Ungarn: Einschüchterung kritischer Stimmen durch regierungsnahe Akteure begleitet Anlaufen der Impfkampagne

Inmitten einer chaotischen Informationslage, in der über verfügbare, genehmigte oder kurz vor der Zulassung stehenden COVID-19-Impfstoffe, die Haftung für mögliche Nebenwirkungen und Langzeitfolgen oder auch die Länge der erzielten Immunität diskutiert wird, kämpft die EU-Kommission damit, ausreichend Impfstoff-Vorräte für ihre Mitgliedsstaaten zu beschaffen. Bislang hat die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) drei Vakzine zur Verwendung freigegeben: Comirnaty (Pfizer/BioNTech), AstraZeneca und Moderna. Die ungarische Regierung hingegen hat einen eigenen Weg eingeschlagen.

Pharmacist preps Covid-19 vaccine

Chaotische Impfstoffzulassung und anstehende Wahlen

Weil ihr die Auslieferung der Impfstoffe überall in der EU aufgrund von zahllosen Regulierungen und Problemen bei der Bestellung allzu langsam vorangeht, hat die ungarische Regierung sich mit der Bitte um Unterstützung an Russland und China gewandt. Damit folgt sie dem Beispiel Serbiens, das derzeit die höchste Impfrate in Kontinentaleuropa vorzuweisen hat. Serbien hat sich in der Impffrage für eine Art all-you-can-eat-Strategie entschieden, und dass trotz vieler offener Fragen hinsichtlich der Sicherheit und Wirksamkeit der asiatischen und osteuropäischen Impfstoffe.

Um eigene Schwierigkeiten bei der Impfstoffbeschaffung und eine mangelhafte Kommunikation der Impfstrategie inklusive der dadurch verursachten Verwirrung zu verschleiern, haben das Orbán-Regime und ihm nahestehende Journalisten eine unerhörte Desinformationskampagne lanciert und eine wahre Hexenjagd gegen kritische Stimmen angezettelt. Für Orbán, der das Land seit 2010 regiert und sich derzeit auf die Wahlen 2022 vorbereitet, ist es von entscheidender Bedeutung, ob es ihm gelingt, das Image des starken paternalistischen Führers aufrechtzuerhalten, der als Einziger in der Lage ist, sein Volk vor imaginierten oder real existierenden Feinden zu schützen.Wie aktuelle ungarische und internationale Untersuchungen zur Impfbereitschaft zeigen, besteht die Gefahr darin, dass die Politisierung  von Impfkampagnen das Vertrauen in die Vakzinen selbst reduziert.

Wie in vielen Ländern weltweit, sind auch in Ungarn nach wie vor zahlreiche Fragen bezüglich der nationalen Impfstrategie offen, etwa ob Einzelpersonen sich werden entscheiden können, welcher Impfstoff ihnen verabreicht wird, ob eine verpflichtende Registrierung nicht unnötigen bürokratischen Aufwand bedeutet, oder auch ein generelles Vertrauensdefizit mit Blick auf den Prozess und die Impfstoffe selbst.

Hexenjagd gegen kritische Stimmen

Anfang 2021 erhielt Péter Krekó, der Geschäftsführer des Thinktanks Political Capital, Todesdrohungen gegen sich und seine Familie, nachdem er in einem POLITICO-Artikel zur ungarischen Impfpolitik mit einem Kommentar zitiert worden war, den regierungsnahe Medien und Mitglieder der Regierung bewusst fehlinterpretiert hatten. Der Artikel kritisierte den ungarischen Premierminister für den Versuch „sich dem russischen Präsidenten Vladimir Putin durch die Propagierung des Sputnik-Impfstoffs anzubiedern.“ Wie Krekó zitiert wurde, entbehrt „das Versprechen […], Sputnik V schnell zuzulassen und zu verwenden […] nicht nur jeder Grundlage, sondern untergräbt auch das allgemeine Vertrauen in die Impfung.“

Einer Umfrage des zentralen Ungarischen Statistikamts zufolge hat kein anderer Faktor so viel Einfluss auf die Haltung gegenüber der Impfung, wie die Sicherheit und Wirksamkeit der verwendeten Impfstoffe. Politisch motivierte Manöver sind deshalb umso kontraproduktiver, als die Impfbereitschaft der Ungarn Umfragen zufolge zwischen August und Dezember letzten Jahres von 55% auf 15% gefallen ist. Seit dem Start der Impfkampagne im Februar 2021 ist dieser Wert schrittweise wieder bis auf 38% angestiegen.

