Autonomie im Kollektiv?

Essay

Wie und wofür wollen wir gemeinsam arbeiten? Dieser zentralen Frage künstlerischen Schaffens geht die Theaterwissenschaftlerin Anna Volkland nach, indem sie den Begriff der "Dritten Sache" aus dem Theater vor der Wende in Westdeutschland und der DDR betrachtet und einen Blick ins Heute wirft.

Foto eines Zitats von Kon
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I.S. Kon: Soziologie der Persönlichkeit, Berlin [Ost] 1971, [ohne Seitengabe, im Original veröffentlicht 1967 in Moskau], zitiert nach/abfotografiert aus: Thomas Wieck/ Verband der Theaterschaffenden der DDR (Hg.): Material zum Theater: Zum Verhältnis von Leiter und Kollektiv im Prozess der Ensemblebildung. Eine Materialsammlung, Berlin [Ost] 1974, S. 21.

Die „dritte Sache“ aus der Mottenkiste des weltveränderungswilligen Theaterschaffens holen

Nehmen wir an, „Nullen“ sind Menschen, die sich sehr gut autoritär organisieren, also befehligen lassen – denn sie haben keine eigene Agenda außer der, möglichst gut zu funktionieren und nicht in Konflikte zu geraten. Entsprechend sollten Theaterschaffende kaum „Nullen“ sein, heißt es doch, dass sie den produktiven Konflikt liebten, die leidenschaftliche Diskussion, das herausfordernde künstlerische Experiment. Nehmen wir also an, es handelt sich bei Theaterschaffenden um sogenannte Persönlichkeiten: Wie sind sie zu organisieren? Wie finden sie sich zusammen in einem Kollektiv, einem Ensemble, einer Gruppe und wie darin zurecht? Hilft die alte, zum Beispiel von Bertolt Brecht im Revolutionsstück Die Mutter (1932) erwähnte „dritte Sache“ hier weiter? Diese „dritte Sache“ beschreibt die Mutter im Text, der in der zaristischen Vorrevolutionszeit zwischen 1905 und 1917 in Russland angesiedelt ist, als das Verbindende zwischen sich und ihrem Sohn, weil es das Verbindende zwischen vielen Menschen sei, die an die „gute Sache“ – hier: die revolutionäre kommunistische Idee – glauben. Im Lied „Lob der dritten Sache“ singt die Mutter über ihr Verhältnis zum Sohn: „Wieviel besser war doch unser Gespräch über die dritte Sache, die uns gemeinsam war, vieler Menschen gemeinsame gute Sache! Wie nahe waren wir uns, dieser guten Sache nahe!“

Der Glauben an diese oder eine gemeinsame gute Sache hat inzwischen stark gelitten. Aber es gibt eine Geschichte dieser „dritten Sache“ im staatlich finanzierten Ensemble-Theater der früheren BRD (vor allem in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren) und in der DDR bis zu ihrem Ende, die eng mit Fragen der (politischen) Motivation und – das ist der heute besonders interessante Aspekt – entsprechenden (demokratischen) Organisationsweisen des gemeinsamen Arbeitens im Theater verknüpft ist. Die heute angesichts von Machtmissbrauchsfällen und hochprekären dauerhaft stark belastenden Arbeitsbedingungen im Theaterbetrieb immer wieder dringlich gestellte Frage danach, wie wir arbeiten wollen[1],war einmal eng verbunden mit der Frage, warum und wofür und für wen? hier gearbeitet werden soll. Die frühere „dritte Sache“ war die idealistische Antwort. Sie definierte Erfolg als zu suchenden kollektiven Fortschritt für Theaterschaffende, Publikum und „die Gesellschaft“ und meinte – grob verkürzt zusammengefasst – den Glauben an die radikale Veränderbarkeit der persönlichen, lokalen wie globalen Machtverhältnisse zugunsten der fast oder vollkommen Besitz- und Rechtelosen.

