Der Tod des Mythos Zentralbank

Analyse

Jahrzehntelang wurde die Geldpolitik als technokratische, unpolitische Frage behandelt. Die Pandemie hat diese Illusion für immer beendet. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze fordert, das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass zu nehmen, das Mandat der Zentralbank neu und zeitgemäß zu definieren.

Silhouette des Hauses der Europäischen Zentralbank, dahinter die untergehende Sonne
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Europäische Zentralbank in Frankfurt/Main

Ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts erschütterte Anfang Mai Politik und Finanzwelt in Europa. Danach hat die Europäische Zentralbank (EZB) ein 2015 begonnenes Programm zum Ankauf von Anleihen nicht ausreichend begründet. Einige Beobachter meinten gar, das Urteil könnte zur Auflösung des Euro führen. Diese Einschätzung mag für viele auf den ersten Blick schwer nachzuvollziehen sein. Ja, die Käufe waren riesig - mehr als zwei Billionen Euro an Staatsanleihen. Aber sie wurden vor Jahren getätigt. Und die vom Gericht gemachten Aussagen sind reichlich arkan. Wie kann eine solche Angelegenheit also eine solche Bedeutung erlangen?

Die rechtlichen Auseinandersetzungen in Europa sind nicht nur deshalb von Bedeutung, weil die EZB die zweitwichtigste Zentralbank der Welt ist, und nicht nur, weil die globale Finanzstabilität von der Stabilität der Eurozone abhängt. Sie stellen auch eine grundlegende Frage modernen Regierens ins Rampenlicht: Was ist die eigentliche Rolle der Zentralbanken? Was ist die politische Grundlage für ihr Handeln? Wer, wenn überhaupt jemand, sollte die Zentralbanken beaufsichtigen?

Wie der Corona-Finanzschock erneut bestätigt hat, sind die Zentralbanken in Krisen die “Ersthelfer” der Wirtschaftspolitik. Sie halten die Zügel der Weltwirtschaft in der Hand. Aber im Gegensatz zu den nationalen Finanzministerien, die von oben herab über Steuern und Staatsausgaben agieren, sind die Zentralbanken direkt auf den Finanzmärkten präsent. Während die Finanzministerien über Budgets verfügen, die durch Parlamentsabstimmungen begrenzt sind, ist die Feuerkraft der Zentralbank grundsätzlich unbegrenzt. Das von den Zentralbanken geschaffene Geld taucht nur in ihren Bilanzen auf, nicht im Schuldenstand des Staates. Die Zentralbanken müssen keine Steuern erhöhen oder Käufer für ihre Schuldtitel finden. Das gibt ihnen enorme Macht.

Das Paradigma des Zentralbankwesens steht auf dem Spiel

Das Paradigma des modernen Zentralbankwesens, das im spartanischen Gerichtssaal von Karlsruhe verhandelt wurde, entstand vor einem halben Jahrhundert in den Turbulenzen von Inflation und politischer Instabilität der 1970er Jahre. In den letzten Jahren ist es zunehmend unter Druck geraten, denn die Rolle der Zentralbanken ist massiv gewachsen.

In weiten Teilen der Welt, insbesondere in den Vereinigten Staaten, hat dies bemerkenswert wenig öffentliche Debatten hervorgerufen. Obwohl der Rechtsstreit in Deutschland in vielerlei Hinsicht undurchsichtig ist, hat er das Verdienst, dass er diese grundlegende Frage der modernen Staatsführung ins Rampenlicht rückt. Angesichts der Hybris des Bundesverfassungsgerichts mag es verlockend sein, sich auf eine Verteidigung des Status quo zu beschränken. Das wäre ein Fehler. Obwohl das Urteil des Gerichts in vielerlei Hinsicht fehlerhaft ist, offenbart es doch eine echte Kluft zwischen der Realität des Zentralbankwesens im 21. Jahrhundert und dem konventionellen, aus dem 20. Jahrhundert stammenden Verständnis. Was wir brauchen, ist eine neue Währungsverfassung.

