Griechenland: Die Deutschen haben ihre Rolle in Europa nicht verstanden

Kommentar

Der Ausgang der Bundestagswahl hat keine klaren Mehrheiten ergeben. Das liegt nicht nur am fehlenden Modernisierungswillen in der Bundesrepublik. Es zeigt auch: Die Deutschen sind sich ihrer Verantwortung in Europa nicht bewusst.

Bundestatagkuppel schwarz/weis

Es hat etwas Skurriles als Deutscher in Griechenland die Bundestagswahl und die Nachbeben derselben zu verfolgen. Die griechische Presse ist voll von Artikeln und Kommentaren zur Situation in der Bundesrepublik. Gleichzeitig wird, beinahe unbemerkt, eine Woche vor der Wahl ein gefängnisartiges Lager für Asylsuchende auf Samos eröffnet; vollfinanziert von der Europäischen Union und in sich ein Symbol für das Scheitern europäischer Migrationspolitik. Europäische Themen sind in Griechenland allgegenwärtig: Soziale Ungerechtigkeit, der Konflikt mit der Türkei, Braindrain. Dabei steht für viele Griech*innen fest: Berlin gibt den Ton an in Europa. Deutschland ist überall präsent in der EU. Doch sind die EU und der europäische Gedanke auch präsent in Deutschland? Mit einem zweiten Blick auf die Bundestagswahl 2021 ist dies stark zu bezweifeln.

Von Griechenland aus ist kaum zu begreifen, wie das Thema Migration, der Klimaschutz oder der Konflikt zwischen Europa und der Türkei in Deutschland Nischenthemen sind. Ja, immer mal wieder redet man drüber, eben dann, wenn Situationen eskalieren, wie der Brand im Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos, oder als der türkische Präsident Erdogan tausende von Asylsuchende teilweise mit Bussen an die griechisch-türkische Grenze brachte. All dies hat auch mit regionalen Konflikten zu tun, die häufig vergessen werden. Die kulturelle und politische Heterogenität Europas könnte eine Stärke des Staatenbundes sein, doch sie ist komplex. Vom Rande Europas aus scheint es, als ob diese Komplexität an Deutschland abprallt und auf das Leben der Menschen dort keinen Einfluss hat. Doch globale Veränderungen machen auch vor der wohlhabenden Bundesrepublik keinen Halt. Dort bevorzugt man einfach, sich damit nicht auseinanderzusetzen. Die beiden traditionell großen Parteien SPD und CDU, die sich selbst als Volkspartei und Fels in der politischen Brandung Deutschlands betrachten, mussten bei der Bundestagswahl nun den Preis einer Politik zahlen, die nicht vermochte, das Land global zu positionieren. Das reichste Land Europas steht vor einer Situation, in der sich die alten Parteien selbst nicht wiedererkennen.

Eine Wahl ohne Sieger

Hauchdünn, mit nicht einmal zwei Prozent Vorsprung, entscheidet die SPD von Olaf Scholz die Wahl für sich. Für ihn und für viele Menschen, die den Wahlkampf mitverfolgt haben, dürfte das eine Überraschung sein. Nachdem Annalena Baerbock von den Grünen mit der Nase vorn ins Rennen startete, und sich die Medien vor allem auf sie und CDU-Kandidat Armin Laschet konzentrierten, war Olaf Scholz zu Beginn des Wahlkampfs eigentlich kaum präsent. Erst medial aufgeputschte Skandale wie der um Baerbocks Lebenslauf oder Armin Laschets peinlichen Lacher nach der Flutkatastrophe, hatten den Sozialdemokraten aus der Senke ans Licht der Öffentlichkeit emporgehoben.

Kein Wunder also, dass sich keine der Parteien über das Ergebnis der Wahl so richtig freuen kann. Die Grünen enttäuscht auf dem dritten Platz, wenn auch mit dem besten Ergebnis auf Bundesebene seit Parteigründung. Die CDU ist mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte der klare Verlierer. Armins Laschets Ansprüche auf die Regierungsverantwortung wirken wie die verzweifelten Hilferufe eines alten, weißen Mannes, der in der Post-Merkel CDU einfach keinen Rückhalt findet. Seine Schwächen waren das einzige Ass im Ärmel von Olaf Scholz, dessen knapper Wahlsieg wohl kaum etwas mit dem SPD-Wahlprogramm zu tun haben dürfte. Dass die Cum-Ex-Skandale am Finanzminister der großen Koalition von Angela Merkel einfach abgeprallt sind, zeigt, wie erstaunlich gering das Interesse der Deutschen an Themen von internationaler Relevanz ist.