Der politische Auftrag der Institution Stadttheater

Schon bevor „die Welt“ verändert und verbessert werden könnte – durch Theaterschaffende sowieso immer nur auf vermitteltem Wege –, müsste im eigenen kleinen Wirkungskreis, d.h. am eigenen Arbeitsort Theater mit den Veränderungen und Verbesserungen, der Kritik, Reformierung oder Revolutionierung begonnen werden. Diese Analyse wurde v.a. 1968/69ff in der BRD immer wieder öffentlich formuliert und führte etwa zu verschiedenen Versuchen, eine an gegenwärtigen politischen Kämpfen interessierte Theaterarbeit in (betrieblicher und künstlerischer) Mitbestimmung zu gestalten – nicht nur an der Westberliner Schaubühne am Halleschen Ufer oder bis 1980 am Schauspiel Frankfurt. Und auch im Theater der DDR wurde der Zusammenhang zwischen Arbeitsweise, institutioneller Struktur, Wirkung und Weltveränderungsanspruch früh erkannt; bereits 1948 (in der damaligen Ostzone) betonte etwa Regisseur und Intendant Walter Felsenstein die Notwendigkeit, auch die Darsteller*innen als „Träger der Gestaltung“ (der Inszenierung) von Anfang an ernsthaft in die künstlerische Konzeptionierung einzubeziehen und zu fördern, dass alle Theatermitarbeiter*innen „an sämtlichen Interessen des Betriebs unmittelbar beteiligt“ seien.[2]

Warum einige Theaterschaffende überhaupt derartige Ansprüche an ihre Arbeit stell(t)en und sie öffentliche Theater – entgegen des Vorwurfs, es handele sich hier um elitäre bildungsbürgerliche Stätten der unkritischen Freizeitgestaltung – als kämpferische, emanzipatorische, widerständige Orte, die für eine zu entwickelnde Gesellschaft modellhaft wirken könnten, begreifen bzw. begriffen haben, muss an anderer Stelle und besonders mit Blick auf die nach 1945 in den Ost- und Westzonen Deutschlands mit großen Hoffnungen auf (Re-)Demokratisierung und (Re-)Humanisierung verknüpfte Kulturpolitik dargestellt werden. In der Gegenwart hat die Emphase des eigenen kämpferischen Anspruchs als Kunst-, Kultur-, Theaterschaffende*r zwar deutlich abgenommen, aber schon allein aufgrund der Notwendigkeit, die eigene Relevanz als Kulturinstitution im Sinne der öffentlichen Finanzierung zu verteidigen, ist sie im öffentlichen Diskurs um „das Stadttheater“ nie ganz verschwunden.

Besonders wichtig ist hier nach wie vor die Idee der Demokratie oder demokratischen Praxis, von der immer wieder angenommen wird, dass sie besonders im Theater ihren Platz findet, jedenfalls finden sollte. Der Begriff ‚demokratisch’ bedeutet dabei sehr vieles – oder aber, mit Blick auf diese Weitgefasstheit, sehr wenig. Er konnte um 1968/69 etwa den demokratischen Zentralismus der DDR meinen, der „das Volk“ – inklusive der Künstler*innen als Werktätige – von den Leitungsebenen herab als beständig vollauf mitverantwortlich für den Fortschritt der sozialistischen Gesellschaft ansprach, oder auch die experimentell egalitär operierende Kollektivgruppe der BRD, die demokratische Mitverantwortung und Mitbestimmung – auch im Inszenierungsprozess – durch die konsequente Abschaffung von Hierarchien und dauerhaften Leitungsfiguren (Regisseuren, Intendanten) einzuüben versuchte. Es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, dass bereits diese Versuche einer inneren Demokratisierung der Theater als die verbindende und motivierende „dritte Sache“ anzusehen sind, allerdings nur, weil der Begriff ‚demokratisch’ noch zu ungenau ist.

