Belarus: Referendum als Imitation einer Volksabstimmung

Kommentar

Waleri Karbalewitsch, einer der führenden belarusischen Politikexperten, kommentiert den Verlauf der „allgemeinen Volksdiskussion“ und die Aussicht auf eine verfassungsrechtliche Verankerung von Staatsideologie in Belarus, die am 27. Februar 2022 mit dem Verfassungsreferendum ansteht.

Kühlerhaube LKW mit Nummernschild, staatspatriotisch geschmückt.
Teaser Bild Untertitel
Belsat (belarusisches Fernsehen in Polen) / belsat.eu

Von Waleri Karbalewitsch

Verfassungsreferendum in Belarus

Die Perspektive einer Verfassungsreform sollte wohl aus Sicht von Alexander Lukaschenko die Gemüter beruhigen. Nach tagelangen Massenprotesten in Belarus stellte er Mitte August 2020 diese Reform in Aussicht. Es folgten anderthalb Jahre brutalster Repressionen: Unterdrückung jeglichen auch symbolischen Protests, Verhaftungswellen, Strafprozesse, Auflösung von von NGOs, vollständige Beseitigung unabhängiger Medien im Land. Die Rede von der Verfassungsreform blieb die längste Zeit diffus. Im März 2021 setzte das Regime eine loyale Verfassungskommission ein, die im Sommer die ersten Änderungsvorschläge veröffentlichte. Schließlich erschien am 27. Dezember der erste Verfassungsentwurf mit Änderungen und Ergänzungen. Eine „allgemeine Volksdiskussion“ sollte folgen und wurde bereits drei Wochen später für abgeschlossen erklärt. Am 20. Januar erschien ein zweiter, finaler Entwurf der Verfassungsänderungen[1] und das Datum für das Referendum wurde festgesetzt: Sonntag 27. Februar 2022.

"Die Angst durchkreuzen" - eine der Illustrationen für die gemeinsame Kampagne großer Teile der demokratischen Kräfte aus Belarus. Unter dem Motto „Das Referendum durchkreuzen“ rufen sie dazu auf, zum Referendum zu gehen, den Abstimmungszettel ungültig zu machen und größtmögliche Öffentlichkeit für diese gemeinsame Protestabstimmung herzustellen.
"Die Angst durchkreuzen" - eine der Illustrationen für die gemeinsame Kampagne großer Teile der demokratischen Kräfte aus Belarus. Unter dem Motto „Das Referendum durchkreuzen“ rufen sie dazu auf, zum Referendum zu gehen, den Abstimmungszettel ungültig zu machen und größtmögliche Öffentlichkeit für diese gemeinsame Protestabstimmung herzustellen. Quelle und Kampagnenwebseite: https://xx2022.org/, Illustration bereitgestellt durch die Initiative "Honest People"

Die neue Verfassung will niemand haben

Nach den Ereignissen in Kasachstan sagten viele voraus, dass Lukaschenko das Referendum absagen und die Verfassungsreform ausbremsen wird. Dies ist jedoch nicht passiert. Entgegen der Meinung vieler Skeptiker hat Lukaschenko mit seinem Dekret vom 20. Januar das Referendum über die Verfassung auf den 27. Februar 2022 angesetzt.

Die Idee, eine Verfassung im Rahmen eines Referendums zu verabschieden, ist abstrakt betrachtet mehr als zweifelhaft. Denn wie soll ein Bürger abstimmen, wenn er mit einigen Artikeln der Verfassung einverstanden ist und mit anderen nicht?

Das Paradoxeste dabei ist, diese neue Verfassung, die ein neues Machtzentrum in Form der Gesamtbelarusischen Volksversammlung schafft, braucht heute niemand: nicht die Nomenklatur, nicht die Gesellschaft und nicht die Opposition. Bei einer Sitzung am 18. Januar drückte Lukaschenko seine eigene Haltung zur Verfassungsreform mit folgenden Worten aus: „Ehrlich gesagt, ich persönlich brauche diesen ganzen Prozess überhaupt nicht“. Und das kann man ihm leicht glauben. Wenn er den Machttransfer ablehnt und nicht vor hat abzutreten, ergibt es keinen Sinn, eine neue Verfassung zu verabschieden, welche die Befugnisse des Präsidenten einschränkt. Mehr als das: Es schafft eine Reihe von Problemen für ihn.

Da Lukaschenko bis 2025 regieren will (für die Zeit danach hat er keine klaren Pläne), wäre es logischer, ein Referendum Anfang 2025 abzuhalten, sodass die neue Verfassung mit der Wahl des nächsten Präsidenten in Kraft tritt. Doch die Maschinerie zur Durchführung der Verfassungsreform war bereits in Gang gesetzt, gewann an Schwung und Bewegung, und Lukaschenko wagte nicht, sie zu stoppen.

Es überrascht nicht, dass die Beamt:innen, die während der so genannten „allgemeinen Volksdiskussion“ dieses Dokuments die Arbeitskollektive besuchten, nicht klar erklären konnten, wozu eine neue Verfassung verabschiedet werden soll.

Eine „Volksdiskussion“ zu Silvester

Am 18. Januar wurden die Ergebnisse der „allgemeinen Volksdiskussion“ der neuen Verfassung geprüft. In diesem Zusammenhang ist es wichtig auf die Daten zu achten. Der Entwurf für eine neue Verfassung wurde am 27. Dezember veröffentlicht. So hatte das Volk nur drei Wochen Zeit bekommen, um über das Dokument zu diskutieren, das von den staatlichen Medien für „historisch“ erklärt wurde.