Geringes Vertrauen in chinesische und russische Impfstoffe

Das Vertrauen in chinesische und russische Impfstoffe ist jedoch nach wie vor gering; einer Mitte Januar von der Firma Pulzus veröffentlichten Studie zufolge sind nur 1-2% der befragten Ungarn bereit, sich mit ihnen impfen zu lassen. Eine im selben Zeitraum von Reuters publizierte internationale YouGov-Umfrage deutet ebenfalls auf Misstrauen gegenüber diesen Impfstoffen hin, ganz im Gegensatz zu den in Deutschland oder den USA entwickelten Vakzinen.

Zurückzuführen sind diese geringen Vertrauenswerte vermutlich auf die mangelhafte Verfügbarkeit von Informationen zur Entwicklung und möglichen Nebenwirkungen der Impfstoffe. Eine vollständige Veröffentlichung der Testdaten durch die betreffenden Labore – das Russische Gamaleja-Institut sowie die chinesischen Firmen Sinopharm und Sinovac Biotech – lässt weiterhin auf sich warten; Wissenschaftlern ist es deshalb nicht möglich, sie einem genauen Vergleich mit den Daten westlicher Hersteller zu unterziehen.

Regierungsnahe Akteure verbreiten Fake News

In diesem Kontext wurde Péter Kréko von Politico folgendermaßen zitiert: „Wenn du die Bereitschaft der Leute unterminierst, sich impfen zu lassen, steht eine Menge auf dem Spiel […].  Das kann durchaus politische Konsequenzen [für Orbán] haben.“ Obwohl das Wort ‚du‘ in diesem Statement auf den Ministerpräsidenten zielt, rissen regierungsnahe Medien den Satz aus dem Kontext und behaupteten, er beziehe sich auf die Opposition. Lautstark lancierten sie einen Kreuzzug gegen Krekó und bezeichneten sein Statement als ‚Todeskampagne‘, mit der die Opposition angeblich angestiftet werden solle, das Vertrauen in die Impfstoffe zu untergraben und so das Leben ungarischer Bürger zu opfern – und das einzig allein, um politische Macht zurückzugewinnen.

Orbán: „böse“ Kritiker

Um die Öffentlichkeit gegen Krekó und die Linke aufzuhetzen, startete der bekannte Journalist und Mitbegründer der regierenden Fidesz-Partei Zsolt Bayer sogar eine Petition. Ministerpräsident Orbán selbst bezeichnete das Statement des politischen Analysten in seinem wöchentlichen Radiointerview am 3. Januar als „böse“.

Diese Hexenjagd provozierte breite akademische Unterstützung für Krekó: mehr als hundert führende Wissenschaftler aus Europa und den USA bekundeten ihre Solidarität mit dem „verdienten Forscher“.

Wissenschaftliche Forschungen zu Verschwörungstheorien

In einem 2018 erschienenen Forschungsartikel definieren Krekó und seine Co-Autoren Fake News als „zur gezielten Desinformation der Leser erfundene Nachrichten […] die häufig das Erscheinungsbild von Medienberichterstattung nachahmen“. Alternative Wahrheiten und Verschwörungstheorien gehören zu Krekós wichtigsten Forschungsfeldern; 2018 erschien zu diesem Thema sein Buch Mass Paranoia. In einem Aufsatz für das Onlinemagazin Eurozine führt er dieses Phänomen auf einer Art politische ‚Stammes-Mentalität‘ zurück, die die Mythenbildung befördere und aus Informationen „Waffen im Kampf gegen vermeintlich gegnerische ‚Stammesgemeinschaften‘ mache“; identifiziere man sich mit diesem Denken, würden derart instrumentalisierte Informationen wichtiger als die Realität.

