Das “leise” zivile Engagement zeitgenössischer Kunst in Kambodscha

Hintergrund

Obwohl die politischen und sozialen Gegebenheiten für freie Meinungsäußerung begrenzt sind, finden kambodschanische Künstler*innen vielfältige Formen des kreativen Ausdrucks, um komplexe urbane, soziale und ökologische Probleme kritisch zu behandeln.

Khvay Samnang, Preah Kunlong, 2016-2017, digital c-print, 80 x 120 cm. Courtesy the artist
Teaser Bild Untertitel
Khvay Samnang, Preah Kunlong, 2016-2017, digitaler C-Druck, 80 x 120 cm. Vom Künstler zur Verfügung gestellt.

Kunst als ziviles Engagement

Khvay Samnang, Ohne Titel, 2011, digitaler C-Druck, 80 × 120 cm. Vom Künstler zur Verfügung gestellt.
Khvay Samnang, Ohne Titel, 2011, digitaler C-Druck, 80 × 120 cm. Vom Künstler zur Verfügung gestellt.

Seit der Einführung einer neuen Verfassung in 1993 hat Kambodscha einen für ein so kleines Land beispiellosen Wandel verzeichnet. Mit dem Zustrom ausländischer Entwicklungsgelder und einer Wiederaufbaumission ist Veränderung in den letzten drei Jahrzehnten allgegenwärtig und zur “Normalität” geworden. Städtische, soziale und ökologische Umbrüche werden immer wieder von Kambodschanischen Künstler*innen unter eine kritische Lupe genommen. Viele Künstler*innen reagieren mit Kunst auf die Veränderungen, weil sie entweder selbst betroffen sind oder sich zum Ausdruck verpflichtet fühlen, da die Regierung die Möglichkeiten zur freien Meinungsäußerung systematisch unterdrückt. Dieser politische Kontext fordert Künstler*innen wiederum heraus, besonders kreativ und strategisch mit ihrer visuellen Sprache umzugehen. Sie bewegen sich zwar in einem kleinen, jedoch stetig wachsenden künstlerischen Umfeld, aber beanspruchen keinen direkten gesellschaftlichen oder politischen Einfluss durch ihre Kunst oder ihre Person. Die Kunstwerke zirkulieren vor allem in privaten und gemeinschaftlichen Galerien und sind in der kambodschanischen Öffentlichkeit nicht sehr bekannt. Trotzdem ist diese “leise” Form des kreativen Ausdrucks nicht nur ein politischer, sondern auch ein Ausdruck zivilen Engagements.

Links: Eng Rithchandaneth, Rooted, 2019, Grassamen, Grass, Erde.
Eng Rithchandaneth, Rooted, 2019, Grassamen, Grass, Erde.

Khvay Samnang

Khvay Samnang ist ein gutes Beispiel für einen Künstler, der die rasante Stadtentwicklung Phnom Penhs mit ihren alarmierenden Folgen kritisch ins Visier nimmt. Samnang spricht kühn über die aggressive Praxis der Stadt, Seen mit Sand zuzuschütten, um neue Gebäude zu errichten, was die Vertreibung tausender armer Stadtbewohner*innen und die Zerstörung natürlicher Ökosysteme zur Folge hat. In seiner Performance Untitled (2011) besucht er mehrere Seen in Phnom Penh, die bereits mit Sand aufgeschüttet worden sind oder denen dies noch bevorsteht. Er steigt ins Wasser und schüttet einen Eimer Sand über seinen Kopf und seinen halb untergetauchten Körper, während die Bilder im Hintergrund zeigen, wie Häuser abgerissen oder überflutet werden. Samnangs performative Fotografien vermitteln dem Publikum eine eindringliche Sinneserfahrung über das Leben an den Seen und die Existenzen der Seen, die bedroht sind.

Eng Rithchandaneth, Colony, 2020, paper marche, mesh, glue. Courtesy the artist and Sa Sa Art Projects.jpg
Eng Rithchandaneth, Colony, 2020, Pappmaché, Netz, Klebstoff. Von der Künstler*in und Sa Sa Art Projects zur Verfügung gestellt.

Eng Rithchandaneth

Während Samnang eine direkte visuelle Kritik übt, erforschen andere Künstler*innen eher die Metapher und Poesie ihres künstlerischen Mediums. In der Installation Rooted (2019) von Eng Rithchandaneth, beispielsweise, pflanzt die Künstlerin Grassamen in ein leerstehendes Haus eines belebten Viertels Phnom Penhs. Innerhalb von zwei Wochen breitet sich das Gras im ganzen Haus aus und bedeckt den Boden, die Wände bis hin zur Decke. Rithchandaneth bezieht diese schnelle Ausbreitung auf den wild wuchernden Bau von neuen Gebäuden im urbanen Raum, die die Geschichte der Stadt begraben. Die Künstlerin behandelt diese Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit städtischer Entwicklung auch in ihrem späteren Werk Colony (2020), einer Installation organischer Formen von scheinbar von Insekten gebauten Hügeln, die einen ganzen Galerieraum einnimmt. Die Auseinandersetzung mit dem Organisationssystem von Insekten ist auch eine Anspielung auf die wachsende Macht des Staates.