Das alte Paradigma: Unabhängigkeit zur Inflationsbekämpfung

Das stolze Abzeichen der modernen Zentralbanker/innen ist ihre Unabhängigkeit. Aber was bedeutet das? Als die Idee im 20. Jahrhundert aufkam, bedeutete sie vor allem Unabhängigkeit von Vorgaben durch Politiker/innen mit ihren kurzfristigen Anliegen. Stattdessen sollte es den Zentralbanker/innen erlaubt sein, die Geldpolitik so zu gestalten, wie sie es für richtig hielten, mit dem Ziel, nicht nur die Inflation zu senken, sondern dauerhaft das Vertrauen in die Geldwertstabilität zu sichern.- Dies bezeichnen Ökonom/innen als Verankerung der Inflationserwartungen.

Ironischerweise war dies eine Analogie zur Judikative, welcher bei der Wahrnehmung der schwierigen Aufgabe der Rechtsprechung in der klassischen Gewaltenteilung die Unabhängigkeit von Exekutive und Legislative zugestanden wurde. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems war der Geldwert in den frühen 1970er Jahren vom Gold abgekoppelt worden war. In der Folge wurden unabhängige Zentralbanken zu Hütern des kollektiven Gutes der Preisstabilität.

Der Grundgedanke war, dass es einen Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit gäbe. Auf sich allein gestellt, würden sich Wähler/innrn und Politiker/innen für eine niedrige Arbeitslosigkeit auf Kosten einer höheren Inflation entscheiden. Doch wie die Erfahrungen der 1970er Jahre zeigten, wäre diese Entscheidung kurzsichtig. Die Inflation würde nicht konstant bleiben. Sie würde sich allmählich beschleunigen, und bald in gefährliche Instabilität und zunehmende wirtschaftliche Verwerfungen umschlagen. Die Finanzmärkte würden mit dem Verkauf von Staatsanleihen reagieren. Der Außenwert der Währung würde abstürzen, was zu einer Krisenspirale führen würde.

Unter dem Schatten dieses Katastrophenszenarios entstand die Idee der Unabhängigkeit der Zentralbank. Die Bank sollte als Institution fungieren, die sich nicht nach politischen Mehrheiten richten muss. Ihr wurde aufgetragen, alles zu tun, um nur ein Ziel zu erreichen: die Inflation niedrig zu halten. Der Zentralbank eine quasi konstitutionelle Position zu geben, würde verantwortungslose Politiker/innen davon abhalten, zu viel Geld auszugeben. Die Politiker/innen wüssten im Voraus, dass die Zentralbank verpflichtet wäre, mit drakonischen Zinssätzen zu reagieren. Dies würde die Politiker/innen abschrecken und gleichzeitig ein beruhigendes Signal an die Finanzmärkte senden. Es könnte schmerzhaft sein, Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten aufzubauen, aber es würde sich zu gegebener Zeit in Form niedriger Zinssätze auszahlen. Preisstabilität könnte so mit einem erträglicheren Niveau an Arbeitslosigkeit erreicht werden. Man könne sich dem Zielkonflikt nicht entziehen, aber man könne die Bedingungen verbessern, indem man den mächtigsten Investor/innen versichert, dass ihr Interesse an einer niedrigen Inflation Priorität haben würde.

Es handelte sich um ein Modell, das auf einer Reihe von Annahmen beruhte: über die Wirtschaft (es gäbe einen Zielkonflikt zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit), die globalen Finanzmärkte (sie hätten die Macht, zu bestrafen), die Politik (überhöhte Ausgaben seien die bevorzugte Strategie zur Gewinnung von Wahlstimmen) und die Gesellschaft insgesamt (es gäbe erhebliche soziale Kräfte, die auch auf Kosten von Inflation auf hohe Beschäftigung drängten). Das Modell basierte auch auf einer negativen Sicht der modernen Geschichte und stand mehr oder weniger explizit im Widerspruch zu einer demokratischen Politik: zunächst in dem Sinne, dass es zynische Annahmen über die Motivationen von Wähler/innen und Politiker/innen traf, aber auch in dem allgemeineren Sinne, dass es an Stelle von Debatte, Tarifvertrag und Wahlen technokratisches Kalkül, institutionelle Unabhängigkeit und festgelegte Regeln bevorzugte.

