Es geht tief unter die Haut: Rassismus und Polizeigewalt in Brasilien

Analyse

Nirgendwo in Lateinamerika werden so viele Menschen von der Polizei getötet wie in Brasilien. Doch davon sind längst nicht alle gleich betroffen. Die Gesellschaft teilt sich in zwei Gruppen, meint unsere Projektkoordinatorin für Menschenrechte in Rio de Janeiro: Die „Tötbaren“ und die „guten Bürger/innen“.

Menschen knien mit in die Luft gereckten Fäusten auf der Strat
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Antirassistische Proteste in Belo Horizonte, Juni 2020

Mitten in der Corona-Pandemie, im Mai 2020, wurde der vierzehnjährige João Pedro in Rio de Janeiro in seinem Zuhause von der Polizei erschossen. 72 Schüsse wurden in den Wohnräumen abgegeben. Wie in den meisten Fällen verwiesen die Behörden anschließend auf den Drogenkrieg. So auch im Fall der achtjährigen Agatha Félix, die im September 2019 auf dem Schulweg getötet wurde, als die Polizei auf vorbeifahrende Motorradfahrer schoss. Solche Fälle sind nichts Ungewöhnliches: Allein im Jahr 2019 wurden sechs Kinder auf dem Weg zur Schule, in der Schule selbst, vor oder in ihrem Zuhause von der Polizei getötet.

Die landesweiten Schlagzeilen über den Tod der Kinder bewegten die Nation. Woher aber kommt die vom Staat verübte Gewalt, der Kinder und Jugendliche ununterbrochen zum Opfer fallen? Was legitimiert einen Beamten, seine Waffe zu ziehen und wahllos um sich zu schießen? Wie kann er sicher sein, dass das was er tut, ungestraft bleiben wird? Die Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach. Sie hat viele Facetten und erfordert eine Reihe von Erklärungen. Dennoch gibt es ein Phänomen, das eine entscheidende Rolle bei diesen Vorfällen spielt: der strukturelle Rassismus.

Struktureller Rassismus schafft die materielle Grundlage

Strukturell ist der Rassismus, weil er fest in den brasilianischen Institutionen verankert ist und sich dort durch Zwang und Hierarchie fortsetzt. Die Institutionen wiederum vertiefen die Ungleichheit und sorgen dafür, dass Schwarze in der Subalternität bleiben – beispielsweise durch schlechtere Bildungschancen oder die Verweigerung von Wohnraum, Gesundheit und Sicherheit. Struktureller Rassismus schafft also die materiellen Bedingungen dafür, dass die Machtpositionen der einen Gruppe gegenüber der anderen Gruppe statisch bleiben. Er schließt 55 Prozent der Bevölkerung von den Vorteilen aus, zu deren Aufbau sie aber ebenso beigetragen hat.

So normalisiert der strukturelle Rassismus die bestehenden Hierarchien und Ungleichheiten. Wir nehmen ihn hin, weil er Teil davon ist, wie unsere Gesellschaft „funktioniert“, denn es handelt sich nicht um eine individuelle Beziehung, nicht um das Verhalten einer rassistischen Einzelperson. Vielmehr ist es eine Reihe von Aktionen, die einen klaren Verstoß gegen die Rechte eines wesentlichen Teils der Gesellschaft darstellen.

Darum sieht sich die Polizei im Recht, an bestimmten Orten zu extremer Gewalt zu greifen, ohne dabei die Konsequenzen abzuwägen. Sie muss Feinde eliminieren und ihre Feindbilder sind durch soziale und rassistische Stereotypen geprägt. Es ist undenkbar, dass die Polizei in der Wohnung von unbewaffneten und keinerlei Widerstand leistenden Personen in den reichsten Gegenden der Stadt 72 Schüsse abfeuert. In diesen Fällen ist es normal, zunächst Fragen zu stellen und nur zu schießen, wenn es unbedingt nötig ist – oder anders gesagt: Hier hält man sich an die Vorschrift.

Die Tötbaren und die guten Bürger/innen

Betrachtet man die Polizeigewalt, scheint das Leben unterschiedlich viel wert zu sein – je nachdem, ob man zu den „Tötbaren“ oder den „guten Bürger/innen“ gehört. Das Profil beider Gruppen ist ziemlich klar definiert: Die Tötbaren sind in der großen Mehrheit schwarze Jugendliche, die unsichtbar am informellen Arbeitsmarkt unterbeschäftigt sind, ohne soziale Sicherheit, die in prekären Verhältnissen und weit weg von ihrem Arbeitsplatz wohnen und keinen Zugang zu öffentlichen Freizeiteinrichtungen haben. „Gute Bürger/innen“ sind weiße Männer und Frauen, meist aus der Mittelschicht, mit einem guten Bildungsniveau, Arbeitsplätzen mit mittlerem Einkommen, die in den sichersten Gegenden der Stadt wohnen, in denen die Anzahl von Gewaltverbrechen etwa so hoch ist wie in europäischen Ländern.

