Ortegas Inszenierung: Nicaragua hatte keine Wahl

Analyse

Die Wahlen in Nicaragua Anfang November 2021 waren geprägt von Verhaftungen und massiven Einschüchterungen politischer Kandidat/innen. Die Opposition wurde explizit und systematisch vom Wahlwettbewerb ausgeschlossen. Es ist fraglich, wie lange die demokratische Fassade des politischen Pluralismus für Finanzspritzen noch trägt.

Menschen demonstrieren auf der Straße
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Die nicaraguanische Gemeinschaft im Exil in Costa Rica betont, dass für sie niemand zur Wahl stand.

Präsident Daniel Ortega von der FSLN, der das Land seit 2007 regiert und alle staatlichen Gewalten seit 2012 kontrolliert, wurde bei den Wahlen am 07.11., wie zu erwarten, nach offiziellen Angaben mit rund 75 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Auch im Parlament wird die Regierungspartei mit 75 der insgesamt 90 Sitze die absolute Mehrheit behalten. Eine unabhängige nationale oder internationale Wahlbeobachtung wurde nicht zugelassen, dafür waren aber Delegationen regierungsnaher „Wahlbegleiter/innen“ aus dem Ausland eingeladen. Internationalen Medien, die am Wahltag über den Verlauf berichten wollten, wurde die Einreise in das Land verweigert.

Es überrascht daher nicht, dass die Angaben zur Wahlbeteiligung des Obersten Wahlrates (CSE) und der wenigen regierungskritischen Meinungsforschungsinstitute extrem unterschiedlich sind. Während laut dem CSE die Wahlbeteiligung bei rund 65 Prozent lag, geht die Organisation „Urnas Abiertas“, die dem oppositionellen Journalisten Carlos Fernando Chamorro nahesteht, von einer Wahlbeteiligung von lediglich 20 Prozent aus. Damit hätten zum überwiegenden Teil nur die Sympathisanten der Regierung an den Wahlen teilgenommen. Am selben Sonntag demonstrierten im Exil lebende Nicaraguaner/innen u.a. in Costa Rica, Mexiko, den USA, Spanien und Deutschland gegen die Wahlen. Ein Tag darauf feierte Ortega seinen Sieg in Managua mit einer konfrontativen Rede, bei der er behauptete, inhaftierte Oppositionelle wären, wie der 1979 von der Revolution gestürzte Diktator Somoza, „Hurensöhne der USA“.

Der Wahlkampf der letzten Monate war geprägt von der Inhaftierung von sieben möglichen oppositionellen Kandidat/innen sowie 32 weiteren Politiker/innen, Journalist/innen und anderen Persönlichkeiten unterschiedlicher politischer Strömungen. Damit konnten keine aussichtsreichen Oppositionspolitiker/innen zur Wahl antreten. Die Inhaftierungen geschahen im Kontext des Protestverbots, massiver Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit sowie einer permanenten Überwachung politisch Andersdenkender. Der Verfassungsartikel, der den Antritt einer dritten Amtsperiode für Präsident/innen untersagte, wurde bereits 2009 gestrichen – nicht etwa durch einen Volksentscheid, sondern durch einen Beschluss des durch die FSLN kontrollierten obersten Gerichtshofes.

Die Wahl lässt sich in einigen Punkten mit den Präsidentschaftswahlen von 2016, bei der Ortegas Ehefrau Rosario Murillo erstmals offiziell zur Vizepräsidentin gewählt wurde, vergleichen. Somit verfestigte sich der personenbezogene und dynastische Charakter von Ortegas autoritärem Regierungssystem, das neben seiner Frau auch viele seiner Kinder in wichtigen Regierungsposten einsetzt. Auch dieses Mal konkurrierte die FSLN nur gegen Kleinparteien (alle fünf „oppositionellen“ Kandidat/innen kamen zusammen auf 25 Prozent der Stimmen) und parteinahe Personen hatten den gesamten Wahlapparat unterwandert.