Dem Eurozine-Aufsatz zufolge bedeutet dies „meinen Gegner mit allen Mitteln zu besiegen, und dabei völlig auf meinen Stammesführer zu vertrauen“. Desinformationskampagnen, so Krekó weiter, „liefern oft das Rohmaterial für derartige Mythenbildungen, die dann anschließend dafür benutzt werden, regelwidriges politisches Handeln zu rechtfertigen und gleichgesinnte ‚Stammesmitglieder‘ mithilfe von Fake News gegen den vermeintlich gemeinsamen Feind und zu Gunsten des eigenen Lagers zu mobilisieren.“ Das Problem bestehe darin, dass ein derartiges politisches Lager-Denken nicht mit demokratischem Pluralismus vereinbar sei.

Ausgeklügelte Einschüchterungsstrategien: die Suche nach Sündenböcken

Die Anfeindungen, denen sich Krekó derzeit ausgesetzt sieht, entsprechen genau dem, was er selbst als Orbáns paranoides politisches Universum bezeichnet hat: ein System, indem man jedem Problem mit Verschwörungstheorien und der Suche nach Sündenböcke begegnet; ein Beispiel hierfür sind Plakatkampagnen, mit denen der Philantrop und Milliardär George Soros, außereuropäische Migranten und „Brüssel“ allesamt als folkloristische Teufelsfiguren dargestellt wurden. „Auch wenn Ungarn mit Blick auf die bisherigen Impfraten im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht dasteht, macht die Situation der Regierung Angst“, so Krekó gegenüber der Autorin dieses Artikels. Mit ihren Einlassungen über eine angebliche ‚Todeskampagne‘ schöben regierungsnahe Medien der Opposition die Verantwortung für alle potentiellen Probleme oder möglichen Nebenwirkungen der derzeit anlaufenden Impfkampagne in die Schuhe.

„Diese Taktik der Panikmache ist noch viel ausgeklügelter als in autokratischen Regimen“, so Krekó. „Auf diese Weise kann man nämlich jeden, der es wagt, sich kritisch zu äußern, als gemeinsamen Feind oder Sprachrohr der Opposition deklarieren und so seine fachliche Reputation zerstören.“ Ein derartiges Klima führe zu Selbst-Zensur und Angst und wecke Erinnerungen an ungute Phasen der ungarischen Geschichte. In Zeiten, in denen verlässliches Experten-Wissen von Nöten ist, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfstoffe zu stärken, kann dies besonderen Schaden anrichten.

Mit Blick auf die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen wirken diese Entwicklungen abschreckend auf die politische Konkurrenz und dienen genau deshalb den Interessen der jetzigen Regierung. Pandemiebedingte Einschränkungen, Lockdowns und Ausgangssperren machen bereits jetzt jede Form des direkten zivilgesellschaftlichen Engagements unmöglich – ein Zustand, der vermutlich noch bis in den Herbst 2021 hinein andauern und alle potentiellen Aktivitäten der zersplitterten Opposition stark einschränken dürfte.

Kompetenzbeschneidung der Zulassungsbehörden

Am 20. Januar erteilte die ungarische Nationale Arzneimittel- und Ernährungsbehörde (OGYÉI) eine sechsmonatige Notfallzulassung für den Russischen Impfstoff Sputnik V und das chinesische Vakzin von Sinopharm. Sehr zum Missfallen der ungarischen Ärztekammer verzichtete sie dabei auf die Veröffentlichung der dazugehörigen Produktdokumentationen.

Der frühere leitende Gesundheitsbeamte Dr. Ferenc Falus erklärte, die Regierung habe die Lizensierungskommission unter Druck gesetzt, den Zulassungsprozess zu beschleunigen und ihr dann am 28. Januar per Dekret alle diesbezüglichen Kompetenzen entzogen – ein in seinen Augen skandalöser Vorgang.