Deutschland dreht sich um sich selbst

Von der europäischen Peripherie aus betrachtet aber wirkt eben diese Indifferenz eines Landes verstörend, das sich als Zugpferd Europas definiert, ohne dabei eine europäische Richtung zu definieren, geschweige denn glaubhaft zu vermitteln. Das dürfte wohl auch daran liegen, dass der Wohlstand der viertstärksten Wirtschaftsmacht der Welt immer noch genügend Pufferzone lässt, um Probleme auszublenden, die für andere Europäer*innen längst Lebensrealität geworden sind. Auf Griechenland trifft das in besonderem Maße zu. Für viele, vor allem junge Menschen, ist das Leben nach der Finanzkrise weiterhin geprägt von Perspektivlosigkeit. Viel zu geringe Löhne, viel zu wenig Arbeitsplätze für Hochqualifizierte: Die Auswanderungsrate ist enorm. Die ärmeren Länder Europas bluten aus.

Davon profitiert die Bundesrepublik. Sie ist und bleibt Europas Mekka für junge Menschen, die in ihren Herkunftsstaaten keine Zukunft sehen. Daran sind nicht allein Berlin und Brüssel Schuld. Milliarden an Fördergeldern verpuffen im bürokratischen Sumpf von Sofia, Bukarest oder Athen. Soziale Ungleichheit und die Komplexität einer gemeinsamen europäischen Realität treiben viele Menschen zurück in den Nationalismus. Auch in Deutschland ist dies der Fall. Doch eben nicht nur in Form der rechts-nationalen Alternative für Deutschland, sondern im für die Bundesrepublik typischen Kursieren um sich selbst. Seit der Finanzkrise sieht man sich in Deutschland gern als den Wohltäter der EU. Wähler*innen aber überzeugt man mit europäischen Themen nicht. Ein paar Floskeln hier, ein paar Solidaritätsbekundungen dort: Europa hat im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt.

La CDU – c‘ est moi

In Deutschland herrscht kaum ein Bewusstsein für die massiven Herausforderungen auf europäischer Ebene oder dafür, welche Rolle das Land bei alldem spielt, bzw. welche Konsequenzen ein Scheitern Europas für die Deutschen haben könnte. Während man in Berlin hofft, bis Weihnachten eine Koalition zu bilden, wird man in Brüssel ungeduldig, da das Fehlen einer handlungsfähigen Bundesregierung wichtige Entscheidungen auf Europaebene hinauszögert. Die Welt wartet auf ein Land, in dem innenpolitisch Ratlosigkeit herrscht, und dessen zögerliche Außenpolitik Vakua entstehen lässt, in denen antieuropäische Mächte immer mehr Rückenwind gewinnen.

Angela Merkel wird international gefeiert, in vielerlei Hinsicht auch nicht zu Unrecht. Irgendwie hat sie es geschafft, auf der großen Bühne internationaler Krisen Glaubwürdigkeit zu wahren. Weichen gestellt hat sie dabei aber nie. Die ewige Finanzkrise, jetzt die Flüchtlingskrise: Die Kanzlerin konnte vor allem als Managerin von Eskalationen scheinen, die sich über Jahre entwickelt hatten. Ihr parteipolitisches Vermächtnis dagegen ist fatal. Ihr intuitives Verständnis für Macht hat die CDU von Innen zerstört. Unter ihr ist die Partei zu einer One-Woman-Show geworden, in der die Förderung möglicher Nachfolger*innen eigentlich nie eine Rolle spielte. Am Beispiel Armin Laschets oder Annegret Kramp-Karrenbauers wird dies besonders deutlich. Dass die CDU niemanden zur Wahl aufstellten konnte, der die Partei im Jahr 2021 glaubwürdig vertritt, ist eben auch eine Konsequenz von 16 Jahren Angela Merkel.

Die SPD der Bundeskanzlerin

Derweil war der rechte Flügel der CDU, allen voran Friedrich Merz, schon lange auf Kriegsfuß mit Angela Merkel und ihrer Solopolitik der Mitte. In acht Jahren großer Koalition sind die beiden ehemaligen Volksparteien zu einer homogenen Masse verschmolzen, die den politischen Diskurs nachhaltig verändert hat. Egal ob man nun konservativ oder sozialdemokratisch ist: die Demokratie lebt von der Auseinandersetzung. Eben diese aber fand im Gemenge der großen Koalition allenfalls während der Koalitionsverhandlungen statt. Im politischen Alltag ging es dann vor allem darum, gute Miene zum bösen Spiel zu wahren. Zähneknirschen von der Basis beider Parteien, während das Ministerkabinett Minimalkompromisse präsentierte.