Kontrolle und Einschüchterung der Opposition

Allerdings sorgten die Wahlen 2016 für deutlich weniger internationale Aufregung als die aktuellen Novemberwahlen. Ein Grund dafür ist die massive Zunahme von Menschenrechtsverletzungen, die im Jahr 2018 mit der gewaltsamen Niederschlagung der Protestbewegung durch Polizei und Paramilitärs, ihren Höhepunkt hatte. In der Folge kam es zu einem inoffiziell ausgerufenen Ausnahmezustand sowie einer andauernden Einschränkung von Bürger/innenrechten. In Folge mehrerer, in den letzten zwei Jahren verabschiedeter Gesetze wurde die politische Verfolgung weiter institutionalisiert. Demnach können grundsätzlich alle regierungskritischen Organisationen jederzeit aufgelöst werden. Ferner kann nach dem im Dezember 2020 verabschiedeten „Souveränitätsgesetz“ jeder öffentlich formulierte Wunsch nach politischer Veränderung als „Vaterlandsverrat“ bestraft werden. Die lokale Überwachung erfolgt durch die Parteimitglieder, die sowohl als Vermittler zur Vergabe staatlicher Sozialprojekte fungieren als auch die soziale Kontrolle über die Nachbarschaften ausüben.

Die Kandidat/innen und Vertreter/innen der aus der Protestwelle von 2018 hervorgegangenen Opposition, die in den Augen vieler (auch regierungskritischer) Nicaraguaner/innen keine glaubwürdige politische Alternative zu Ortegas Autoritarismus artikulieren konnten, wurden im Juni dieses Jahres unter dem Vorwand des Vaterlandsverrats, der Geldwäsche oder anderer Verbrechen verhaftet (für weitere Informationen siehe Luis Kliches Artikel vom März 2021). Sie sitzen nun ohne jegliche Garantien auf ein faires Verfahren in Untersuchungshaft. Sollte es zu Gerichtsprozessen kommen, werden sie Richter/innen gegenüberstehen, die in öffentlichen Video-Botschaften nicht nur ihre Loyalität gegenüber der Regierungspartei erklären, sondern auch ganz persönlich gegenüber Ortega und Murillo.

Die Macht wirtschaftlicher Profite

Angesichts dieser besorgniserregenden Entwicklungen käme vor allem der Wirtschaft eine entscheidende Rolle als Oppositionskraft zu. Der einflussreiche Verband der Großunternehmer COSEP (Consejo Superior de la Empresa Privada), der zwölf Jahre lang zusammen mit Ortegas Regierung die wichtigsten Entscheidungen des Landes in Politik und Wirtschaft traf, geriert sich seit 2018 als vermeintlicher Vertreter der Opposition. Tatsächlich dürfte es den mächtigen Banker/innen und Großgrundbesitzer/innen aber vor allem darum gehen, wieder zur wirtschaftlichen Stabilität und damit zu den Profiten zurückzukehren, die Ortega ihnen lange garantiert hat. Dies würde auch erklären, warum sich der Verband zu den Verhaftungswellen der letzten Monate in Schweigen hüllte, selbst nach der Inhaftierung seines amtierenden Präsidenten.

Ortega teilte zuletzt mit, zum alten Konsensmodell zwischen Regierung und Großkapital zurückkehren zu wollen. Nicht nur aufgrund eigener wirtschaftlicher Interessen durch private Firmen, die seiner Familie und der Oberschicht der Partei gehören, sondern auch um somit wieder aus dem Fokus internationaler Kritik zu gelangen. Ein erneuter Schulterschluss wäre ein Leichtes: Trotz der seit drei Jahren andauernden Rhetorik des Bruches zwischen politischer und wirtschaftlicher Elite, wird die nicaraguanische Wirtschaft nach wie vor vom Privatsektor geprägt, selbst wenn dieser seit 2018 Verluste zu verbuchen hat.

Der Tourismus- und der Finanzsektor sowie das Bauwesen sind einige der Branchen, die zunächst von der innenpolitischen und danach von der pandemischen Krise stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Durch geringe staatliche Kontrollen, insbesondere auch bei extraktivistischen Projekten in überwiegend ländlichen Regionen an der Karibikküste, werden sowohl nationale als auch internationale Privatinvestoren angelockt. Nicht wenige dieser Projekte werden von fragwürdigen Gruppen privater, regierungsnaher Unternehmer/innen geleitet, die in den letzten Jahrzehnten ein Vermögen gemacht haben.

Zustimmung durch Sozialprogramme?