Protest im Theater Odeon in Paris 1968
Revolutionäres Theater? Schon im April 1968 hatten in THEATER HEUTE junge westdeutsche Schauspieler*innen nach dem "autoritäten Geist des deutschen Theaters" gefragt - im Mai besetzten Studierende in Paris gleich das gesamte Odéon Théâtre.

Kollektiv zur Abschaffung des Kapitalismus anregen

Das gemeinsame Projekt der sich als politisch links, progressiv, antiautoritär – und hierhin ihrer Ansicht nach konsequent demokratisch – verstehenden Theaterschaffenden der BRD um 1968, der Anlass und das Ziel des Theatermachens auf eine neue Art nannte sich für einige damals: „die Veränderung der Welt, in der wir leben“[3]. So skizzierte es 1970 der frisch gebackene Kollektivtheaterleiter Peter Stein in einer Pressekonferenz in der neuen Schaubühne am Halleschen Ufer in Westberlin, mit sich rückversicherndem Blick zu den vielen Genoss*innen, die dicht gedrängt dabei saßen. Die Richtung der Veränderung wurde anfangs auch deutlich benannt: Die Schaubühne eröffnete mit der Kollektiv-Inszenierung (Regie: Schwiedrzik, Steckel, Stein) des oben erwähnten Brecht-Stücks Die Mutter, Dramaturg Volker Canaris erläuterte im gedruckten Regiebuch ganz direkt, welche Absichten man mit der Inszenierung als Lehrstück verfolge. Durch den Vergleich „der kapitalistischen Produktionsverhältnisse von Rußland 1905 und Westdeutschland 1970“ werde angeregt, „über eine vergleichbare Veränderung dieser Verhältnisse (die Abschaffung des Kapitalismus) nachzudenken“, das Bühnenrequisit „rote Fahne“ habe daher „die leuchtende Direktheit eines kämpferischen Fanals“.[4] Das nur als Andeutung. Noch Jahrzehnte später, im 2013 erschienenen Dokumentarfilm von Andreas Lewin erinnerte sich die langjährige Schaubühnen-Ausstatterin Susanne Raschig: „Das Interesse lag immer sehr auf der dritten Sache, in jedem Fall sehr wenig auf dem Privaten.“[5] 

Es kann hier nicht weiter vertieft werden, inwieweit damit ein Missverständnis der Idee der „dritten Sache“ vorlag und es zu den Problemen Peter Steins gehörte der schließlich doch als führender Kopf der mitbestimmten Schaubühne galt übersehen zu haben, dass gerade das sogenannte Private politisch ist. Mit Sicherheit fehlte ihm und auch anderen linken, kollektive Arbeit erprobenden Theaterschaffenden der BRD Anfang der 1970er Jahre eine selbstkritische Reflektion der eigenen – vorsichtig formuliert – u.a. Frauen benachteiligenden Arbeitshaltung. Was etwa „Care-Arbeit“ war und wer sie zu welchem Preis verrichtete, wurde nicht bedacht. Das Ziel einer radikaldemokratischen Revolutionierung der Theaterstrukturen war ein damals mit großen politischen Hoffnungen beladenes systemkritisches Projekt, das den weitgehenden Verzicht auf ein Leben jenseits der dieser „dritten Sache“ gewidmeten Theaterarbeit verlangte, die die klassische arbeitsteilige Inszenierungsarbeit und vor allem Arbeitszeit weit überschritt. Und erschöpfte.