Und besonderes zu unterstreichen wäre, was das für Tage waren!! Silvester, Weihnachten, das Alte Neujahr [gefeiert am 14. Januar nach dem Julianischen Kalender. - Anm. d. Ü]. Die Menschen feierten oder bereiteten sich auf die Feiertage vor. In dieser Zeit den Verfassungsentwurf zu studieren, statt am Festtisch zu sitzen, das konnten nur ziemlich wunderliche Menschen tun.

Das heißt, die Herrschenden haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, eine „Volksdiskussion“ zu imitieren. Alles endete in einer banalen Profanierung. Das heißt: An der Legitimität der Verfassungsreform sind sie wenig interessiert. Oder: die derzeitigen Machthabenden können die Dinge einfach nicht anderes angehen.

Man muss anmerken, dass es nach der offiziellen Version nicht um eine neue Verfassung geht, sondern um Änderungen und Ergänzungen, die dem alten Grundgesetz hinzugefügt werden. So ist auch die zum Referendum vorgelegte Frage formuliert[2].

Die Besonderheit des veröffentlichten Entwurfs, der zum Referendum gebracht wird, besteht darin, dass den Wählenden nicht der vollständige Text einer neuen Verfassung vorgelegt wird, sondern nur die jeweiligen Änderungen am geltenden Grundgesetz. Und das ist ein Unterschied zu dem am 27. Dezember veröffentlichten Dokument. Es war ein vollständiger Text der Verfassung, wobei die Änderungen in einer anderen Schriftart markiert wurden. So war es leicht zu lesen und zu verstehen, was sich ändert.

In der aktuellen Fassung sind nur die Änderungen und Ergänzungen abgedruckt. Deshalb ist das Dokument doppelt so kurz ausgefallen. Der Entwurf vom 27. Dezember umfasste 49 Seiten, die aktuelle Fassung 23 Seiten. Man kann annehmen, dass die zuletzt veröffentlichte Variante des Verfassungsentwurfs während des Referendums in den Wahllokalen ausliegen wird.

Um die Neuerungen zu verstehen, müssen also die Wählenden den Text der alten Verfassung vor sich legen und jeden Artikel genau vergleichen. Werden denn viele so etwas tun?

Ich denke, das ist Absicht. Die Wählenden sollen blind wählen. Warum soll das Volk sich überhaupt mit diesem verfassungsrechtlichen Kram beschäftigen? Das Volk muss auf die Vorgesetzten hören, die wissen es besser.

Die Strategie der erzwungenen Legitimation ist zu ihrem logischen Abschluss gekommen. Warum sollte man das Spiel der Demokratie spielen, wenn man es nicht muss.

Das Monopol der Staatsideologie

Inhaltlich gibt es nur eine wesentliche Änderung gegenüber der Version vom 27. Dezember, aber was für eine. Der neue erste Absatz des Verfassungsartikels 4. lautet wie folgt: „Die Demokratie in der Republik Belarus wird auf der Grundlage der Ideologie des belarusischen Staates und des Pluralismus von politischen Institutionen und Meinungen verwirklicht.

Zunächst einmal ist hier ein Widerspruch angelegt. Wenn es ein Monopol der Staatsideologie gibt, wie kann es dann eine Vielfalt von Meinungen geben? Ich möchte daran erinnern, dass es in der bisher geltenden Verfassung heißt: „Die Demokratie in der Republik Belarus beruht auf einer Vielfalt von politischen Institutionen, Ideologien und Meinungen“.

Unter dem Begriff „staatliche Ideologie“ (oder „Staatsideologie“, was im Wesentlichen dasselbe ist) versteht man üblicherweise ein System von weltanschaulichen Ideen, die der Staat monopolistisch, mit allen Machtmitteln seiner Institutionen der Gesellschaft aufzwingt, wobei die Bürger dazu verpflichtet sind, diese anzunehmen. Eine Weigerung führt zu Sanktionen und Repressionen – was in Belarus bereits geschieht. Es ist klar, dass ein solcher Staat weder demokratisch noch rechtsstaatlich sein kann. Eine den Bürger:innen durch die Machthabenden aufgezwungene Ideologie widerspricht den fundamentalen Prinzipien eines demokratischen Staates, solchen wie Weltanschauungsfreiheit, Vorrang der Menschenrechte und der freien Entfaltung der Persönlichkeit. 

Eine Staatsideologie ist charakteristisch für totalitäre Regime. Die Kontrolle über das geistige Leben einer Gesellschaft ist eines der wichtigsten Merkmale des Totalitarismus. In der Verfassung der UdSSR war festgelegt, dass die politischen Rechte und Freiheiten nur garantiert werden, wenn diese „der Stärkung und Entwicklung des sozialistischen Systems“ dienen und „in Übereinstimmung mit den Zielen des kommunistischen Aufbauarbeit“ stehen. Das heißt, der Dissens wurde auf Verfassungsebene verboten. Nun wird diese politische Antiquität in Lukaschenkos Belarus reproduziert.

22. Januar 2022.
Übersetzt für die Heinrich-Böll-Stiftung von Wanja Müller mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Quelle:
https://t.me/vkarbalevich/480


[1] Ausführlicher zu vielfältigen Änderungen der Verfassung und zur Strategie der demokratischen Opposition in einem informativen Beitrag von Jan Matti Dollbaum für Dekoder: https://www.dekoder.org/de/article/bystro-belarus-verfassungsreferendum-lukaschenko-opposition 

[2] Die Frage lautet: „Nehmen Sie die Änderungen und Ergänzungen der Verfassung der Republik Belarus an?“ - Anm.d.Ü