Von Träumen, vom Handeln, vom eigenen Zimmer

Rede

Am 5. März 2021 wurde die Juristin und Frauenrechtsaktivistin Cânân Arın mit dem Anne-Klein-Frauenpreis ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Dilek Mayatürk.

Portrait Dilek Mayatürk

Liebe Gäste, liebe Gäste, die uns aus den bekannten Gründen per Videoschalte begleiten, sehr geehrte Barbara Unmüßig, sehr geehrte Ulrike Cichon, und hochverehrte liebe Cânân Arın, ich möchte Sie alle herzlich begrüßen.

Cânân Arın ist als Juristin und Aktivistin der Frauenrechte und Verfechterin des Feminismus eine Frau mit einer großen Leidenschaft für Literatur, Kino, Theater und Kunst. Daher erlaube ich mir, meine Rede aus einem anderem als dem üblichen Blickwinkel zu beginnen: Unsere Herkunft ist klar: Die Türkei. Da sind innere Konflikte programmiert. Aber es kann keinen guten Film, Roman oder eine Geschichte ohne Konflikte geben; nur aus Konfliktsituationen entstehen starke Geschichten, starke Charakterdarstellungen, starke Frauen, nicht wahr, Cânân Arın?

Die diesjährige Preisträgerin, Rechtsanwältin und seit langen Jahren Verfechterin der Frauenrechte, eine der ersten denkbaren Namen, wenn es um die feministische Bewegung in der Türkei geht, eine der Gründerinnen von Mor Çatı, des ersten Frauenhauses in der Türkei, Cânân Arın, die eine, wie ich meine, Seelenverwandschaft mit der Namensgeberin des Anne-Klein-Frauenpreises verbindet, ist eine solche starke Geschichte und eine solche starke Frau. Und ich werde mich daran versuchen, soweit meine Worte es vermögen, Ihnen diese Geschichte zu erzählen:

Cânân Arın wurde als ältestes Kind einer Familie mit vier Kindern in Ankara geboren. 1951 zogen die vier Geschwister gemeinsam mit der Mutter nach Istanbul. Dort ging sie zur Schule und ihr gelang die Aufnahme an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul. Das Studium des Rechts suchte sie sich bewusst aus, denn für sie ist die Rechtswissenschaft ein Dach, das alle Fachrichtungen unter sich vereint. Und doch sind Cânân Arıns Interessenfelder weit gestreut. Während ihres Rechtsstudiums interessiert sie sich für Philosophie, Soziologie, Film, Pantomime und Ballett. Und sie liest ununterbrochen. Bücher aus dem Bereich Philosophie und Soziologie; aber auch alle Klassiker der Weltliteratur hat sie schon in sehr jungen Jahren verschlungen. Hier möchte ich ihren Bruder Cihan Arın zitieren, der als Architekt in Berlin lebt:

Meine Schwester war unsere Fahnenträgerin in Sachen Unabhängigkeit. Wir erlangten unsere Freiheiten auf dem Weg, den sie uns ebnete. Sie war bei allem immer die erste, die darum kämpfte.”

Diese Sätze erinnerten mich an Cânân Arıns Worte anläßlich eines erst kürzlich gegebenen Interviews: “Die beste Opposition machen eigentlich Frauen.” Ich erlaube mir, diesem Satz noch etwas hinzuzufügen: Frauen machen die beste Opposition und dies eigentlich auch am würdevollsten. Eine Frau, die vor ihrem vierzigsten Lebensjahr zwei Militärputsche in der Türkei erlebte, die Recht studierte und abschloss, ihr Studium in England fortsetzte, aktiv die Frauenbewegung prägte, und sich dazu noch aktiv mit Ballett, Theater und anderen künstlerischen Bereichen beschäftigte – das war in den Jahren damals schwer und, wie ich finde, die denkbar würdevollste Opposition gegen die patriarchalische Gesellschaftsordnung. Ihr Geist, beseelt davon, unter allen Umständen durchzuführen, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hat, kämpferisch und Rechte einfordernd, gepaart mit ihrer künstlerischen Seele, die sich nicht abgibt, bloße Zuschauerin der männlichen Gewalt zu sein, sondern immer dagegen ankämpfend, erinnert mich an die entschlossene Haltung Susan Sontags 1993 in der belagerten Stadt Sarajewo, trotz alledem Becketts Warten auf Godot aufzuführen.

