Perspektiven einer jungen Amerikanerin zum 11. September

Kommentar

Der zwanzigste Jahrestag des 11. Septembers und der katastrophale Abzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan haben zu einer Art Abrechnung geführt, die allerdings nicht neu ist.

flag while raining

Der Tag, an dem die Twin Towers fielen, gilt national und international als eine monumentale Tragödie, die die Geschichte der Vereinigten Staaten in ein Vorher und ein Nachher teilte. Eine Generation jüngerer Amerikaner/innen erinnert sich entweder überhaupt nicht mehr an die Anschläge oder war zu jung, um ihre Bedeutung zu begreifen. Zwanzig Jahre später kommt man jedoch nicht umhin, der Tragödie zu gedenken und zu reflektieren, wie sie die Politik des Landes geprägt haben.

Jedes Jahr zu Beginn des Schuljahres widmen die Schulen dem Ereignis einen Gedenktag. Lehrer/innen und Schüler/innen teilen ihre Erinnerungen an das Grauen, an die Angst und die Hilflosigkeit, als sie die Türme einstürzen sahen. An die Welle des Patriotismus und der Einheit, die nach den Anschlägen über das Land schwappte auf der einen Seite und den darauf folgenden Anstieg von Islamophobie auf der anderen.

In den Jahren seither sind die tiefen Spaltungen in der Gesellschaft unseres Landes nur zu deutlich geworden. In den Wochen nach den Anschlägen wurden Moscheen niedergebrannt und muslimische Amerikaner/innen (und solche, die dafür gehalten wurden) sahen sich Schikanen, Todesdrohungen und körperlichen Angriffen ausgesetzt. Eine Generation muslimischer Amerikaner/innen ist mit Diskriminierung und Zweifeln an ihrer nationalen Loyalität aufgewachsen und hat das Gefühl, nicht als „echte“ Amerikaner/innen zu diesem Land zu gehören.

Schriftsteller Ta-Nehisi Coates beschreibt in seinem 2015 erschienenen Buch Between the World and Me ein Gefühl der Unbeteiligtheit, als er die Twin Towers einstürzen sah. Als schwarzer Amerikaner, geprägt von dem tief in Institutionen wie der Polizei verankerten Rassismus, fiel es ihm schwer, selbst an einem Tag der nationalen Tragödie ein Gefühl von Patriotismus aufzubringen.

Damit hat Coates sicherlich eine Kontroverse ausgelöst. Insbesondere diese Passage wurde heftig kritisiert, doch gibt es immer mehr Raum im amerikanischen Diskurs, in dem diese institutionell verankerte Ungerechtigkeit kritisiert werden kann. Der Gedanke, dass die USA durch ihre Außenpolitik Terrorismus selbst heraufbeschworen haben könnten, wird immer häufiger geäußert.

Das Vermächtnis der Vereinigten Staaten im Nahen Osten, die Geschichte des systemischen Rassismus, die aktuellen Versäumnisse bei Strafverfolgung, Strafjustiz, Zugang zu Gesundheitsversorgung und wirtschaftlicher Mobilität machen die Idee des amerikanischen Exzeptionalismus unter amerikanischen Progressiven heutzutage lächerlich.

Dass die Tragödie vom 11. September 2001 dazu manipuliert wurde, um einen uneingeschränkten Krieg gegen den Terror zu rechtfertigen, wurde heftig kritisiert, Viele behaupten, dass dieses Angstnarrativ gegenüber einem ausländischen Feindbild den Aufstieg Trumps ermöglicht hat und dass China mit einer ähnlichen Rhetorik seine brutale Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uiguren rechtfertigt.

Die Proteste gegen rassistisch motivierte Polizeigewalt und das Erstarken von Rechtsextremismus und White Supremacy haben viele Amerikaner/innen gezwungen, sich mit einem tief verwurzelten Rassismus auseinanderzusetzen, von dem die populäre Rhetorik behauptet hatte, wir hätten ihn bereits überwunden. Nun werden die Lehrpläne der Schulen zum Schauplatz dieser erbitterten Spaltung darüber, wie wir unserer Geschichte gedenken.

Millennials, die ungefähr zwischen 1980 und 1995 geborene Generation, sind diverser, weniger religiös und gebildeter als ältere Amerikaner/innen. Sie sind extrem stark online unterwegs, studieren öfter im Ausland und gehen seltener zum Militär. Während die Millennials Obama voll unterstützten, waren sie später geteilter Meinung darüber, ob er wirklich den versprochenen Wandel herbeigeführt hat. Seit Jahren sind sie skeptisch gegenüber der traditionellen Rhetorik, Amerika sei ein Land der Freiheit und der Möglichkeiten und ein Befreier unterdrückter Völker.

Während junge Amerikaner/innen in den letzten Wochen mit Entsetzen das katastrophale Ende eines weit entfernten Krieges verfolgten, haben sie sich vielleicht zum ersten Mal wirklich mit einem Konflikt auseinandergesetzt, der „allgegenwärtig war, doch unsichtbar genug, um ihn zu ignorieren”. Viele fragen sich, warum wir überhaupt dort waren, und ob unsere Regierung die richtigen Entscheidungen getroffen hat.

Der zwanzigste Jahrestag eines Ereignisses, an das sie sich vielleicht gar nicht mehr erinnern können, rückt Fragen in den Mittelpunkt, die wir uns nun schon seit einigen Jahren stellen: über den Platz Amerikas in der Welt und inwieweit wir unseren Idealen gerecht geworden sind. Obwohl die Amerikaner/innen immer noch stark polarisiert sind, haben sie heute weniger Scheu denn je, sich diesen Fragen zu stellen.