Sao Sreymao, LSS2 - Das letzte Familienfoto 1, Under the Water project, 2018, digitaler C-Druck. 60 x 90 cm.
Sao Sreymao, LSS2 - Das letzte Familienfoto 1, Under the Water project, 2018, digitaler C-Druck. 60 x 90 cm.

Sao Sreymao

Phnom Penh ist für viele Künstler*innen inhaltlich ein bereichernder Ort für künstlerische Produktion. Es gibt aber auch Künstler*innen, die sich außerhalb der urbanen Geografie orientieren und stattdessen den ländlichen Raum und die Herausforderungen der dort ansässigen Gemeinschaften in den Blick nehmen. So zum Beispiel die Umweltpädagogin und Künstlerin Sao Sreymao, die im Site-2-Flüchtlingslager geboren wurde und im nördlichen Kambodscha aufgewachsen ist. Ein Projekt, das ihren Ansatz am besten widerspiegelt, heißt "Under the Water" und besteht aus einer Reihe von Fotografien, die mit digitalen Skizzen überzogen sind. Auf poetische und eindringliche Weise entwirft Sreymao Bilder von sich verändernden und verschwindenden Gemeinden entlang des Mekong und seiner Nebenflüsse im Norden Kambodschas, die von der vom Menschen verursachten Umweltzerstörung betroffen sind - insbesondere von Überschwemmungen, die durch den Bau von Dämmen verursacht werden.

Sao Sreymao beim Anzünden des Kerzendorfes.  Von der Künstlerin und Sa Sa Art Projects zur Verfügung gestellt.
Sao Sreymao beim Anzünden des Kerzendorfes. Von der Künstlerin und Sa Sa Art Projects zur Verfügung gestellt.

Ende 2017 wurde ein gesamtes Dorf in Srekor in der Provinz Strung Treng vollständig überflutet, nachdem der neu gebaute flussabwärts gelegene Lower Sesan 2-Damm einige Monate zuvor seine Tore geschlossen hatte. Infolgedessen waren etwa fünftausend Menschen, darunter viele einheimische Bunongs, die seit Generationen an den Ufern des Sesan-Flusses leben, gezwungen, umzusiedeln. Einige ihrer Bilder zeigen die nun verwahrlosten Häuser in Srekor, die mit Schichten von schmutzigen Farbeffekten und Zeichnungen von vermeintlich vertriebenen Familien und Dorfbewohnern unter Wasser bedeckt sind. Einige Familienfiguren stehen vor ihren Häusern, als würden sie ihre Existenz gegen das Wasser abgrenzen. Hinter ihnen weisen die auf die Häuser geschriebenen Texte auf ihren Protest gegen das Projekt des Lower Sesan 2 Damms hin. Dieses brutale Ereignis lässt sich durch die Performance-Skulptur von Sreymao sehr nachempfinden. Aus Wachs formt die Künstlerin das Dorf mit seinen Häusern und menschlichen Figuren in Miniatur und platziert sie auf einer Spiegelfolie, die das Wasser symbolisieren soll. Danach zündet sie die Wachsfiguren wie Kerzen an und beobachtet, wie sich das Dorf durch das Schmelzen auflöst.

Koeurm Kolab, Collection, 2020, acrylic on canvas, 70 x 75 cm. Courtesy the artist and Sa Sa Art Projects.JPG
Koeurm Kolab, Collection, 2020, Acryl auf Leinwand, 70 x 75 cm.

Koeurm Kolab

Der physische Ort ist nicht die einzige Voraussetzung, unter der kambodschanische Künstler ihre Kunstwerke schaffen. Auch die sozialen und ökologischen Gegebenheiten im Allgemeinen sind für viele ein Grund zur Auseinandersetzung. In einer Gemäldeserie mit dem Titel Anonymous Heirloom (2020) präsentiert die Künstlerin und Kunstlehrerin Koeurm Kolab aus Battambang die heutige Krise, die durch die Verwendung von Plastik verursacht wird. Sie malt faszinierende und farbenfrohe Szenarien einer Welt, in der der durch den menschlichen Konsum verursachte Plastikmüll das Wohlergehen und Leben von Menschen, Tieren und der Natur bedroht. Unser gestörtes Verhältnis zu Plastik kann nicht besser dargestellt werden als in einem von Kolabs Gemälden mit dem Titel Collection, in dem Realität und Illusion miteinander verschmelzen. Aus der Ferne scheint das Gemälde einen Schwarm bunter, halbtransparenter Fische darzustellen, die anmutig im friedlichen, tiefblauen Wasser schwimmen. Bei näherem Hinsehen handelt es sich jedoch in Wirklichkeit um Plastiktüten. In einem anderen Werk aus derselben Serie, Float, hängen sowohl Menschen als auch Tiere, Vögel und Meerestiere von schwebenden Plastiktüten herab, die mit schwarzem Gas gefüllt sind und den Himmel bedecken. Kolabs Gemälde sind herrlich fesselnd und doch trügerisch. Sie werfen die Frage auf, ob wir in dieser bunten Plastikwelt leben und uns darin verlieren wollen und an wen und wie viele Generationen wir dieses "Erbstück" weitergeben wollen.