Die SPD hat darunter besonders gelitten, weil sie eben nur der zweite Partner im Bunde war. Was auch immer die große Koalition an Erfolgen verbuchen mag: Sie gelten als Erfolg der Kanzlerin. Selbst die von der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder durchgeführte Agenda 2010 wird zu Gunsten Angela Merkels ausgelegt, eben auch, weil die SPD sich mit der vielleicht überfälligen, aber gleichzeitig viel zu radikalen Reform des Sozialstaates ihre eigene Wählerschaft vergraulte. Die Agenda 2010 war nicht weniger als das letzte Stück Parkett, das Angela Merkel ihren langen Weg zum Amt der Bundeskanzlerin bahnte. Als sie 2005 Regierungschefin wurde, hatte die SPD bereits ihre Glaubwürdigkeit als sozialdemokratische Kraft verloren. Das Scheitern der FDP an der 5-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2013 läutete dann die letzte Phase ein, in der die SPD ihre thematische Eigenständigkeit als Partei aufgab. Olaf Scholz, der Sieger der diesjährigen Bundestagswahl, ist Kandidat einer sozialdemokratischen Partei, die als solche eigentlich nicht mehr erkennbar ist. Viele Wechsel an der SPD-Spitze, ewige Personaldebatten und tiefgreifende Konflikte mit der Parteibasis: Für die Wähler*innen in Deutschland ist Scholz kein Hoffnungslicht einer Partei der arbeitenden Bürger*innen, sondern neben Armin Laschet  das geringere Übel der gleichen Bande.

Zeit für die neue Generation

Auch am Leben in Deutschland sind die vergangenen 16 Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Die sozialen Gräben werden tiefer, der allgemeine Ton rauer. Und während man sich bei der CDU und SPD fragt, warum die jungen Menschen kein Interesse mehr an ihnen zeigen, hat die neue Generation längst andere Lösungen gefunden. 21 Prozent der Wähler*innen unter 25 hatten der FDP ihr Kreuz gegeben, 23 Prozent den Grünen. Auch deswegen sind die Sondierungsgespräche zwischen beiden Parteien, bevor es in die Verhandlungen mit der SPD, und vielleicht auch mit der CDU geht, nicht nur ein Novum, sondern ein wichtiges Zeichen. Die alternden Volksparteien stehen nur noch aus Traditionsbewusstsein im Spotlight. Die Wahlergebnisse zeigen, dass sich die Gesamtbelichtung auf der politischen Bühne deutlich geändert hat. Dies muss nun auch Einzug in das politische Leben finden. Dabei müssen vor allem Kommunikationskonzepte neu gedacht werden. Parteien müssen lernen, die Bürger*innen in ihrer Verantwortung innerhalb der Gesamtheit demokratischer Prozesse wahrzunehmen, und nicht nur als Kreuzchen-malendes Vierjahresphänomen.

Es geht nicht darum, sich in Talkshows durch Floskeln wie: „Der Wille der Wählerinnen und Wähler“ oder „im Interesse der Bürgerinnen und Bürger“ selbst davon zu überzeugen, in der Kommunikationskrise zwischen Politik und Volk eine Ausnahme darzustellen. Die Politik braucht keine jubelnden Massen oder lange Gesichter bei Wahlpartys, sondern Menschen, die sich der Komplexität eines demokratisch-freiheitlichen Systems bewusst sind, auf dieser Basis Entscheidungen treffen und die Politik ihrer Parteien vorausschauend mittragen. Dazu gehört politische Bildung in Schulen, auch auf paneuropäischer Ebene, politische Kommunikation, in der die großen Herausforderungen Europas auch als innerdeutsche Probleme wahrgenommen werden, und die Förderung des politischen Nachwuchses.

Deutschland muss aufhören, nur um sich selbst zu kreisen, nicht nur für das Wohlsein anderer Staaten, sondern im ureigenen Interesse der Deutschen selbst. Dabei müssen die Parteien den Menschen mehr zutrauen, Konflikte eingehen und Reibung akzeptieren. Bei zentralen Themen wie dem Klimaschutz oder einer gemeinsamen, europäischen Verteidigungs- und Finanzpolitik wird ein Kuschelkurs kaum zu Resultaten führen. In welcher Koalitionsform auch immer das Land in den nächsten vier Jahren regiert werden wird: Die Parteien werden eine Semantik finden müssen, die das Land auf einen international handlungsfähigen Kurs bringt. Viel Wohlstand bedeutet eben auch viel Verantwortung. Die Parteien haben jetzt die Aufgabe, den Bürger*innen genau dies zu vermitteln.