Die Zustimmung breiterer Bevölkerungsschichten versucht das Regime über den konstanten Ausbau staatlicher Programme insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen zu gewinnen,  die mehr Bürger/innen erreichen als die neoliberalen Vorgänger-Regierungen, und auf ein „sozialistisches“ Regierungsnarrativ abzielen. Die Programme umfassen unter anderem den Bau von Krankenhäusern, die finanzielle Förderung von Abiturient/innen und Studierenden und den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung. Aber anders als bei linken Regierungen Südamerikas, die ähnliche und vielfach größere Sozialprogramme durch Steuereinahmen oder staatliche Beteiligungen in Schlüsselsektoren der Wirtschaft finanzieren, werden sie in Nicaragua oft durch Kredite von multilateralen Banken wie der Zentralamerikanischen Integrationsbank (BCIE), der Interamerikanischen Entwicklungsbank (BID) und (in kleinerem Maße) dem IWF getragen.

Diese Projekte schaffen insbesondere bei einem Teil der ärmeren Bevölkerung, für die diese öffentlichen Investitionen sehr bedeutsam sind, eine anhaltende Zustimmung zur Regierung. Allerdings weisen die letzten Umfragen des Meinungsforschungsinstituts CID-Gallup darauf hin, dass Ortegas Rückhalt in der Bevölkerung deutlich schwindet. Mit ihrem marktwirtschaftlichen Schwerpunkt, ihren autoritären Zügen, ihrer Betonung sozialer Programme und ihrem nationalistischen Diskurs erinnert Ortegas Regierungssystem eher an die jahrzehntelange postrevolutionäre Herrschaft der Partei der institutionalisierten Revolution (PRI) im Mexiko des 20. Jahrhunderts, als an einen sozialistischen Versuch.

Nicaragua nach den Wahlen

Warum gibt sich Ortega überhaupt noch die Mühe, den Schein des politischen Pluralismus durch Wahlen aufrecht zu erhalten? Die Antwort könnte, unter anderem, in der Abhängigkeit von internationalen Krediten liegen. Eine Bedingung zur Bewilligung von Geldern durch beispielsweise den IWF ist die formelle Durchführung von Wahlen. Die demokratischen Standards dieser Banken sind allerdings bekanntlich niedrig. Ein weiterer Grund wäre die zunehmende internationale Isolation der Regierung. Neben Ländern wie den USA, die weiterhin mit Sanktionen drohen, haben in den letzten Monaten die fortschrittlichen Stimmen zugenommen, die eine klare kritische Haltung gegenüber Ortegas Wahlmanipulationen einnehmen. Dazu zählen sowohl der ehemalige brasilianische Präsident Lula, der links-progressive Präsidentschaftskandidat Gabriel Boric aus Chile, der ehemalige kolumbianische guerrillero Gustavo Petro, Perus neuer Präsident Pedro Castillo, Mexikos linke Regierung unter López Obrador und der peronistische Präsident Alberto Fernández in Argentinien.

Anders als die konfrontative Haltung der USA, deren wirtschaftliche Sanktionen eher negative Auswirkungen auf die ärmere Bevölkerung haben und so zur weiteren Polarisierung beitragen, plädieren diese Länder für einen offenen Dialog und die Suche nach demokratischen Lösungen ohne Interventionen. Für ein Land wie Nicaragua, das in seiner Geschichte unter den gewaltsamen Interventionen der USA enorm gelitten hat, scheint diese – lateinamerikanische – Strategie aussichtsreicher zu sein.

Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen ein erneuter Dialog zwischen der Regierung und der traditionellen Unternehmerschaft nach der Vereidigung Ortegas haben würde: Möglicherweise könnte er zumindest zur wirtschaftlichen Stabilisierung beitragen. Denn eines ist klar: Die jetzige Situation ist auf Dauer weder wirtschaftlich noch politisch nachhaltig. Aber solange der Polizeistaat jede Art der Opposition und des legitimen Protests durch die Bevölkerung, selbst aus den eigenen Reihen der Regierungspartei, unterdrückt, wird eine politische Transformation nicht in einem demokratisch-partizipativen Prozess, sondern nur durch einen erneuten Pakt der Eliten oder durch internationale Vermittlung eingeleitet werden können.