Die Rolle der Polizei besteht unter anderem darin, den materiellen Schutz der privilegierten Klassen zu gewährleisten – also ihre Privilegien vor den "gefährlichen Klassen“ zu sichern. Zu diesem Zweck werden sowohl physische als auch symbolische Gewalt eingesetzt. Selbst die schwarzen Männer und Frauen, die den wirtschaftlichen Aufstieg geschafft haben, sind deshalb ständig von der Konfrontation mit der rassistischen Gesellschaft verfolgt.

Brasilien ist das Land mit der zweithöchsten Mordrate in Südamerika und das Land, in dem die Polizei die meisten Menschen tötet. Im Zeitraum von 2018 bis 2019 wurden 11.520 Menschen von der Polizei getötet. Die Geografie des Todes ist nicht überraschend: Zu den meisten Todesfällen durch die Polizei kommt es in der Peripherie, den Favelas und den städtischen Vororten – also den Orten, wo die Schwarze Bevölkerung Wohnraum findet. In Rio de Janeiro kommt es täglich zu Schusswechseln zwischen Polizei, Drogenhändlern und Milizen. Hier sterben auch die meisten Polizist/innen. Die Regierungen und Behörden scheinen aber kein Problem mit diesem Gemetzel zu haben – es sei denn, man kann es im Wahlkampf für sich nutzen.

Die Politik des Schlachtens wird billigend hingenommen

Bei der letzten Wahl hatten sich viele Kandidat/innen das Thema der öffentlichen Sicherheit auf die Fahne geschrieben. Im Bundesstaat Rio de Janeiro erklärte der gewählte Gouverneur Wilson Witzel öffentlich, dass die Polizei jeden „abschlachten“ solle, der bewaffnet sei, auch wenn er keinen Widerstand leiste und kein Risiko von ihm ausginge. Er fasste es so: „Auf den Kopf zielen und… Feuer.“ Diese „Politik des Schlachtens“, wurde von einem Teil der Bevölkerung billigend hingenommen und konsolidierte das alltägliche brutale Vorgehen der Polizei in den Armenvierteln. 2019 schossen Polizist/innen aus Helikoptern in mehreren Fällen wahllos auf Verdächtige in diesen Vierteln. Diese Polizeiaktionen werden als Teil der Sicherheitspolitik gesehen.

Auch auf nationaler Ebene war das Siegerprojekt der letzten Wahlen dasjenige, das Gewalt und politische Säuberung gegenüber allen predigte, die sich ihm in den Weg stellen sollten. Präsident Jair Bolsonaro lässt keine Gelegenheit aus, seinen Willen zu unterstreichen, die Bevölkerung bewaffnet zu sehen. Während seiner Regierung wurde das Recht auf Besitz und Verkauf von Schusswaffen ausgeweitet. Nach seinem Amtsantritt 2019 schossen die Waffenimporte in die Höhe: Wurden 2016 noch 2.390 Waffen importiert, stieg die Zahl 2019 auf 37.589. Auch die Munitionsverkäufe stiegen um 18 Prozent und in den ersten fünf Monaten 2020 hat die Waffenindustrie ihren Verkauf um 46 Prozent gesteigert. Diese Art von Politik bestärkt die Gesellschaft darin, Gewalt zu befürworten, solange sie sich gegen die „alten Verdächtigen“ richtet. Diese Diskurse finden ihren Widerhall auch im Parlament, wo teilweise erfolgreich versucht wird, die Gesetzgebung im Bereich der öffentlichen Sicherheit zu verschärfen. Dies wird von der sogenannten „Waffenfraktion“ aus ehemaligen Polizist/innen und Militärs vorangetrieben, die die Bewaffnung der Bevölkerung und härtere Maßnahmen des Staates gegen Kriminelle fordern.

Neue Formate im Kampf gegen Rassismus

Soziale und politische Errungenschaften der vergangenen Jahre haben in Brasilien und weltweit zum „Coming-out“ von Teilen der Bevölkerung geführt. Bestärkt durch die antirassistischen, feministischen und LGBTIQ*-Bewegungen (um hier nur einige zu nennen) lehnen sie sich täglich gegen ihren Platz in der Subalternität und dem Gehorsam auf. In dieser zerbröckelnden symbolischen und materiellen Welt gewinnen die Anti-Rassismus-Bewegungen an Kraft. Die sozialen Kräfte ordnen sich neu, sowohl im linken als auch im rechten Spektrum. Das bedeutet, dass die nahe Zukunft von permanentem Konflikt gezeichnet sein wird.

Der Kampf gegen Rassismus ist nicht neu. Seit jeher bringt er, abhängig von den vorherrschenden Bedingungen und materiellen Möglichkeiten, neue Formate und Akteur/innen hervor. Der heutige Aktivismus verfügt über die technischen Mittel seiner Zeit: die sozialen Netzwerke. Die Bewegungen sind fragmentiert, mit mehreren Führungsfiguren und neuen Gesichtern. Es ist kein Zufall, dass Black Lives Matter von drei schwarzen Frauen gegründet wurde: Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi lernten sich in der Black Organizing for Leadership and Dignity kennen und eine von ihnen schrieb auf Facebook „Our Lives Matter, Black Lives Matter“. Die Bewegung breitete sich aus und organisierte tausende Demonstrationen auch außerhalb der USA. Bewegungen wie diese konfrontieren die Institutionen, den Staat. Sie fordern eine Veränderung, und zwar sofort.

