Globale Energiewende: Ungleichheiten könnten verschärft werden

Interview

Kaum war die 26. UN Klimakonferenz der Vertragsparteien (COP) zu Ende, wurde das Ergebnis dafür kritisiert, nicht weit genug zu gehen, und die Kohleproduktion lediglich zu reduzieren anstatt sie abzuschaffen. Die globale Energiewende erfordert noch viel Arbeit und marginalisierte Stimmen fehlen. Im Interview erzählt Silvia Sartori, leitende Projektmanagerin von ENERGIA, dem internationalen Netzwerk für Gender und nachhaltiger Energie, warum Gender in der Energiedebatte so wichtig ist, warum ein “Opfer-Narrativ” Frauen falsch darstellt, und was wir vom Gender and Energy Compact erwarten. Eine Perspektive aus Südostasien

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Eine Frau installiert Solarpanele auf einem Dach in Bhutan.

Warum ist es so wichtig, Gendergerechtigkeit in der Debatte um die Energiewende mitzudenken?

Silvia Sartori: Frauen und Männer haben nicht die gleichen Energiebedürfnisse und nutzen Energie unterschiedlich. Global gesehen haben Frauen weniger Zugang zu und Kontrolle über Energiedienstleistungen, was sich wiederum in Zeitarmut und vermeidbarer Schufterei niederschlägt, die ihre Gesundheit und Sicherheit beeinträchtigen und ihre Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten einschränken. Es ist wichtig, dass diese Unterschiede (und Lücken) bei der Ausarbeitung von energiepolitischen Maßnahmen und Plänen berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass sie die Anforderungen und den Beitrag der Gesellschaft als Ganzes genau widerspiegeln und niemanden zurücklassen.

Dies gilt insbesondere für die Energiewende angesichts ihres Umfangs und ihrer weitreichenden Auswirkungen. Damit die Energiewende wirklich gerecht und inklusiv ist, müssen Gleichstellungsaspekte von Anfang an berücksichtigt und während der gesamten Umsetzung bewertet werden. Dies hätte zwei Vorteile: Dass Frauen und Mädchen im neuen Energie-Ökosystem nicht zurückgelassen werden, und dass der Übergang genutzt wird, um vorhandene Lücken zu schließen und Hindernisse zu beseitigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das neue Energie-Ökosystem bestehende Ungleichheiten aufrechterhält oder sogar noch verschärft.

Wie würden Sie die Beteiligung von Frauen an der energiepolitischen Debatte beschreiben? Was muss sich (noch) ändern? 

Wir nehmen wahr, dass das Bewusstsein für geschlechtsspezifische Fragen im Energiebereich zunimmt und dass sich immer mehr Frauen an der Debatte beteiligen. In Anbetracht der großen Kluft (, von der wir ausgehen,) [zwischen den Geschlechtern] ist es jedoch noch ein weiter Weg, bis die Beteiligung von Frauen und Männern gleich hoch ist. Frauen und Frauenorganisationen sind noch zu wenig an der energiepolitischen Debatte beteiligt. Dies gilt vor allem für Debatten auf höherer (politischer) Ebene und in Entscheidungsgremien.

Frauen und Frauenorganisationen sind noch zu wenig an der energiepolitischen Debatte beteiligt.

Frauen müssen auf allen Ebenen der Debatte stärker einbezogen und konsultiert werden. Um das zu gewährleisten, müssen wir die Handlungsfähigkeit von Frauen stärken und gezielt Ressourcen und Möglichkeiten bereitstellen, um die sozialen Kompetenzen von Frauen zu fördern und ihre aktive Beteiligung zu ermöglichen. Dies ist vor allem in traditionell männerdominierten Bereichen wie dem Energiesektor notwendig, wo sich Frauen möglicherweise eingeschüchtert oder unwohl fühlen, wenn sie in den politischen Raum eintreten. Gleichzeitig braucht es einen Bewusstseinswandel unter Männern, durch den sie selbst erkennen und verstehen, warum es wichtig ist, Frauen einzubeziehen.

Männer und Frauen spielen kein Nullsummenspiel: Ausgehend von ihren jeweiligen Standpunkten und Erfahrungen müssen sie ihre Kräfte bündeln und Partner für ein integrativeres, gerechteres und für beide Seiten vorteilhafteres Energie-Ökosystem werden. Das ist besonders wichtig, da wir uns gerade von der COVID-19-Krise erholen, die die bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten im Energiebereich zum Vorschein gebracht und oft noch verschärft hat. Ein Großteil der Fortschritte, die in jüngster Zeit an der Schnittstelle zwischen dem Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG) 5 zur Gleichstellung der Geschlechter und dem SDG 7 zum universellen Zugang zu Energie erzielt wurden, wird durch die Krise untergraben. Die Regenerierung in der Zeit nach COVID-19 ist die unmittelbarste und dringlichste politische Chance für eine gerechte und integrative Beteiligung von Frauen.