Die Frau, anstatt die Verantwortung ihrer Existenz zu übernehmen, richtet ihre Augen in den Himmel und schaut auf die abstrakte Idee, die Schicksal genannt wird; anstatt zu handeln, stellt sie ihr eigenes Denkmal auf im Feld der Vorstellung; kurzum, anstatt zu denken, träumt sie.”

So Simone de Beauvoir in ihrem Werk Das andere Geschlecht”.   

Ich denke, dass wir Träume brauchen. So heisst im Türkischen der Stamm des Wortes der Gedanke” (düşünce) der Traum” (düş). Träume sind die erste Triebkraft, die uns zum Handeln treibt. Nur birgt der Traum, der nicht ins Denken und Handeln mündet, die Gefahr abstrakter Mauern, die die Frau selbst erschafft und in die sie sich letztendlich eingesperrt hat.

Liebe Cânân Arın, Sie haben sowohl geträumt, als auch gedacht und gehandelt. Wir Frauen haben Ihrem fundierten juristischem Wissen und Ihrem feministischen Kampf sehr viel zu verdanken.

Verdient Geld, schafft euch ein eigenes Zimmer und freie Zeit. Und schreibt, ohne darüber nachzudenken, was Männer dazu sagen würden!”

Virgina Woolf sagte diese Worte sicher, damit Frauen das Schreiben realisieren konnten. Aber in dem Zusammenhang, dass die Frau in der Produktion ihren Platz einnehmen kann, ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit erlangt, sich unabhängig vom Mann denken kann, Entscheidungen treffen kann, ohne im patriarchalischen System manipuliert zu werden und nicht zuletzt, dass sie auf ihren eigenen Füßen stehen kann - damit habe ich immer das Bild von Mor Çatı vor Augen als ein sehr großes Zimmer mit Tausenden von Frauen, das Cânân Arın und ihre feministischen Freundinnen mit dem den Frauen eigenen Gespür gründeten, damit Frauen befreit von der Gewalt und Unterdrückung durch Männer frei atmen können.  

Mor Çatı wurde 1990 gegründet. Dort wird der Kampf gegen männliche Gewalt nach feministischer Methodik geführt mit dem Ziel, dass Frauen frei und gleichberechtigt leben können, fernab von Diskriminierung auf Grund des Geschlechts und fernab von männlicher Gewalt.  

Mor Çatı hat sich bis zum heutigen Tag mit nahezu 40.000 Frauen solidarisiert. Die meisten dieser Frauen sind von psychischer und physischer, sprachlicher oder digitaler Gewalt ihrer Ehemänner, Verlobten, Partner, Söhne oder Väter betroffene Frauen.

Die Trennung zieht durch ihr Leben
Das ihren eigenen Tod gebärt
Unser Mann ist unser Erstgeborener
Während er uns in Gottes Namen hütet
Wird sein Herz geblendet vor Verdrossenheit

….

Wenn schlagend von innen auf unsere eigene Brust
Unsere Stimme stets schleichend dünner wird
Wenn unsere Meere seicht und unsere Berge flach sind
Wie könnten wir dann widerhallen?

Jemand fragte von draußen: - Wie viele seid Ihr?
Dem entgegnete jemand von drinnen:
- Wie viele seid Ihr?
Doch wir, wie viele eigentlich sind wir
Wir, die nirgends in Zahlen passen

 

Diese Zeilen wurden von der Dichterin Gülten Akın geschrieben, die das Thema Frau mit einer unendlichen Akribie verarbeitet. Jedes Wort, das ich über dieses Gedicht sagen würde, wäre nur unnötiger Lärm. Über diese Zeilen kann ich nur Fakten beisteuern:

Laut des Berichts des Weltwirtschaftsforums zur Geschlechtergerechtigkeit, der den Anteil von Frauen an der Wirtschaft, die Chancengleichheit sowie die Teilhabe an Bildung und Mitwirkung in der Politik misst, kommt die Türkei unter 153 Ländern an 130. Stelle.

