Wie wird die Chemieindustrie zukunftsfest?

Tagungsdokumentation

Konferenz "Baustelle: Zukunftsfeste Industrie #5". Dritter Konferenztag, 2. Juni 2021: "Wie wird die Chemieindustrie zukunftsfest" Impuls-Vortrag von Sonja Jost und Panel-Gespräch mit Jutta Paulus, Dr. Kajsa Borgnäs, Christian Schubert und Sonja Jost.

Illustration mit der Aufschrift "Input  Chemieindustrie im Zukunftscheck

 

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Impuls-Vortrag

Sonja Jost, CEO DexLeChem

 

Zusammenfassung

Sonja Jost beschrieb, dass fossile Rohstoffen im gesamten System der Chemieindustrie eine zentrale Rolle spielten. Technisch und wirtschaftlich seien Ersatzprodukte möglich, sie werden bisher aber nicht ausreichend gefördert. Mit einer Kombination aus politischen „Push- und Pull-Strategien“ könnte die chemische Industrie in Richtung Nachhaltigkeit gelenkt werden.

Wege zur grünen Chemieindustrie

Die Extraktion und Verwendung von Erdöl und Erdgas schaden der Umwelt und dem Klima enorm. Eine nachhaltige Verbundnutzung von Biomasse könne eine Alternative zu Erdöl und Erdgas darstellen, so Sonja Jost. Die Prozesse der destillativen Trennung und Spaltung der Rohstoffe bei hohen Temperaturen sind zudem sehr energieintensiv. Der enorme Energiebedarf der chemischen Industrie könne durch CO2-Bepreisung und höhere Effizienzstandards eingedämmt werden. Eine weitere Herausforderung bestehe in giftigen Stoffen und ihrer Anreicherung in der Umwelt. Hier fehle es an Regulierung auf deutscher und europäischer Ebene. Außerdem seien die Wertschöpfungsketten der chemischen Industrie wie ein Kartenhaus: Werden einzelne Bausteine ausgetauscht, ohne die Folgen für die Verbundstrukturen zu berücksichtigen, könne das ganze System zusammenbrechen.
Der Umbau der „alten“ Chemieindustrie genüge aber nicht, es brauche auch innovationsfördernde Regulierung, denn: „invention follows regulation“. Als Beispiel nannte Sonja Jost das Verbot von FCKW, das einen wirtschaftlichen Weg für umweltschonende Kühlmittel freimachte.

Verbundstrukturen und verflochtene Wertschöpfungsketten in der chemischen Industrie hemmten umweltfreundliche Innovationen. Zudem fehle es an einer Industrieförderung, die zu Chemie-Start-ups passt. Start-ups könnten von spezieller Förderung profitieren oder auch von längeren Patent-Laufzeiten für nachhaltige Produkte. Für die Pharma-Industrie wäre es ein Anreiz nachhaltiger zu produzieren, wenn Krankenkassen Nachhaltigkeitskriterien bei der Auftragsvergabe anlegten: Wie nachhaltig wurde das Medikament hergestellt und wie wirken die Arzneistoffe, wenn sie in die Umwelt gelangen und von dort aus wieder in Organismen (Bioakkumulation)?

Panel-Gespräch

mit

  • Jutta Paulus (MdEP, Die Grünen/EFA),
  • Dr. Kajsa Borgnäs (Geschäftsführerin, Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE),
  • Christian Schubert (Vicepresident und Head of Corporate Government, BASF),
  • Sonja Jost (CEO DexLeChem)

Zusammenfassung

Die Panelist:innen stellten unisono fest, dass Klimaschutz und Ressourcenschutz die traditionelle Chemieindustrie stark herausfordert. In Bezug auf Klima- und Ressourcenschutz sei die Chemieindustrie Teil des Problems, kann aber auch Teil der Lösung werden. Dafür bräuchte es ein neues Miteinander der verschiedenen Akteure und idealerweise einen „Masterplan“, der die Zusammenhänge in den Wertschöpfungsketten einbezieht. Dabei ist Transformation sowohl an der Rohstoffquelle als auch bei den Energieträgern gefragt.