Gibt es falsche Narrative über Frauen und Gender im Bereich Energie und Klimagerechtigkeit, die geändert werden müssen?

Die größte Fehleinschätzung ist das Narrativ, das Mädchen und Frauen als Opfer darstellt. Mädchen und Frauen sind mit Sicherheit vom Klimawandel und dem ungleichen Zugang zu Energie betroffen, und zwar in stärkerem Maße als Jungen und Männer. Wenn wir zum Beispiel nur mal daran denken, wie viele Frauen in Entwicklungsländern in der Landwirtschaft arbeiten oder nach wie vor für die Beschaffung von Wasser oder Brennholz für ihre Haushalte verantwortlich sind, wird deutlich, dass sie die Hauptlast der Negativauswirkungen des Klimawandels tragen.

Es ist jedoch wichtig anzuerkennen, dass Frauen mehr als nur passive Opfer sind. Unter fairen Bedingungen spielen Frauen und Männer eine gleich starke und wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Ursachen von Problemen und der Suche nach Lösungen. Dies gilt für den Klimawandel, die Energiearmut oder jedes andere Thema.

Frauen sind wirksame Akteure des Wandels und sollten als solche anerkannt und gefördert werden. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass Regierungen und Unternehmen, in denen mehr Frauen vertreten sind, dazu neigen, umweltfreundlichere und ehrgeizigere Klimaschutzverpflichtungen einzugehen.

Frauen sind wirksame Akteure des Wandels und sollten als solche anerkannt und gefördert werden.

Wenn wir aber weiterhin beim “Opfer-Narrativ” bleiben, werden Frauen im Diskurs falsch dargestellt Position von Frauen im Diskurs verzerrt. Das enorme Potenzial, das in ihrem Handeln steckt, (bleibt dadurch) unerkannt und wird vergeudet. Die Barrieren zu beseitigen, die Frauen daran hindern, in den Energiesektor einzutreten, aufzusteigen und sich dort voll zu beteiligen, sind daher nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch der energieeffizienten Ökonomien. Nur so können wir alle die Fähigkeiten, das Know-How, die Netzwerke und die Ressourcen von Frauen nutzen und ihr volles Potenzial für einen positiven Wandel freisetzen.

Was sind die besonderen Herausforderungen im Energiesektor und in der Energiepolitik in Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter und Inklusion?

Die erste Hürde ist die Erhebung genauer, nach Geschlechtern aufgeschlüsselter Daten. Unabhängig von Regionen und Sektoren ist es nach wie vor schwierig, an spezifische Daten zu kommen, die beispielsweise die unterschiedlichen Rollen von Frauen und Männern in Energiefragen und deren Auswirkungen auf sie belegen. Solange wir kein korrektes Bild der geschlechtsspezifischen Situation haben, die im Verhältnis zu einem bestimmten Problem steht, können wir politische Optionen weder bewerten, noch zielgerichtete Lösungen finden oder Ergebnisse evaluieren.

Zweitens müssen, wie ich bereits erwähnt habe, mehr Frauen, einschließlich Frauen in hochrangigen Positionen, an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden, in denen es um Energie geht. Auch hier können wir nicht erwarten, dass die Politik die Stimmen, Bedürfnisse und Talente der Frauen wirklich widerspiegelt, solange sie nicht mit am Tisch sitzen.

Eine neue Generation von Frauen im Energiesektor heranzubilden bedeutet auch, mehr Mädchen für MINT-Studiengänge (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) zu gewinnen. Während die Beschäftigung von Frauen im Energiesektor im Zuge der Umstellung auf erneuerbare Energien zunimmt (laut IRENA, der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien, von 22% auf 32%), sind Frauen nach wie vor hauptsächlich in der Verwaltung tätig. Die Mehrheit der MINT-Arbeitsplätze in diesem Sektor, sei es im Bereich der traditionellen oder der sauberen Energien, ist mit Männern besetzt. Es ist unerlässlich, dass Politik, Bildungssysteme, aber auch soziale Narrative und Rollenmodelle ihre Kräfte bündeln, um Anreize zu schaffen und Mädchen auf dem MINT-Berufsweg zu unterstützen.

Können Sie uns etwas über den Gender and Energy Compact erzählen, den ENERGIA gemeinsam mit GWNET und UNIDO mit initiiert hat? Wie trägt der Pakt zur Gleichstellung der Geschlechter bei der nachhaltigen Energiewende bei?