Gemeinsam den Fortschritt des Sozialismus vorantreiben

In der DDR dagegen war die „dritte Sache“ – jedenfalls die Rede von ihr – quasi systemimmanent. Das gemeinsame Projekt bzw. der offizielle Auftrag lautete hier, effizient und mit langem Atem den Fortschritt des Sozialismus’ zu unterstützen, also selbstverständlich auch und besonders für die Kunst- und Kulturschaffenden, die Theaterleute. Unter der Überschrift „Theater, das der größten Sache dient“ wurde etwa 1980 auf dem IV. Kongreß des Theaterverbands der DDR wieder einmal erinnert: „Unser Theater hat eine weit in die Geschichte reichende revolutionäre Tradition, und wir sind geübt darin, in den Kämpfen der Zeit unseren Beitrag zu leisten an der Seite und zum Nutzen der Arbeiterklasse und unserer Partei. [...]“ Die Ziele bzw. Wirkungen der sozialistischen Theaterarbeit wurden hier (und an vielen anderen Stellen) konkret benannt: etwa die „Vertiefung des Verständnisses der großen Geschichtsprozesse“, die „Veredlung des Sinns für Schönheit“, aber auch die „Stärkung des Selbstvertrauens, des Vertrauens in die schöpferischen Kräfte des Menschen“... Freude, Späße und Genuss wurden dem 80-jährigen hier zitierten kommunistischen Theatermann Wolfgang Heinz 1980 dann zum „Hohelied auf die Schöpferkraft des Menschen“.[6] Die religiös gefärbte Sprache deutet an, dass es natürlich um Glaubensfragen ging – außer Frage stand allerdings, dass damit der Glauben an den Wunsch der Menschen nach einem guten, besseren Leben für alle gemeint war, und zwar in Frieden. Dessen Bedrohung – angesichts des Kalten Krieges und vorhandener Atomwaffen – trieb die Theaterschaffenden immer wieder an, wie etwa der Schauspieler Jochen Thomas – direkt nach einer Redakteurskolumne, die sich der Aktualität der „dritten Sache“ widmete – im April 1986 betonte:

„Ich habe im II. Weltkrieg die Bombenteppiche selbst erlebt. Damals habe ich gebetet und geschworen, alles zu tun, daß sich das nicht wiederholt. [...]. Wir müssen unsere Möglichkeiten noch besser nutzen, Menschen wach zu halten, Mut zu machen, [...] schöpferische Unruhe zu vermitteln – ich bin sicher, daß damit ‚Rückkopplungen‘ erleichtert werden.“[7]

Das nur als zwei von sehr vielen möglichen Beispielen für die Narrative der existentiellen Dringlichkeit, die Theaterarbeit in der DDR jahrzehntelang begleiteten. Über die tatsächliche damalige Praxis der Theater- und Ensemblearbeit, die besonders Ende der 1980er immer wieder als erstarrt kritisiert wurde[8], ist damit natürlich noch nichts gesagt.

 

Friedrichstadtpalast bei Nacht
Bot schon zu DDR-Zeiten ein glamouröses Unterhaltungsprogramm: der Friedrichstadtpalast in Berlin. 2019 fragte hier René Pollesch nach dem „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“.

Verlust des revolutionären Glaubens und Theaterarbeit als Servicejob

In der BRD setzte die Rede vom Scheitern der sogenannten Mitbestimmungsmodelle, die ein radikaldemokratisches, solidarisches und politisch engagiertes Theaterschaffen ermöglichen sollten, schon zu Beginn der 1970er Jahre ein. Von Claus Peymann, damals ein junger aufstrebender, selbst wenig an künstlerischer Mitbestimmung interessierter Regisseur, hat sich bis heute die Behauptung erhalten, dass man etwa am von 1972 bis 1980 nach einem offiziellen Mitbestimmungsstatut und mit Dreierdirektorium organisierten Schauspiel Frankfurt gesehen habe, dass Kunst und Demokratie nicht zusammengingen – dass wahre Theaterkunst den Regiediktator brauche.[9] Aber ist Ende der 1970er tatsächlich eine egalitäre Produktionsweise an sich selbst gescheitert oder zuerst der Glauben an die Möglichkeit (und Einsicht in die Notwendigkeit) radikal anderer, nicht kapitalistisch geprägter gesellschaftlicher Verhältnisse?