Diese konservative Vision legitimierte sich durch den Verweis auf historische Traumata. Die Deutsche Bundesbank, gegründet nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefolge zweier Hyperinflationsschübe - während der Weimarer Republik und nach der katastrophalen Niederlage Deutschlands 1945 -, war der Stammvater. Die US-Notenbank konvertierte 1979 unter der Leitung von Paul Volcker zur antiinflationären Orthodoxie. Die entsprechende Stimmung wurde durch die weltweite Besorgnis über die Schwäche des Dollars verstärkt, nach wiederholten Versuchen der Regierungen Nixon, Ford und Carter, die Preise durch staatlich verordnete Preisregulierungen und Verhandlungen mit Gewerkschaften und Unternehmen zu stabilisieren. Die Politik der demokratisch gewählten Regierungen und Parlamente war gescheitert. Es war an der Zeit, dass die Notenbanker/innen mit haushohen Zinssätzen dagegenhielten. Dass eine solche Beendigung der Inflation bedeuten würde, jede Verpflichtung auf das Ziel der Vollbeschäftigung aufzugeben, Amerikas industrielles Kernland in die Krise zu stürzen und die Gewerkschaften dauerhaft zu schwächen, war Volcker nicht entgangen. Aber es gab, nach einem berühmten Satz dieser Ära, keine Alternative.

Bis in die 1990er Jahre war eine unabhängige Zentralbank mit dem Auftrag der Inflationsbekämpfung zu einem globalen Modell geworden, das im postkommunistischen Osteuropa und in den Ländern, die nun als "Schwellenländer" bezeichnet wurden, eingeführt worden war. Zusammen mit unabhängigen Verfassungsgerichten und der Einhaltung der globalen Menschenrechte waren unabhängige Zentralbanken Teil des Gerüsts, das die Volkssouveränität in Samuel Huntingtons "dritter Welle der Demokratisierung" einschränkte. Wenn der freie Kapitalverkehr der Gürtel war, dann war die unabhängige Zentralbank die Schnalle auf dem marktwirtschaftlichen Washington Consensus der 1990er Jahre.

Enorme Ausdehnung der Reichweite ohne formale Änderung des Paradigmas

Für die Zentralbanker/innen waren das die goldenen Zeiten. Aber wie in so vielen anderen Bereichen ist dieses goldene Zeitalter längst vorbei. In den letzten Jahrzehnten sind die Zentralbanken mächtiger denn je geworden. Doch mit der Ausweitung ihrer Rolle (und ihrer Bilanzen) ist ein Verlust an Klarheit über die Ziele der Zentralbanken eingetreten. Die gigantische Macht und Verantwortung, welche der kurz “Fed” genannten amerikanischen Zentralbank und ihren Pendants auf der ganzen Welt im Zuge der Coronakrise zugewachsen sind, bestätigt diese Entwicklung nur. Die formellen Mandate wurden selten angepasst, aber es hat eindeutig eine enorme Ausweitung der Reichweite ihrer Handlungen stattgefunden. Im amerikanischen Fall, wo die Ausdehnung am dramatischsten war, läuft dies auf eine versteckte Umgestaltung des Staates, ja der US-Verfassung hinaus, die unter dem Druck der Krisen ad hoc erfolgte und kaum Gelegenheit zu einer ernsthaften Debatte oder Auseinandersetzung bot.

Konservative Ökonom/innen sehen mit Entsetzen, wie das Paradigma der 1990er Jahre zerfällt. Werden die tiefen Eingriffe der modernen Zentralbanken nicht die Preise verzerren und wirtschaftliche Anreize verdrehen? Verfolgen sie nicht eine soziale Umverteilung durch die Hintertür? Wird damit nicht die disziplinierende Wirkung der Kreditmärkte untergraben? Wird eine Zentralbank, deren Bilanz mit aus der Not geborenen Anleihekäufen belastet ist, nicht in einen Teufelskreis der Abhängigkeit von den unter Druck stehenden Kreditnehmer/innen geraten, deren Schulden sie aufkauft?

Warum ist das alte Paradigma zerfallen und was ist die neue Realität?

