Gebrochene Versprechen: Industriestaaten halten 100 Milliarden Dollar-Klimazusage nicht ein

Kommentar

Erfolg oder Misserfolg des Klimagipfels in Glasgow (COP 26) ist untrennbar mit dem Thema Klimafinanzierung verknüpft. In Glasgow muss dabei mit Versäumnissen und Defiziten schonungslos abgerechnet und ein Umsetzungsplan zur Verbesserung vorgelegt werden.

Natural Desaster

Reiche Länder geben mehr Geld für fossile Energien, als für den Kampf gegen die Klimakrise in Entwicklungsländern aus

Zwei Zahlen illustrieren das schreckliche Ungleichgewicht und die massive Ungerechtigkeit hinter dem Versprechen der Weltgemeinschaft, Finanzmittel für den Kampf gegen die Klimakrise bereitstellen zu wollen. Diese trifft die ärmsten Länder und Bevölkerungsgruppen, die am wenigsten dazu beigetragen haben, am schlimmsten. Die eine Zahl ist 100 Milliarden US Dollar pro Jahr ab dem Jahr 2020. Diese Summe hatten reiche Länder als Finanzierungsunterstützung für Aktivitäten zum Klimaschutz den Entwicklungsländern bereits 2009 beim Klimagipfel in Kopenhagen zugesagt. Das Ziel wurde nicht erreicht, weil zu wenige Industrieländer zu wenig an Beiträgen zahlen. Und es ist ungewiss, ob es bis 2025, wenn ein neues globales Klimafinanzierungsziel gesetzt werden soll, jährlich erfüllt werden kann. Die andere Zahl ist 11 Millionen US Dollar pro Minute (oder 5.9 Billionen US Dollar im Jahr). Das ist laut dem Internationalen Währungsfonds die Summe der 2020 global gezahlten Subventionen für die Produktion und das Verbrennen von Erdöl, Erdgas und Kohle. Sie beinhaltet direkte Subventionen wie Steuererleichterungen oder Preisobergrenzen und indirekte Subventionen wie Gesundheitskosten durch Luftverschmutzung oder die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels wie Hitzewellen und Überflutungen und hat zu viele willige Beitragszahler. Und sie könnte in 2025 ohne eine massive Finanzumkehr auf 6.4 Billionen US Dollar steigen.

Die Unausgewogenheit beider Zahlen ist eine Reflexion der politischen Prioritäten und Realitäten. Sie erinnert auch daran, dass das bereits 2019 gesetzte Finanzierungsziel von 100 Milliarden US Dollar rein politisch motiviert und völlig abgetrennt von den Finanzierungsbedürfnissen der Entwicklungsländer für Klimaaktionen war. Die Schere zwischen dem als politisch machbar Gedachten und tatsächlich Notwendigen in der Klimafinanzierungsunterstützung für Entwicklungsländer ist seitdem noch weiter auseinandergeklafft. Auch weil die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels im letzten Jahrzehnt, vor allem in globalen Süden, immer häufiger und deutlicher sichtbar geworden sind.

Das Zahlungsgefälle zeigt die gebrochenen Versprechen der Industrieländer auf

In Glasgow werden die Ergebnisse der ersten offiziellen Klimafinanzbedarfsanalyse diskutiert werden, wonach Entwicklungsländer zur Umsetzung ihrer Verpflichtungen unter der Klimarahmenkonvention und dem Pariser Abkommen bis 2030 zweistellige Billionenbeiträge benötigen, inklusive Hunderte Milliarden an vorhersehbarer, langfristiger internationaler Klimafinanzierung.

Vor diesem Hintergrund ist die bestehende Zahlungslücke für das jetzt zwölf Jahre alte Versprechen reicher Länder, ab 2020 die armen Länder mit jährlichen Finanztransfers von 100 Milliarden US Dollar für Klimamaßnahmen zu unterstützen, ein eklatantes Versagen, auch weil die Covid-Pandemie gezeigt hat, wie schnell riesige Finanzsummen mobilisiert werden können, wenn der politische Wille da ist. Laut den letzten Zahlen zur Klimafinanzierung, die die OECD veröffentlicht hat, wurden 2019 nur rund 80 Milliarden US Dollar erreicht. Und es ist unrealistisch anzunehmen, dass das fehlende Fünftel im vergangenen Jahr oder für 2021 mobilisiert wurde, auch angesichts der zusätzlichen Finanzbemühungen öffentlicher Haushalte im Rahmen der Covid-Pandemie. 