Organisationsideen, die auf der Gleichberechtigung aller Mitglieder beruhen, anstatt auf letzten Endes – etwa durch eine (Regie-)Genieidee nur verschleierten – ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen und asymmetrischen Machtbeziehungen, sind an Produktionsverhältnisse geknüpft, in denen Theaterschaffende nicht als konkurrierende Lohnabhängige agieren (müssen). Das fiel vor allem in der Nachwendezeit den mit einem Systembruch konfrontierten ostdeutschen Theaterschaffenden noch deutlich auf.

Die Ostberliner Schauspielerin Cornelia Schmaus äußerte das Folgende 1994 nach zwei Spielzeiten im neuen Engagement am Schauspiel Frankfurt:

„Ich persönlich bin nicht mehr gewillt, mich auf ein Theater einzulassen, das keine Absichten mehr verfolgt, außer Publikum zu ködern, und auf Beliebigkeiten und Kunstgewerbe setzt. Man muß dagegen andenken. Hart denken. Nicht irgendwie, so ein bißchen, ungefähr, halbgebildet... [...] Wenn wir uns nicht gewaltig anstrengen, haben wir es verdient, daß wir als Theaterleute und daß die Theater keine Rolle mehr spielen. Wenn wir uns nur noch verkonsumieren lassen, so, wie man essen geht. Diese Aufgabe erfüllt zur Zeit das Theater in der Bundesrepublik. Man trifft sich, unterhält sich, trinkt anschließend ein Glas Sekt, was mindestens ebenso wichtig ist, wie das, was man zuvor auf der Bühne gesehen hat... Auf diese Ebene will ich mich nicht mehr einlassen. Dazu ist der Weltzustand zu gefährdet, dazu gibt es zu viele gewaltige Probleme. [...].“[10]

„Theater muss sein“, erklärte später der Deutsche Bühnenverein.[11] Die Legitimationsdebatten brandeten immer wieder auf, und bevor die Weltveränderung kritisch vorangetrieben werden konnte, musste die Theaterlandschaft selbst gerettet werden... Häuser wurden fusioniert oder geschlossen oder in GmbHs umgewandelt.

Auch im Theater sind Arbeitsbeziehungen politisch

Das Interview mit Schmaus, das in der nun gesamtdeutschen Fachzeitschrift Theater der Zeit abgedruckt wurde, folgte auf einen ersten Text der Schauspielerin von 1992: „Theaterarbeit zwischen Ost und West“. Damals ging es auch um Unterschiede in den Arbeitsbeziehungen –auch das sind Theaterorganisationsfragen, die am Ende Sinnfragen, politische Fragen sind: In welchem (Macht-)Verhältnis stehen Schauspieler*innen und Regisseur*in im Inszenierungsprozess? Damals äußerte Schmaus etwas, das als selbstbewusste Position sozialistisch sozialisierter Schauspieler*innen verstanden werden kann:

„Man kann es sicher nicht generalisieren, aber ich finde, daß die Schauspieler aus dem Westen ‚regisseursgläubiger’ sind als die Schauspieler, die aus dem ehemaligen Osten kommen. [...] wenn man versucht, das Problem zu verallgemeinern, ist zu beobachten, daß eine größere Selbstverständlichkeit bei uns da war, den Regisseur als einen Partner unter anderen zu verstehen.“[12]

1994 wieder danach gefragt, bestätigt Schmaus ihre These:

„Mit ‚Regisseursgläubigkeit’ meine ich, daß kaum etwas hinterfragt wird. Man wird besetzt und man stellt sich zur Verfügung. [...] Wenn ich das Problem bewußt vergröbere, läuft es darauf hinaus, daß der Regisseur gefragt wird: ‚Was wünschen Sie, was ich jetzt mache?’Man diskutiert nicht [...].“[13]

Eine andere ostdeutsche Schauspielerin beschreibt es noch drastischer. Nadja Engel ist im Oktober 1990, als sie interviewt wird, seit 5 Jahren diplomierte und festangestellte Schauspielerin, 25 Jahre alt.