Diese Bedenken sind die Grundlage des Dramas vor dem deutschen Verfassungsgericht. Aber um zu wissen, wie wir auf sie reagieren sollen, müssen wir zunächst einmal das tun, was weder das deutsche Gericht noch die Verteidiger der EZB bisher getan haben, nämlich uns Rechenschaft darüber ablegen, warum das bekannte Modell der Unabhängigkeit von Zentralbanken seit den 1990er Jahren zerfallen ist.

Die Annahmen über Politik und Wirtschaft, die das Modell der unabhängigen Zentralbank in den 1980er und 1990er Jahren verankerten, waren nie mehr als eine reichlich unvollständige Interpretation der Realität der politischen Ökonomie des späten zwanzigsten Jahrhunderts. In Wahrheit war die alarmistische Vision, die sie heraufbeschworen, nicht so sehr eine Beschreibung der Realität, sondern vielmehr ein Mittel. Ziel war es, die Disziplinierung von Politik und Gesellschaft durch Märkte voranzutreiben, und den Einfluss von gewählten Politiker/innen und Gewerkschaften einzudämmen. Im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sind die zugrundeliegenden politischen und wirtschaftlichen Annahmen jedoch völlig obsolet geworden - nicht so sehr wegen des Erfolgs der Idee des freien Marktes, sondern vielmehr wegen ihres Scheiterns.

Zuvörderst wurde der Kampf gegen die Inflation gewonnen. Er wurde in der Tat so umfassend gewonnen, dass sich Ökonom/innen nun fragen, ob die grundlegende Idee eines Zielkonflikts zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit überhaupt noch Bestand hat. Seit 30 Jahren leben die entwickelten Volkswirtschaften nun schon in einem Regime niedriger Inflation. Zentralbanken, die sich einst für den Kampf gegen die Inflation gewappnet hatten, kämpfen nun darum, eine Deflation zu vermeiden. Laut Konvention der Zunft beträgt die sichere minimale Inflationsrate zwei Prozent. Die japanische Zentralbank, die Fed und die EZB ist es systematisch misslungen, die Inflation auf dieses Niveau zu heben. Es waren die verzweifelten Bemühungen der EZB, die Eurozone 2015 nicht in eine Deflation abrutschen zu lassen, die zum Drama im Gerichtssaal von Karlsruhe führten. Die gigantischen Anleihenkäufe der EZB waren dazu gedacht, das Kreditsystem mit Liquidität zu fluten, in der Hoffnung, die Nachfrage anzukurbeln.

Lange bevor die Anwälte zu argumentieren begannen, kratzte sich die Profession der Ökonom/innen den Kopf über diese Situation. Die offensichtlichsten Triebkräfte der sogenannten Niedriginflation sind erstens die spektakulären Effizienzgewinne, die durch die Globalisierung erzielt wurden, zweitens das riesige Reservoir an neuen Arbeitskräften, die durch die Integration Chinas und anderer asiatischer Exportwirtschaften in die Weltwirtschaft eingebunden wurden, und drittens die dramatische Schwächung der Gewerkschaften, zu der die Antiinflationskampagnen, die Deindustrialisierung und die hohe Arbeitslosigkeit der 1970er und 1980er Jahre kräftig beigetragen haben. Die Schwächung der Gewerkschaften hat die Fähigkeit der Arbeitnehmer/innen, Lohnerhöhungen zu fordern, untergraben. Dieser fehlende Inflationsdruck ließ die modernen Zentralbanken selbst angesichts der gigantischsten monetären Expansion unbekümmert. Wie sehr man die Geldmenge auch erhöht, es scheint sich nie in Preiserhöhungen niederzuschlagen.

Es sind auch nicht nur die ökonomischen Verhältnisse, die scheinbar verrückt spielen. Das klassische Modell geht davon aus, dass Politiker/innen fiskalisch verantwortungslos seien, freigiebig nicht vorhandenes Geld ausgäben, und es daher unabhängiger Zentralbanken bedarf, um sie auf Kurs zu bringen. Nun stellt sich heraus, dass eine kritische Masse von gewählten Amtsträger/innen im Gegenteil zu blinden Anhänger/innenn der Dogmen der 1990er Jahre geworden war und zu wenig Geld ausgibt. In den letzten Jahrzehnten haben wir nicht einen unerbittlichen Anstieg der Verschuldung erlebt, sondern wiederholte Bemühungen, durch Sparen die Bücher auszugleichen, vor allem in der Eurozone unter deutscher Führung.