Kein kollektives Handeln

Die fehlenden Klimamittel sind in vieler Hinsicht ein Armutszeugnis. Sie sind ein moralischer Affront gegen das Konzept der Klimagerechtigkeit, wonach diejenigen, die historisch am meisten zur Klimakrise beigetragen haben, auch am meisten zu ihrer Bewältigung beitragen müssen. Die Klimarahmenkonvention und das Pariser Abkommen betonen zwar die gemeinsame Verantwortung der mehr als 190 Unterzeichnerländer in der Bekämpfung des Klimawandels, aber eben auch differenzierte Zuständigkeiten entsprechend der  unterschiedlichen Fähigkeiten von Industrie- und Entwicklungsländern und fordern die Finanzunterstützung ärmerer Nationen durch reiche Industrienationen zur Umsetzung der Vereinbarungen ein. Das ist nicht Gutherzigkeit oder Entwicklungshilfe, sondern eine vertragliche Zahlungspflicht. Wird diese nicht erfüllt, wird damit ein Grundbaustein zur Vertrauensbildung im multilateralen Klimaprozess demontiert, und das zu einer Zeit, in der die Weltgemeinschaft stärker als je zuvor auf kollektives Handeln angesichts multipler, sich einander verstärkender Krisen (Klima, Biodiversität, Covid-Pandemie, Armut und Exklusion) angewiesen ist.  

Die gezahlten Transfers sind qualitativ mangelhaft

Die Zahlungslücke bei der Nichterfüllung des 100 Milliarden US Dollar Klimafinanzierungsversprechens wird durch die mangelhafte Qualität der Finanztransfers in ihren Auswirkungen auf Empfängerländer im globalen Süden noch verstärkt. Entgegen der Versprechen von 2009 sind die bereitgestellten Gelder auch mehrheitlich nicht neu und zusätzlich zu immer noch unerfüllten Entwicklungsfinanzierungszusagen, wonach Industriestaaten 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens als öffentliche Entwicklungsgelder bereitstellen sollten. Dies ist mit den Entwicklungsrückschritten der letzten Jahre infolge der Covid-Pandemie noch wichtiger geworden, auch weil funktionierende Erziehungs- und Gesundheitssysteme sowie breite soziale Absicherung in Entwicklungsländern unerlässlich für die Abfederung der Auswirkungen multipler Krisen sind, inklusive extremer Klimaereignisse wie Überschwemmungen und Dürre. Sowohl Entwicklungsmittel als auch Klimamittel müssen gleichzeitig deutlich erhöht werden – und nicht ein Bereich auf Kosten des anderen durch Verschiebung oder Umetikettierung von Finanzmitteln.

Großbritannien als Gastgeber des Glasgower Klimagipfels ist in diesem Zusammenhang zuletzt negativ aufgefallen, weil es die Aufstockung seiner Finanzunterstützung für Klimamaßnahmen in der Öffentlichkeit feierte, aber mit einer Kürzung der Gelder für Entwicklungsausgaben verband. Auch der Fokus der Mittelvergabe ist problematisch. Sowohl was die thematische Priorisierung als auch die Liste der Empfängerländer angeht. Nach wie vor werden zwei Drittel der Geldtransfers für Emissionsreduktionen (Mitigation) verwandt, obwohl für viele Entwicklungsländer, gerade die ärmsten und die kleinen Inselstaaten, Anpassungsbemühungen viel dringlicher und ihre ausdrückliche Finanzierungspriorität sind. Der tatsächliche Split von 64 Prozent für Mitigation zu 25 Prozent für Anpassung ist meilenweit von einer bilanzierten Mittelvergabe entfernt, die seit Jahren von Entwicklungsländern gefordert wird, aber den Eigeninteressen der Industrieländer entgegensteht. Letztere schaffen sich durch den verstärkten Fokus auf die Finanzierung von verhältnismäßig günstigeren Emissionsreduzierungen in Entwicklungsländern auch Spielraum für die zu zögerliche Erfüllung eigener Mitigationsanstrengungen zuhause. Damit einher geht, dass die Mehrheit dieser Gelder, gerade für Emissionsminderung, einer kleinen Minderheit von Schwellenländern – beispielsweise Indien, Brasilien, Südafrika, Indonesien -- zugutekommt, während es viele Entwicklungsländer gibt, die bislang wenig Unterstützung gesehen haben. 