Klimaverträge unterstützen Unternehmen beim Umbau

Carbon Contracts for Difference (CCfD) sind ein klima- bzw. industriepolitisches Instrument zur Förderung von klimafreundlichen Investitionen in der Industrie. Diese „Klimaverträge“ werden zwischen einem Staat und einem Investor (Industrie-Unternehmen) geschlossen.

Die Panelist:innen befürworteten CCfDs als ein Instrument mit dem CO2-Emissionsminderungen über den aktuellen EU-ETS hinaus belohnt werden. Christian Schubert und Kasia Borgnäs merkten an, dass in der chemischen Industrie nur langlaufende und umfassende CCfDs zielführend seien. Die Verträge müssten über gut 20 Jahre laufen und Investitionssicherheit läge nur vor, wenn die volle Differenz zwischen alter und neuer Technologie ohne Berücksichtigung von CO2-Kosten gleichbleibend ausgeglichen würde. Diese ist vollständig unabhängig von einem EU-ETS Preis.

Herr Schubert sagte, CCfDs seien besser als Quoten oder Klimazölle (CBAM). Er wies darauf hin, die Vorstellung in anderen Ländern wie China würde Klimaschutz vernachlässigt, entspräche nicht unbedingt der Realität. Vielmehr müsse man aufpassen, dass Unternehmen im Ausland nicht billiger CO2-frei produzieren könnten als in Deutschland. Er wolle „keine Dauerförderung“ und die Bundesregierung müsse schnell handeln, um in zwei bis drei Jahrzehnten Klimaneutralität zu erreichen. Denn die Unternehmen müssten die Pilotanlagen bauen (zehn Jahre) und dann müssten die Pilotanlagen auf Massenproduktion skaliert werden (noch mal zehn Jahre).

Diskussion um Wasserstoff

Wasserstoff ist für die chemische Industrie sehr wichtig, denn Wasserstoff ist Bestandteil von Basischemikalien wie Ammoniak und Methanol. Die chemische Industrie ist der größte Nutzer von Wasserstoff, der heute fast ausschließlich „grauer“ Wasserstoff ist. Mit grünem Wasserstoff könnte die Klimabilanz der chemischen Industrie enorm verbessert werden. Die Panelist:innen diskutierten darüber, unter welchen Rahmenbedingungen (grüner) Wasserstoff in der Chemie-Industrie verwendet werden könnte.

Frau Borgnäs verwies darauf, dass es möglich sei, dass Wasserstoff ein Standort-Faktor würde. Küstengebiete in den Niederlanden, Dänemark, Spanien und Schleswig-Holstein haben durch Offshore-Wind eine gute Versorgungslage. Der IG BCE sei daran gelegen, dass gute Arbeitsplätze in der chemischen Industrie in Deutschland blieben. Sie sprach sich für möglichst viel heimische Produktion von klimaschonendem Wasserstoff aus. Damit spare man Transportkosten und könne auch (geopolitische) Probleme vermeiden, die durch Energie-Importe entstehen – wie beispielsweise bei North Stream II. Hinsichtlich Ökostrom- bzw. Wasserstoff-Importen vom afrikanischen Kontinent wies sie darauf hin, dass die afrikanischen Staaten diesen Ökostrom selbst gut gebrauchen könnten.

Frau Paulus verwies darauf, dass nur grüner Wasserstoff klimaschonend sei und politisch gefördert werden solle, von Anfang an.

Herr Schubert und Frau Borgnäs wollten sich zu mindestens für eine Marktentwicklung nicht eindeutig auf eine Farbe festlegen. Herr Schubert betonte, dass zur Entwicklung von Infrastrukturen auch blauer Wasserstoff beitragen würde.