Entgegen seinem Ruf war Italien ein treuer Anhänger der Sparmaßnahmen und führend in der Haushaltsdisziplin. Das galt auch für die Vereinigten Staaten, zumindest unter den von den Demokraten geführten Regierungen. Die Politiker/innen setzten sich für Haushaltskonsolidierung und Schuldenabbau ein, anstatt Investitionen und Beschäftigung zu versprechen. In der quälend langsamen Erholung nach der Finanzkrise von 2008 bestand das Problem für die Zentralbanker/innen nicht darin, dass zu viel Geld ausgegeben wurde, sondern darin, dass die Regierungen nicht für angemessene fiskalische Anreize sorgten, dass sie also zu wenig ausgaben.

Statt mit aufmüpfigen Gewerkschaften und nutzlosen Politiker/innen bekamen es die Zentralbanker/innen mit Finanzmarktinstabilität zu tun. Immer wieder haben die Finanzmärkte, von denen man angenommen hatte, sie seien die rationalen Disziplinierer/innen, stattdessen ihre Verantwortungslosigkeit, ihre Neigung zu Panik und tiefgreifender Instabilität unter Beweis gestellt. Sie sind anfällig für Blasen, Booms und Zusammenbrüche. Doch anstatt zu versuchen, die unberechenbaren Kreiselbewegungen der Finanzmärkte zu zähmen, haben die Zentralbanken, allen voran die Fed, es auf sich genommen, als umfassendes Sicherheitsnetz für das Finanzsystem zu fungieren - zuerst 1987 nach dem weltweiten Börsencrash, dann nach dem Dot-Com-Crash der 1990er Jahre, noch dramatischer im Jahr 2008 und nun in einem wirklich beispiellosen Ausmaß als Reaktion auf die Coronakrise. Liquiditätsversorgung ist der Slogan, unter dem die Zentralbanken heute das gesamte Finanzsystem auf nahezu permanenter Basis absichern.

Die neuen Interventionen und ihre Folgen

Zum Entsetzen der Konservativen weltweit ist die Arena, in der Zentralbanken diesen Balanceakt vollziehen, der Markt für Staatsschulden. Staatliche Schuldverschreibungen sind nicht nur Verpflichtungen der Steuerzahler/innen. Für die Gläubiger/innen der Regierung sind sie es sichere Geldanlagen, Pfänder, mit denen Pyramiden privater Kredite abgesichert werden können. Dieser janusköpfige Charakter der Schuldverschreibungen schafft eine grundlegende Spannung. Während konservative Ökonom/innen den Tausch von Staatsschulden gegen Liquidität durch Zentralbanken als eine gefährliche Rutschbahn in Richtung Hyperinflation verfluchen, beruht die Realität der modernen marktbasierten Finanzierung genau auf dieser Transaktion - dem Tausch von Anleihen gegen Liquidität, gegebenenfalls vermittelt durch die Zentralbank.

Eine der Nebenwirkungen der massiven Interventionen der Zentralbanken an den Anleihemärkten besteht darin, dass die Zinssätze sehr niedrig sind, in vielen Fällen nahe Null, und manchmal sogar negativ. Wenn die Zentralbanken Anleihen aus den privaten Bilanzen nehmen, treiben sie die Preise nach oben und die Renditen nach unten. In Japan, einst einer der Motoren der Finanzspekulation, ist die Kontrolle der japanischen Zentralbank heute so absolut, dass der Handel mit Anleihen nur noch sporadisch und zu Preisen stattfindet, die effektiv von der Zentralbank festgelegt werden.

Die Interventionen der Zentralbanken trägt dazu bei, die Risiken des Finanzsystems zu bändigen. Jedoch hemmen sie weder das Wachstum des Finanzsystems, noch schaffen sie faire Wettbewerbsbedingungen. Während hochkarätige Fondsmanager/innen und ihre privilegierten Kunden auf den Aktienmärkten sowie in exotischen, exklusiven Anlagemöglichkeiten wie Private Equity und Hedge-Fonds nach besseren Renditen jagen und damit mehr Risiken eingehen, finden sich vorsichtigere Anleger/innen auf der Verliererseite. Niedrige Zinssätze schaden den Sparer/innen, sie schaden auch den Pensionsfonds, und sie schaden den Lebensversicherungen, die sichere langfristige Renditen für ihre Portfolios erzielen müssen. Und genau diese Interessensgruppen waren die Hauptstützen des Rechtsstreits vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht.