Koeurm Kolab, Float, 2020, acrylic on canvas, 70 x 135 cm. Courtesy the artist and Sa Sa Art Projects
Koeurm Kolab, Float, 2020, Acryl auf Leinwand, 70 x 135 cm. Von der Künstlerin und Sa Sa Art Projects zur Verfügung gestellt.

Chov Theanly

Die Gemäldeserie The Rise (2019) von Chov Theanly und seine Vorgängerwerke veranschaulichen auf dramatische Weise den Kampf der Menschen, sich gerade noch über Wasser zu halten. Der Autodidakt stellt Porträts kambodschanischer Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen und Altersgruppen vor, vor allem Menschen mit niedrigem bis durchschnittlichem sozialem und finanziellem Status. Unter ihnen sehen wir einen Achar (ein älterer Mann, der bei buddhistischen Zeremonien assistiert), eine ältere Dame, eine Studentin, einen jungen Mann, der ein Krama (ein kambodschanisches Tuch) trägt, eine Braut und einen buddhistischen Mönch. Die meisten von ihnen stehen auf Zehenspitzen und heben den Kopf. Hinter ihnen befindet sich ein monochromer Hintergrund, der durch eine horizontale Linie, die direkt unter den Nasen der Figuren verläuft, in zwei Farbschattierungen unterteilt ist. Diese minimalistische Darstellung spricht Bände über die einfachen Verhältnisse der Menschen. Dennoch scheinen diese Menschen nicht zu ertrinken, sondern sich aufzurichten und zu erheben. Theanlys ruhigen und bedeutungsträchtigen Gemälde spiegeln eine stille Spannung zwischen dem anmutigen menschlichen Handeln inmitten einer erdrückenden Kraft wider.

Chov Theanly, Krama, 2019, oil on canvas, 80 x 120 cm. Courtesy the artist and Batia Sarem Gallery
Chov Theanly, Krama, 2019, Öl auf Leinwand, 80 x 120 cm.

Samnang, dessen frühere Arbeiten sich mit den Aswirkungen der städtischen Entwicklung auseinandersetzen, befasst sich nun mit der menschlichen, natürlichen und spirituellen Welt in einem anderen Teil des Landes, der von kapitalistischer Ausbeutung bedroht ist. In Preah Kunlong (The Way of Spirit) (2016-2017) produziert er in Zusammenarbeit mit der Tänzerin Nget Rady ein Performance-Video und eine fotografische Arbeit. Das Projekt findet im Areng-Tal im südlichen Teil Kambodschas statt, das als umstrittene Zone des Landes gilt und eine der letzten intakten Wälder Südostasiens darstellt. Preah Kunlong zeigt einen menschlichen Körper, der verschiedene Masken in der Form der Köpfe bedrohter Tiere trägt, die aus einer einheimischen Rebe hergestellt sind, und in einer üppigen Naturlandschaft auftritt. Der menschliche Körper scheint mit den Köpfen der Tiere zu verschmelzen und sich in ein anderes Wesen zu verwandeln. Hier verschmelzen Mensch, Tier, Geist und Natur und werden zu einer Einheit. Sie atmen, quietschen, schnattern, brüllen und weinen, während sie tanzen, kämpfen und sich von einem Ort zum anderen bewegen, als würden sie ihr Territorium beanspruchen. In Preah Kunlong vermitteln die Künstler*innen die Sorgen und die Widerstandsfähigkeit der indigenen Gemeinschaften in Areng, deren jahrhundertelange Lebensgrundlage eng mit dem Wald und ihren Schutzgeistern verbunden ist.

Chov Theanly, Noodle Seller, 2016, oil on canvas, 70 x 100 cm. Courtesy the artist and Batia Sarem Gallery
Chov Theanly, Noodle Seller, 2016, Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm. Vom Künstler und der Batia Sarem Gallery zur Verfügung gestellt.

Obwohl die politischen und sozialen Gegebenheiten für freie Meinungsäußerung begrenzt sind, finden kambodschanische Künstler*innen vielfältige Formen des kreativen Ausdrucks, um komplexe urbane, soziale und ökologische Probleme kritisch zu behandeln. In ihren künstlerischen Aktionen und ihrer Bildsprache vermitteln sie sowohl direkte als auch poetische Botschaften und bereichern so das Verständnis des Publikums für das zeitgenössische Kambodscha. Sie weisen auch auf die kreativen und widerstandsfähigen Gemeinschaften Kambodschas hin, die über ein reiches indigenes Wissen und Taktiken verfügen, um zu reflektieren, zu reagieren und ihre bürgerliche Handlungsfähigkeit auszuüben - auch wenn ihr künstlerisches Engagement für die breite Öffentlichkeit als "leise" empfunden wird.



Übersetzt von Caroline Bertram.