Diskussion zur europäischen Chemiekalien-Verordnung

Meinungsverschiedenheiten bestanden zwischen den Panelist:innen auch hinsichtlich notwendiger Reformen der europäischen REACH-Verordnung über Chemikalien. Frau Paulus befand, dass REACH ein wichtiges System für nachhaltige Chemie sei. REACH habe entgegen der Befürchtungen der chemischen Industrie nicht dazu geführt, dass die chemische Industrie keine wichtigen Stoffe mehr herstellen bzw. importieren dürfe. Vielmehr habe es eine Sogwirkung für nachhaltige Stoffe gegeben, eben weil Europa ein großer Leitmarkt sei. Es gebe noch Lücken in REACH, die geschlossen werden müssten. Die europäische Chemikalienagentur habe viel Arbeit damit, einzelne Stoffe zu registrieren und zu bewerten. Wenn der Gruppenansatz vermehrt verfolgt würde, könnte effizienter gearbeitet werden.

Herr Schubert sagte hingegen, bei REACH solle man nicht nur auf Verbote setzen. Er unterstrich die Beobachtung von Frau Paulus, dass REACH (bisher) nicht verhindere, dass immer wieder eigentlich verbotene Grundstoffe über die fertigen Endprodukte in der EU landeten.

Strukturelle Herausforderungen für grüne Chemie

Frau Jost erklärte, dass die Chemie-Industrie in Deutschland sehr heterogen sei, es gebe einige große Konzerne, aber eben auch viele mittelständische Unternehmen und Start-ups, für die die politischen Rahmenbedingungen wenig Anreize für Innovationen in Richtung nachhaltige Chemie-Industrie böten. Frau Jost machte einen Konflikt deutlich: Auf der einen Seite sei es wichtig, dass es Regeln für eine nachhaltige Chemie-Industrie gebe, auf der anderen Seite würden kleinere und jungen Unternehmen mit der Bürokratie auch überfordert. Hier sollte es mehr politische Unterstützung und Beratung von institutioneller Seite geben.
Frau Jost wies außerdem darauf hin, dass nicht jede Innovation ein Fortschritt in Richtung nachhaltige Chemie sei. Innovation bedeute nicht gleich Fortschritt.

Frau Paulus brachte das Konzept des „Benign by Design“, ein Konzept der grünen und nachhaltigen Pharmazie, in die Diskussion ein, dass einen hilfreichen Beitrag zu nachhaltigen Innovationen liefern könne, aber bisher, etwa im Studium, kaum vorkomme. Auch Frau Borgnäs sagte, es fehle noch an Wissen für Ausbildung und Weiterbildung in Richtung Nachhaltigkeit. Für Digitalisierung und Vernetzung der Produktion habe die IG BCE schon Empfehlungen, für Nachhaltigkeit noch nicht.

Publikumsbeiträge

Das Publikum interessierte die Frage, inwiefern die Digitalisierung zur Beschleunigung der Entwicklungsprozesse in der chemischen Industrie beitragen kann. Das Podium sah hier großes Potenzial, sowohl in selbstlernenden Systemen (Machine-Learning) als auch durch wissensbasierte Ansätze wie die Modellierung. Frau Jost sagte, dass viele Prozesse in der Chemieindustrie seit Jahrzehnten nicht angefasst wurden und so modernisiert werden könnten. Hierfür benötigen die (angehenden) Beschäftigen neue Fähigkeiten und Wissen – hier beobachte sie positive Trends in der Branche.

Zudem wurde gefragt, was sich in Ausbildung und Studium ändern muss, um die Transformation der chemischen Industrie zu fördern. Hier verwies Frau Borgnäs auf die Aufwertung der Berufsschulen, aber auch auf die unternehmensinterne und -übergreifende Weiterbildung.

Take-Aways

  • Wir brauchen einen Umbau der „alten“ Chemieindustrie in Bezug auf Rohstoffquellen und Energieträger.
  • Gleichzeitig braucht die „neue“ Chemieindustrie Wachstumsförderung, um Innovationen marktreif zu machen: „Nur mit den richtigen politischen Rahmenbedingungen wird es einen ‚Tesla der Chemieindustrie‘ in Deutschland geben“
  • Gute Regulierung kann Innovationstreiber sein, Verbote machen erfinderisch
  • Die Zeit drängt und die nächste Bundesregierung ist gefragt, einen Masterplan zu entwickeln und die Weichen für eine zukunftsfeste Chemieindustrie zu stellen.