„Ich hatte Gespräche mit Regisseuren aus dem Westen. Sie wollen wissen: Alter, Größe, bisherige Rollen. Als ich auf die gewohnte Art gesagt habe, wenn ich in Frage komme, möchte ich das Drehbuch lesen, gab’s großes Befremden. Ich will doch auch entscheiden. Für sie scheint klar zu sein: Wenn sie uns nehmen, nehmen wir sie auch.

Das hat mich verwirrt. Ich bin nicht in Frage gekommen. Sogar dem Chef die Meinung zu sagen – was noch vor einem Jahr als mutig galt, wofür ja viele auf die Straße gegangen sind – gilt jetzt als unanständig. [...] Bald wird es als tollkühn gelten und gefährlich sein.“[14]

Fragen nach der Organisation von Theater- bzw. Filmarbeit und den Beziehungen, die etwa Schauspieler*innen und Regisseure oder Regisseur*innen hier eingehen, nach den Hierarchien und Machtverhältnissen, adressieren generelle Fragen von Arbeits- und Besitzverhältnissen. Wer muss sich anbieten, wer darf aussuchen und Kapital verteilen? Wer (be)nutzt wen wofür?

Machtverhältnisse im Stadttheaterbetrieb ohne (selbst)kritische Programmatik

Im Theater gibt es ein spezielles Verhältnis zur Unterordnung, besonders unter Schauspieler*innen, die sich in der paradoxen Situation befinden, qua Vertrag weisungsgebundene Angestellte zu sein, die eine Spielverpflichtung eingehen und von der Regieposition sowie der Intendanz in vielerlei Hinsicht abhängig sind, die sich gleichzeitig aber als künstlerischer und freier Mensch empfinden sollen, mit spontanen Impulsen und der Fähigkeit zur ernsthaften Auseinandersetzung oder sogar Identifikation mit allem, was ihnen an Stoff und Rollen angetragen wird.

Tatsächlich betrifft dieses Problem auch die anderen Berufsgruppen im Stadttheater – die Dramaturg*innen, Bühnenbildner*innen, Techniker*innen, Schneider*innen, Regisseur*innen usw.. Die Spannung zwischen der Erwartung einer gewissen (künstlerischen) Autonomie und dem faktischen „Liefernmüssen“ ist dem von der Notwendigkeit zur termingerechten Kollaboration geprägten ‚Theater-Apparat’ eigen – jede Abteilung oder Künstler*in hat hierin aber einen unterschiedlich großen Spielraum (oder „Druck“). Selbst die Intendanz wähnt sich unfrei in ihren Entscheidungen. Allerdings darf sie alle ihre Wünsche äußern, gemeinsame Ziele vorgeben, Anweisungen erteilen und nicht gewünschtes Verhalten auf verschiedene legale Weisen bestrafen: etwa durch Nichtbesetzung, unangenehme Rollen- und Projektzuteilung, Nichtgewährung von Pausen und Urlaub, schlechte Bezahlung, Vertragsnichtverlängerung... – es herrscht kein Mangel an alternativ einsetzbaren, sehr fähigen Künstler*innen und Mitarbeiter*innen. (Die Freiheit der Intendanz wird dagegen v.a. eingeschränkt durch die Höhe der finanziellen Mittel, die die Politiker*innen dem Theater gewähren.) Die Regie hat, sofern sie von der Intendanz bestärkt und geschützt wird, einen vergleichbar großen Handlungsspielraum – hier geht es hauptsächlich um die Gewährung oder Versagung von künstlerischer und persönlicher Anerkennung gegenüber den unittelbar an der Inszenierungsarbeit Beteiligten, die ebenso existentiell sein kann wie die Gewährung oder Versagung von ausreichender Bezahlung.