Klimafinanzierung wird zu oft nur als Kredit gewährt

Ein stetig wachsender Prozentsatz der öffentlichen Klimafinanzierungsmittel wird zudem nicht als Zuschuss, sondern als zurückzahlbarer Kredit vergeben, 2019 waren dies 71 Prozent im Vergleich zu nur 27 Prozent als Zuschuss. Das ist angesichts der wachsenden Verschuldungskrise in Entwicklungsländern, die durch die Covid-Pandemie noch verstärkt wird, aus gleich mehreren Gründen moralisch nicht nachvollziehbar und ungerecht. Erstens rechnen Industrieländer in der Auflistung ihrer Beiträge den Wert eines Kredits wie den Wert eines nicht zurückzahlbaren Zuschusses ab – als volle Summe, obwohl davon ein nicht unerheblicher Teil in der Zukunft zurückgezahlt wird. Der tatsächliche Finanztransfer ist also netto viel geringer. Zweitens ist der Prozentsatz der Klimafinanzierungs-Kredite gewachsen, die zu Marktraten vergeben werden, und nicht konzessioniert sind mit längerer Laufzeit und niedrigen Zinssätzen. Gerade die multilateralen Entwicklungsbanken als Finanzierer von Klimamaßnahmen tun sich dabei unrühmlich hervor, trotz ihres Mandats und der weitreichenden Verschuldungskrise ihrer Länderklientele. Volle 76 Prozent der klimabezogenen Kreditvergabe von MDBs an Entwicklungsländer waren in den Jahren 2026 bis 2018 zu Marktkonditionen. Der zunehmende Einsatz von Klimakrediten macht auch vor Anpassungsbemühungen nicht Halt. Rund ein Viertel der Mittel wurde 2019 bereits als Kredit vergeben, Tendenz steigend.  Das trifft ungerechterweise auch Anpassungsmaßnahmen in den ärmsten Entwicklungsländern, die 66 Prozent der Klimafinanzierungunterstützung als Kredite bekommen, und in den kleinen Inselstaaten, wo immerhin noch die Hälfte der Klimamittel als Kredite verteilt wird. Die Vergabepraxis für diese beiden Ländergruppen im Besonderen stellt das Verursacherprinzip, nach dem im Klimaregime gehandelt werden sollte, völlig auf dem Kopf: die Länder, die am wenigsten zur globalen Erwärmung beigetragen haben, bislang am wenigsten von der fossilen Brennstoff getriebenen Industrialisierung profitiert haben, und am stärksten und vielfach existentiell durch die Auswirkungen der Klimakrise wie dem Ansteigen der Meeresspiegel betroffen sind,  also unschuldige Opfer sind, sollen nun Kredite von den Hauptverantwortlichen der Klimakrise, die ihnen direkten Schaden zufügt, aufnehmen. Das ist als ob der Verursacher eines Autounfalls von den Unfallopfern erwartet, dass diese ihn für die notwendigen Reparaturen an ihrem eigenen Fahrzeug bezahlen. Was Kopfschütteln im normalen Leben hervorruft, gilt im Rahmen des unerfüllten 100 Milliarden US Dollar Versprechens in der Klimafinanzierung als akzeptabel.

Die unfaire Benachteiligung gerade der Ärmsten und Verletzlichsten in der gegenwärtigen Klimafinanzierungs-Vergabepraxis gilt nicht nur zwischen Entwicklungsländergruppen, sondern findet oft auch seine Fortsetzung in den Empfängerländern selbst. Zwar sollten alle Klimafinanzierungsmaßnahmen geschlechtergerecht vergeben werden und konkrete Leistungen und Vorteile für oft marginalisierte Bevölkerungsgruppen, wie Indigene, Minoritäten, Frauen oder LGBTQ und lokale Gemeinschaften priorisieren und deren Bedürfnisse und Menschenrechte unterstützen, die Realität der Klimafinanzierungszielsetzung sieht aber anders aus. Zudem ist das Buchhalten ungenau, häufig intransparent und Industrieländer bleiben eine detaillierte Rechenschaft darüber schuldig, wer wieviel für welchen Zweck erhalten hat. Im Klimafinanzierungsregistrierungssystem und in der Berichterstattung der OECD wurde beispielsweise nicht katalogisiert, wie viel der 80 Milliarden US Dollar an öffentlichen Klimafinanzierungsgeldern 2019 für lokale Klimamaßnahmen ausgegeben wurde. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass dies weniger als 10 Prozent sein könnten. Dagegen fordern die ärmsten Entwicklungsländer bereits seit langem, dass drei Viertel der Finanzflüsse direkt an lokale Gemeinschaften gehen müssen, besonders für Anpassungsbemühungen, die so örtlich wie möglich geplant und von den Gemeinschaften selbst durchgeführt werden sollten.

