und Ländern. Das Denken und der Koordinationsaufwand in ebenenübergreifender Perspektive werden innerparteilich relevanter denn je, wenn die Parteien den Weg durch die Krisen und hin zur Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik beschreiten wollen. Geringe Wahlbeteiligung sollte auch zu mehr Aufmerksamkeit in der Arbeit der politischen Bildung führen. Auch bei dieser Landtagswahl liegt eine vergleichsweise geringe Wahlbeteiligung von nur 60,3 Prozent vor; nur im Jahr 2008 war sie in Niedersachsen noch niedriger. Selbstredend werden sich Parteien die Fragen stellen, wie sie stärker mobilisieren können. Gleichzeitig braucht es zusätzlich Impulse aus angewandter Forschung über Hintergründe und Mechanismen dieser Entwicklungen, die auch eine Übersetzung in politische Bildungsarbeit bedürfen.

Eine weiterführende Analyse folgt wie gewohnt in einem Böll-Brief.

Quellen: Bundeswahlleiter (2022): Wahl zum 20. Deutschen Bundestag am 26. September 2021, Heft 4: Wahlbeteiligung und Stimmabgabe nach Geschlecht und Altersgruppen. Forschungsgruppe Wahlen (2022). Die Zahlen basieren auf einer telefonischen Befragung der Forschungsgruppe Wahlen unter 1.520 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten in Niedersachsen in der Woche vor der Wahl sowie auf der Befragung von 18.794 Wähler:innen am Wahltag.