Gemeinsam mit UNIDO und GWNET hat ENERGIA den Gender and Energy Compact angestoßen, der schließlich beim hochrangigen UN-Energiedialog während der UN-Generalversammlung im September offiziell vorgestellt wurde. Das Abkommen geht auf die Erkenntnis zurück, dass die Bemühungen um eine gerechte, integrative und genderorientierte Energiewende beschleunigt werden müssen, und besonders seit der COVID-19-Pandemie. Die von den Regierungen Kanadas, Islands, Ecuadors, Nepals, Kenias und Schwedens unterstützte Initiative lädt Regierungen, den Privatsektor, die Wissenschaft, die Zivilgesellschaft, die Jugend und internationale Organisationen dazu ein, ihren eigenen individuellen, freiwilligen “Compact” einzureichen, um darin den Einsatz ihrer Organisation zur Erreichung der SDGs 5 und 7 [zur Gleichstellung der Geschlechter und zum Zugang zu Energie]  bis 2030 festzuhalten.

Bis heute haben mehr als 40 Organisationen den Pakt unterzeichnet, und es werden laufend neue Anträge entgegengenommen. Dem Pakt wurde auf dem COP26-Gipfel ein wichtiger Platz eingeräumt, da die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frau auch in der Klimadebatte Eckpfeiler sind. Der Pakt unterstreicht die Notwendigkeit, Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter im Energiebereich anzustoßen, und fordert alle Beteiligten auf, darüber nachzudenken, wie sie zur Erreichung der Fortschritte beitragen können, indem sie konkrete Schritte, Zeitpläne und Instrumente festlegen. Auf diese Weise wird auch eine "Koalition von Verbündeten" geschaffen, die sich gegenseitig unterstützen, Ressourcen und Fachwissen austauschen und sich weltweit für mehr Engagement für eine gerechte, inklusive und genderorientierte Energiewende einsetzen.

Welche besonderen Herausforderungen gibt es in Südostasien in Bezug auf Gender und Energie, und wie können diese angegangen werden?

Besonders besorgniserregend ist, dass in Südostasien immer noch überwiegend auf traditionelle Brennstoffe und Geräte zum Kochen zurückgegriffen wird, die ineffizient und umweltschädlich sind. Die Verwendung von Biomasse wie Holz, Holzkohle und Kuhdung hat eine Reihe von negativen Auswirkungen. Das Einatmen des gefährlichen Rauchs führt zu Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Infektionen, Krebs und Schlaganfällen, ganz zu schweigen von der Gefahr von Verletzungen und Verbrennungen. Da Mädchen und Frauen traditionell für das Kochen und die Betreuung der Kinder im Haushalt zuständig sind, sind sie diesen Gefahren besonders ausgesetzt. Weltweit verursacht die Luftverschmutzung in den Haushalten jährlich 4 Millionen vorzeitige Todesfälle und 45% aller Todesfälle durch Lungenentzündung bei Kindern unter fünf Jahren. Außerdem rauben diese ineffizienten Kochmethoden Mädchen und Frauen wertvolle Zeit, die sie sonst in ihre Bildung oder in entlohnte Arbeit investieren könnten, und verstärken so einen Teufelskreis von Armut.

Zahlen der Weltbank aus dem Jahr 2020 gehen davon aus, dass nur 21% der Bevölkerung in Südostasien Zugang zu modernen Energiequellen zum Kochen haben, verglichen mit 37% in Ostasien und 27% in Südasien. Die Umkehrung dieses Trends sollte oberste Priorität haben, vor allem im Hinblick auf die Agenda 2030, deren SDG 7.1 den "allgemeinen Zugang zu bezahlbaren, verlässlichen und modernen Energiedienstleistungen sichern" vorsieht, einschließlich solcher zum Kochen.

Dies erfordert einen abgestimmten Kraftakt politischer Entscheidungsträger*innen, Finanzinstitute und des Privatsektors, um die Marktexpansion sauberer Kochtechnologien zu beschleunigen, den Zugang zu Finanzmitteln für effiziente und nachhaltige Kochherde zu erleichtern und die Verbraucher über die Risiken traditioneller Kochgeräte und die Vorteile moderner Geräte aufzuklären.


Silvia Sartori arbeitet seit 15 Jahren vor allem in den Bereichen Energie und Umwelt, zur Stärkung der Rolle der Frau und weiblichem Unternehmertum, zur Entwicklung des Privatsektors - insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) -, und im Bereich Innovation und Nachhaltigkeit. Sartori hat einen akademischen Abschluss in KMU-Management und KMU-Entwicklung sowie Asienstudien und hat in verschiedenen internationalen Entwicklungs- und Kooperationsprojekten in 20 verschiedenen asiatischen Ländern und weltweitzur Unterstützung von Unternehmerinnen gearbeitet. Im Januar 2021 trat sie ENERGIA als leitende Projektmanagerin wirtschaftlichen Stärkung von Frauen bei.