Der Kampf gegen Rassismus ist die Aufgabe aller

Wie in den USA, haben sich auch in Brasilien Teile der weißen Bevölkerung den Protesten gegen Rassismus und Polizeigewalt angeschlossen. Prominente und Fußballspieler mit Millionen Follower/innen geben Schwarzen Denker/innen und Aktivist/innen in ihren sozialen Netzwerken Raum für Debatten. Dass die eigenen Lebensumstände und Privilegien nicht das Ergebnis von Leistung, sondern des Weiß-seins sind, ist eine Einsicht, die sich in dieser Zeit stark verbreitet. In dieser Zeit ein politisches Projekt zu unterstützen, das weiterhin das Leben und die Rechte derer missachtet, die von Macht und Einfluss ausgeschlossen sind, ist rassistisch. Der Kampf gegen Rassismus kann nicht nur die Aufgabe der Schwarzen sein. Ihn zu überwinden und zu delegitimieren ist die Aufgabe aller.

Die Proteste in den USA und Brasilien zeigen, dass die gewaltsame Unterdrückung eines Teils der Gesellschaft nicht länger ohne Widerstand als natürlich dargestellt werden kann. Das stärkt die Bewegungen von Müttern der Opfer von Polizeigewalt, die Proteste innerhalb der Favelas, die Zusammenschlüsse junger Journalisten und Journalistinnen sowie die wachsende und erstarkende Bewegung der schwarzen Frauen – um nur einige der in Brasilien repräsentativsten Bewegungen zu nennen. Antirassistischen Widerstand gibt es jedoch nicht nur innerhalb der organisierten Bewegungen. Er findet auch dort Raum, wo die schwarze Geschichte und Identität besonders präsent ist, wie in Kultstätten und Zentren der Religionen afrikanischen Ursprungs, in den aus den Siedlungen entflohener Sklav/innen entstandenen Quilombola-Gemeinden und in kulturellen Bräuchen, die im Verborgenen und in der Peripherie gepflegt werden.

Dieser Jahrhunderte währende Kampf hat wichtige Fortschritte hervorgebracht, wie beispielsweise die Anerkennung der Quilombola-Gemeinden und die Vergabe von Landtiteln, die Quotenregelungen und Inklusionsprogramme an Universitäten und im öffentlichen Dienst, oder die Regierungssekretariate für ethnische Gleichstellung. Bedauerlicherweise leugnet die aktuelle Regierung die Existenz von Rassismus. Der Präsident selbst zeigt sich in seinen Erklärungen rassistisch und sexistisch und fördert fortwährend den Abbau der Institutionen und der Politik zu diesem Thema.

Netzwerke für Schutz und Solidarität müssen ausgeweitet werden

Wir wissen, dass die entscheidenden Impulse von denjenigen gegeben wurden, die tagtäglich unter den Auswirkungen von Rassismus leiden. Aus diesem Grund müssen die Netzwerke für Schutz und Solidarität ausgeweitet und gestärkt werden, um Hilfesuchende aufzunehmen, Debatten anzuleiten und Änderungen und Stellungnahmen einzufordern. Dies bedeutet auch, von den linksgerichteten Akteur/innen der Politik einzufordern, den antirassistischen Kampf zu einer Priorität zu machen – sowohl im Rahmen der politischen Auseinandersetzung als auch bei der Vergabe von einflussreichen Positionen an Schwarze. Wir müssen die Felder bewässern, damit neue Marielles aufblühen. Sie werden eine Rolle spielen, bei der Forderung von neuen Politiken und Positionen. Marielle Franco, die Schwarze Stadträtin aus Rio de Janeiro, die von Milizen umgebracht und zu einem landesweiten Symbol für den Kampf gegen Rassismus und für Frauenrechte wurde, gab nicht umsonst zwei Themen in ihrer Arbeit Priorität: der öffentlichen Sicherheit und der Förderung von Frauenrechten.

Das Leben ist nicht leicht. So wie in Wahrheit fast nichts leicht ist. Eine großartige Führungsfigur der amerikanischen Feminismus- und Anti-Rassismus-Bewegung, Angela Davis, warnt uns: „In einer rassistischen Gesellschaft ist es nicht genug, kein Rassist zu sein. Man muss Antirassist sein.“ Für Brasilien trifft die damit den Nagel auf den Kopf. Von Heinrich Böll stammt ein Zitat, das für mich einen Teil der Gründungsideen der Heinrich-Böll-Stiftung widerspiegelt: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“ Wir müssen Lösungen finden, die über die individualisierte und konsumorientierte Gesellschaft hinausgehen, in der wir leben. Wir müssen uns denjenigen anschließen, die sagen #BlackLivesMatter oder #VidasNegrasImportam.

Übersetzung aus dem Portugiesischen von Kirsten Grunert.