Das sind nur sehr grob skizzierte Beispiele für Abhängigkeitsverhältnisse und Machtasymmetrien eines gegenwärtigen Theaterbetriebs, der sich keiner anderen Sache als dem Produzieren von Inszenierungen verschrieben hat. Den Hierarchien wird hier ein künstlerisch-funktionales Narrativ zugeschrieben: Es braucht die eine hauptverantwortliche Entscheidungsposition, die eine künstlerische Vision und Begabung, die alle anderen anleitet und verführt, einlädt und mitnimmt – und die notfalls im Sinne der gemeinsamen Sache, die hier aber die erfolgreiche Premiere meint, auch harte Ansagen machen und „zur Mitarbeit Unfähige“ ausschließen muss. Dieses Narrativ blendet aus, dass Fähigkeit und Unfähigkeit, Motiviertheit oder Gehemmtheit keine feststehenden Eigenschaften einer Person sind, sondern Ausdrucks- und Handlungsmöglichkeiten, die permanent durch die sozialen Beziehungen und materiellen Bedingungen bei allen Beteiligten abgerufen oder blockiert werden können. Es braucht (dauerhaftes) Training und Möglichkeiten für alle, wirklich etwas auszuprobieren – etwa, den eigenen pragmatischen Konformismus ein Stück weit in Frage zu stellen. Die alleinige Konzentration aller Bemühungen auf die termingerechte Fertigstellung des ‚Produkts’ Premiere nimmt dagegen an, dass für das Publikum nicht erkennbar wäre, unter welchen Umständen eine Inszenierung entstanden ist und dass der Arbeitsprozess für die künstlerische Qualität keine Rolle spiele.

Zum Anderen bleibt ohne geteiltes gemeinsames Anliegen und geteilte gemeinsame Handlungsmacht (um dieses Anliegen auch tatsächlich gemeinsam formulieren und verfolgen zu können) die Frage nach der Verantwortlichkeit für eine Inszenierung oder das Programm eines Theaters: Was bedeutet es, sie immer an eine höhere Instanz oder „die Anderen“ – die Kolleg*innen, die anderen Abteilungen, an „Sachzwänge“ und die vermeintlichen Publikumswünsche –  abtreten zu wollen?

Szenenfoto "Die Welt ohne uns"
Lieber gleich aufgeben? Das Botanische Langzeittheaterprojekt "Die Welt ohne uns" vom Berliner Produktionskollektiv lunatiks produktion in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover und Pflanzen fragte ab 2010 nach dem Abtreten der Menschheit. Foto: Karl-Bernd Karwasz.

Ändere die Welt, du brauchst es!

Eine „dritte Sache“ ist keine ‚von oben’ vorgegebene Idee, kein göttlicher Auftrag, sicher keine transhumanistische agency, auch keine Parteiparole oder motivierende Firmenphilosophie. Als Minimaldefinition für die heutige Theaterarbeit meint sie immer noch den Grund der eigenen Arbeit: für sich selbst und Andere (nicht zuletzt das Publikum) die Hoffnung aufrechtzuerhalten, dass es heute vermeidbar ist, hier und dort, jetzt und übermorgen gewaltsame menschliche und planetarische Beschädigungen und Untergänge passieren zu lassen. Wir wissen heute, dass wir weder im Theater noch anderswo die einmalige große knallende Revolution vorbereiten. Aber Theaterhäuser, in denen Menschen langfristig für ihre gemeinsame, theoretisch von sämtlichen Profitzwecken freie Arbeit bezahlt werden, können modellhaft funktionieren: Statt hier Beherrschtwerden, Ausbeutung und Verwertung kollektiv zu tolerieren, kann – um mit der Philosophin Eva von Redecker zu sprechen – alles Mögliche solidarisch gepflegt, regeneriert und Teilhabe (an Entscheidungen, an Eigentum etc.) geübt werden[15], öffentlich und backstage. Jede Spielplanentscheidung müsste sich zuerst daran messen lassen, ob sie in diesem Sinne eine „Revolution für das Leben“ voranbringt, wobei nur die irren, die dabei keine Fehler erlauben wollen. Offen bleibt, wie die Kunst aussieht, die nicht auf Gehorsam und Perfektion setzt – autonom ist sie sicher.