Kein Geld für Verluste und Schäden durch die Klimakrise

Das 100 Milliarden US Dollar Ziel beinhaltet im Übrigen keine Gelder für die Verluste und Schäden, die bereits jetzt entstehen, wenn die Emissionsminderung oder Bemühungen zur Anpassung versagen. Die tragischen Verluste an Menschenleben und Verwüstungen durch massive Überflutungen, Wirbelstürme, oder Dürren, die weltweit, gerade auch in Deutschland, erlitten wurden, sind Beispiele dafür was passiert, wenn das Jahrhundertereignis zur traurigen Normalität wird. Deutschland will die betroffenen, einheimischen Regionen mit einen Hilfsfonds von 30 Milliarden unterstützen.

Entwicklungsländer, die von solch wiederkehrenden Klimakatastrophen betroffen sind wie Bangladesch oder die Karibischen Inseln haben diese fiskalische Flexibilität nicht, gerade angesichts wachsender Verschuldung. Sie sind deshalb auch auf die Klimafinanzierungszahlungen der Industrieländer als eine Frage der Klimagerechtigkeit und als Bekenntnis zur internationalen Solidarität beim Umgang mit der globalen Klimakatastrophe angewiesen. Auch deshalb wird immer klarer, dass bei der Verhandlung eines neuen kollektiven Klimafinanzierungsziels, das ab 2025 die 2009 gesetzte Marke von 100 Milliarden US Dollar ablösen soll, die Finanzierung von Verlusten und Schäden mitberücksichtigt werden muss. Dies kann aber nur zusätzlich zu deutlich erhöhten und gleichwertigen (50:50) Zahlungstransfers für Aktivitäten zur Emissionsminderungen und Anpassung in Entwicklungsländern erfolgen. Diese Diskussionen werden in Glasgow ernsthaft beginnen.

Im Vorfeld des Klimagipfels wurden Deutschland und Kanada vom Gastgeberland Großbritannien damit beauftragt, einen Plan zu entwickeln, wie die jährlichen 100 Milliarden US Dollar über die nächsten fünf Jahre zuverlässig von Industrieländern geliefert werden. Die 48 überproportional vom Klimawandel betroffenen Entwicklungsländer, die sich im Climate Vulnerable Forum (CVF) zusammengeschlossen haben, fordern, dass dieser Plan eine klare mehrjährige Klimafinanzierungszusage der Industrieländer in Höhe von 500 Milliarden US Dollar für den Zeitraum bis 2024 enthält. Eine solch quantitative Verpflichtung müsste aber mit qualitativen Zusagen für mehr Anpassungsfinanzierung, drastisch erhöhter Zuschussfinanzierung und für mehr geschlechtergerechte, lokal zugängliche und lokal durchgeführte Klimafinanzierung einhergehen, wenn die Fehler der Vergangenheit nicht fortgeschrieben werden sollen.

Letztendlich ist der Erfolg beim diesjährigen Klimagipfel damit direkt an die Bereitschaft der Industrieländer geknüpft, ihre Verpflichtung für die Erreichung des 100 Milliarden US Dollar Klimafinanzierungsziels über die nächsten Jahre nachzukommen und mittel-bis langfristig deutlich zu übertreffen und dabei die Defizite in der Qualität der Mittelbereitstellung konsequent zu beseitigen.  Der kurz vor COP 26 veröffentliche Lieferplan für die Klimafinanztransfers der Industrieländer über die nächsten fünf Jahre dämpft mit seiner Unverbindlichkeit die Hoffnung dafür gewaltig.