Die Anwältin Kata Nehéz-Posony wiederum gab gegenüber dem Fernsehsender ATV zu Protokoll, dass die Lizensierungskommission durch das Dekrekt verpflichtet worden sei, die Zulassung des Impfstoffs unter ganz bestimmten Voraussetzungen zu genehmigen – nämlich für den Fall, dass der ungarische Außenminister Péter Szíjjártó bestätigen könne, dass die Vakzine bereits mehr als einer Million Personen in drei Ländern verabreicht worden sei, von denen eines ein EU-Mitgliedsstaat oder Beitrittskandidat zu sein habe. Diese Bedingung sei maßgeschneidert für die direkte Zulassung des chinesischen Sinopharm-Impfstoffs, für dessen Verwendung Orbán geworben habe. Nehéz-Posony zufolge ist dies insofern problematisch, als „die Kriterien, nach denen die Zulassung erfolgte, völlig unklar sind. Im Grunde legt das Dekret der Behörde nahe, sich auf Entscheidungen zu stützen, die z.B. von kirgisischen, aserbaidschanischen oder serbischen Arzneimittelbehören getroffen wurden, ohne die zugrundeliegenden Informationen selbst überprüfen zu können.“

Allerdings müssen durch die ungarische Lizensierungskommission ‚genehmigte‘ Impfstoffe noch einer weiteren Prüfung durch das Nationale Gesundheitszentrum unterzogen werden; es besteht also durchaus noch Hoffnung, dass die Patientensicherheit gewährleistet sein wird.

„Trotzallem untergräbt das Regierungsdekret das Vertrauen in den Zulassungsprozess und degradiert die Lizensierungskommission zu einer bloßen Verwaltungseinheit“, so Dr. Falus. „Wer haftet zum Beispiel, wenn ein Patient nach der Impfung Probleme meldet? Der Hersteller? Die Zulassungsbehörde? Das Land, indem die Zulassung erfolgt ist? Um die allgemeine Impfbereitschaft zu erhöhen, müssen diese Fragen geklärt werden.“ Dasselbe gilt auch mit Blick auf eine potentielle Impfbescheinigung. „Wir wissen nicht, wielange die Immunität anhält und die Wirksamkeitsraten der Impfstoffe liegen unter 100%. Woher also weiß ich, dass ich nicht zu den 5% gehöre, bei denen die Impfung nicht wirkt?“, so die rhetorische Frage von Dr. Falus.

Öffentliche Streitereien über den Zulassungsantrag des russischen Impfstoffs bei der EMA

Am 2. Februar veröffentlichte das rennomierte medizinischen Fachblatt The Lancet eine vielversprechende Studie zur Wirksamkeit von Sputnik V; vorläufigen Ergebnissen einer klinischen Phase 3-Studie zufolge scheint diese bei über 90% zu liegen. Die Europäische Arzneimittelbehörde und die Hersteller der Russischen Vakzine machen jedoch abweichende Angaben über den Status des Genehmigungsverfahrens; letztere geben an, die Zulassung durch die EMA bereits beantragt zu haben. Die EMA hingegen erklärte am 10. Februar, dass „die Europäische Arzneimittelbehörde […] entgegen anderslautender Angaben bislang keine Anträge auf eine turnusmäßige Überprüfung oder eine Verkaufszulassung für den Impfstoff erhalten hat.“

Die ungarischen Patienten dürften von diesen Unstimmigkeiten jdeoch völlig unbehelligt bleiben: Orbán brüstet sich damit, die Zulassung durch die EMA gar nicht erst abgewartet zu haben und bereits seit dem 11. Februar in Budapest impfen zu lassen. Im jüngsten seiner wie jeden Freitagmorgen gegebenen Radiointerviews wandte er sich mit folgenden Worten an seine Zuhörer: „Warum sollten wir davon ausgehen, dass die Europäer es besser wissen als wir? Das ist nur eine Vermutung. Aber ich vertraue den ungarischen Experten mehr als denen in Brüssel. Wir müssen Vertrauen in uns selbst haben.“ 

 

Dieser Artikel ist zuerst auf der Website unseres Büros in Prag in englischer Sprache erschienen und wurde von Joana Förster übersetzt.