Die Plattform zur Beendigung der Morde an Frauen führt in ihrem Jahresbericht aus, dass 2020 in der Türkei 300 Frauen von Männern umgebracht und 171 Frauen unter ungeklärten Umständen tot aufgefunden wurden.

 

Doch wir, wie viele eigentlich sind wir
Wir, die nirgends in Zahlen passen

 

Ihre Augen leuchten, wenn Gülsüm Kanat Dinç, Cânân Arıns Kollegin und feministische Freundin von Mor Çatı über Cânân Arın spricht: Cânân Arın ist für mich immer ein Idol, eine Celebrity der feministischen Bewegung gewesen. Sie ist das beste Beispiel dafür, dass eine gute Juristin einen guten Bezug zu allen Facetten des Lebens haben sollte. Wir sprechen nicht nur über juristische Anliegen, sondern über alles von klassischer Musik bis hin zu Film und Kunst allgemein. Sie hat ein fundiertes Wissen in allem. Es gibt mir Hoffnung sie zu sehen, wie glücklich sie ist trotz aller Müdigkeit, wenn wir von der Arbeit mit den Frauen, von Workshops oder Reisen auswärts zurück kommen. Sie ist dann beseelt von der großen Freude, das Leben einer weiteren Frau berührt zu haben und geht so beschwingt nach Hause, jedes Mal mit einem Anflug von “das ist erst der Anfang”. Ob im Gerichtssal oder in von ihr ausgerichteten Workshops für Frauen, ob auf Podiumsdiskussionen, oder im Rahmen ihres feministischen Engagements, Cânân Arın ist zu der kämpferisch entschlossenen Stimme gerade auch dieser Frauen geworden, die nirgends in Zahlen passen.

Ursula K. Le Guin schreibt in ihrem Roman Planet der Habenichtse”: Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt nur die Revolution sein.” Für mich ist Cânân Arın von dem Augenblick an, in dem sie sich bewusst für das Jurastudium entschied, dann ihr Studium in England fortsetzte und Mitte der 1970’er Jahre darum kämpfte, als Frau  von zu Hause auszuziehen, dann neben ihrem Studium arbeitete, um ihre finanzielle Unabhängigkeit zu erklären und dabei sich noch ständig weiter bildete und neben dem Jurastudium sich in Bereichen wie Philosophie, Soziologie, Literatur und Theater engagierte, bereits in vielschichtiger Weise die Revolution selbst geworden.  

Liebe Cânân Arın,

Sie haben das Leben von Tausenden von Frauen berührt. Sie haben ihnen ein Zimmer für sich, einen Raum zur Entfaltung geschaffen. Sie haben ihnen juristischen Beistand geleistet. Sie haben sie ermutigt, ihre Revolution zu machen. Sie haben mit Ihren Worten und Ihrer Freundschaft den Blickwinkel dieser Frauen erweitert. Ich weiss, dass Sie keinen Dank erwarten für Ihren Einsatz um die Frauenrechte. Sie sprechen auch nicht von “helfen”, sondern ziehen es in aller Bescheidenheit vor, alles was Sie leisten als sich solidarisieren” zu bezeichnen.   

Im Namen aller Frauen, mit denen Sie sich solidarisiert haben, Frauen, die sich ihrer eigenen Stärke bewusst wurden und sich mit Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen auf ihre eigene Füße gestellt und erhoben haben, im Namen Ihrer Kolleginnen und in meinem eigenen Namen beglückwünsche ich Sie mit Respekt und Bewunderung.

Gratulation Cânân Arın!

Hochachtungsvoll
Dilek Mayatürk

 


Fünf- und Achtzeiler für jene Frauen, Gülten Akın / Übersetzung: Ali Ekber Danabaş