Der Text basiert auf einem etwa einstündigen Vortrag mit anschließender Diskussion als Auftakt der von Alexander Karschnia kuratierten Diskursreihe „Die Vierte Sache“ im Roten Salon der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin: „Autonomie im Kollektiv?“ am 15.10.2022.


[1] Siehe etwa die Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft im Januar 2014 zum Thema: "Leben, Kunst und Produktion. Wie wollen wir arbeiten?“.

[2] Walter Felsenstein (aus seiner Rede an die Ostzonen-Intendanten in Berlin 1948) zitiert nach: Material zum Theater 1974, S. 73f.

[3] Siehe etwa Dokumententarfilm von Andreas Lewin: „LONTANO. Die Schaubühne von Peter Stein“, 2013; O-Ton Peter Stein (1970) im Trailer bei Minute 0:27 bis 0:43.

[4] Volker Canaris: „Bertolt Brechts ‚Mutter’ an der Schaubühne – ein Lehrstück“, in: ders. (Hg.): Die Mutter. Regiebuch zur Schaubühnen-Inszenierung, Frankfurt a.M. 1971, S. 104f.

[5] Zitiert nach dem Dokumentarfilm von Andreas Lewin; O-Ton Susanne Raschig (um 2012) im Trailer bei Minute 1:42 bis 1:48.

[6] Alle Zitate aus Wolfgang Heinz: „Theater, das der größten Sache dient. Aus dem Referat auf dem IV. Kongreß des Theaterverbands“, in: Theater der Zeit, August 1980, S. 4-10, hier S. 4.

[7] Jochen Thomas zitiert nach „Mut zum Möglichen! Mit dem Schauspieler Jochen Thomas sprach Lilo Millis“, in: Theater der Zeit, April 1986, S. 12-15, hier S. 15.

[8] Siehe etwa: Karl Schneider: „Das Ensemble - ein Kollektiv ausgeprägter Persönlichkeiten. Ein Beitrag zur Diskussion des Entwurfs einer ‚Perspektivkonzeption zur Entwicklung der Theaterkunst in der DDR’“, in: Theater der Zeit, Februar 1989, S. 10-12 u. 64, hier S. 12.

[9] Siehe etwa Claus Peymann im Gespräch mit André Müller: „’Ich bin ein Sonntagskind.’ [...] Ein Disput über [...] die Schauspieler und die Frauen. Über den Terror auf den Proben und den Traum vom Glück. [...]“, in: DIE ZEIT, Heft 22/1988, 27. Mai 1988, und mit Wolfgang Höbel: „’[...] Ich bin aufgeklärter Monarch’. Zur neuen Theatersaison fordern Schauspieler Mitbestimmung an Stadt- und Staatstheatern. Hier erklärt Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, warum er das für Quatsch hält.“, in: SPIEGEL ONLINE, 14.09.2016.

[10] Cornelia Schmaus: „Theaterarbeit zwischen Ost und West“ (1992) und mit Ingeborg Pietzsch: „1994 Nachgefragt“ , in: Theater der Zeit, Heft Nr. 03, Mai/Juni 1994, S. 28-31, hier S. 31.

[11] Kampagnenslogan des Deutschen Bühnenvereins vor 2003 – dann folgte eine selbst herausgegebene Publikation mit Fragezeichen: Muss Theater sein?, Köln 2003. Siehe auch: Bernd Wagner: „’Theater muss sein’. Aber zu welchem Preis und wie?“, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Thema: „Sparen als Politikersatz“, Nr. 103, Ausgabe IV/2003, S. 48-51.

[12] Schmaus ebda (1992), S. 30.

[13] Ebd. (1994), S. 30.

[14] Nadja Engel: „Unsere eigenen Konflikte an der Welt messen“, in: Renate Ullrich: Mein Kapital bin ich selber: Gespräche mit Theaterfrauen in Berlin-O 1990/1991, Berlin 1991, S. 8-18, hier S. 16.

[15] Siehe Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M. 2020.