Die neue Finanzwelt steht nach den alten Maßstäben Kopf

Die Kläger/innen und ihre Anwält/innen werfen der Zentralbank vor, die Zinssätze nach unten gedrückt zu haben, wodurch leichtfertige Kreditnehmer/innen auf Kosten der braven Sparer/innen begünstigt wurden. Was sie dabei ignorierten, sind die tieferen wirtschaftlichen Zwänge, auf die die Zentralbank selbst reagierte. Wenn die Sparquoten hoch sind, die Investitionsquoten aber niedrig, wenn Regierungen, insbesondere die deutsche Regierung, netto keine neuen Kredite aufnehmen, sondern Schulden zurückzahlen, wird dies die Zinssätze zwangsläufig drücken.

Das Ergebnis dieser Kombination von wirtschaftlichen, politischen und finanziellen Kräften ist eine ökonomische Landschaft, die – an den Maßstäben des späten 20. Jahrhunderts gemessen – auf dem Kopf steht. Die Bilanzen der Zentralbanken sind grotesk aufgebläht, doch die Preise (mit Ausnahme der finanziellen Vermögenswerte) rutschen in Richtung Deflation. Vor der Coronakrise führte die rekordverdächtig niedrige Arbeitslosigkeit nicht mehr zu Lohnerhöhungen. Obwohl die langfristigen Zinssätze nahe Null liegen, weigerte sich die Politik, Geld für öffentliche Investitionen aufzunehmen. Die Reaktion der Zentralbanker/innen, die verzweifelt ein Abgleiten in eine sich selbst tragende Deflation verhindern wollen, besteht darin, immer wieder nach Stimuli zu greifen.

In den Vereinigten Staaten trug zumindest in dieser Hinsicht die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten dazu bei, ein gewisses Maß an Normalität wiederherzustellen, wenn auch mit einer perversen Schärfe. Von den Republikanern im Kongress angestachelt, hat seine Regierung keinerlei Hemmungen gezeigt, riesige Defizite zur Finanzierung von Steuersenkungen für die Reichen in Kauf zu nehmen. Trump hätte im Wahlkampf 2020 eigentlich auf die Trumpfkarte einer boomenden Wirtschaft gesetzt.

Im Jahr 2019 schien sich die Fed auf vertrautem Terrain zu bewegen: dem Abwägen, wann die Zinssätze erhöht werden müssten, um eine Überhitzung zu vermeiden. Der Vorsitzende Jerome Powell hat es sicherlich nicht goutiert, vom US-Präsidenten öffentlich wegen Zinserhöhungen angegangen zu werden, aber zumindest verlor sich die Fed nicht im Labyrinth niedrigen Wachstums, niedriger Inflation, niedriger Zinsen und niedriger Staatsausgaben, mit denen die japanische Zentralbank und die EZB zu kämpfen hatten.

Seit den 1990er Jahren hat die Bank of Japan ein geldpolitisches Experiment nach dem anderen durchgeführt. Und angetrieben durch die tiefgreifende Krise in der Eurozone, begann die EZB unter der Führung von Mario Draghi mit ihren eigenen Experimenten. Diese Bemühungen erwiesen sich als wirksam und haben ein gewisses Maß an finanzieller Stabilität herbeigeführt. Sie machten die Zentralbanker/innen gar zu Helden. Aber sie veränderten auch die Bedeutung des Begriffs Unabhängigkeit grundlegend. Ausgehend von den Krisen der 1970er Jahre, bedeutete Unabhängigkeit lange Zeit Zurückhaltung und Respekt vor den Grenzen der übertragenen Autorität. In der neuen Ära wird sie nun mehr mit Handlungsfreiheit und Initiative verbunden. In den meisten Fällen bedeutete Unabhängigkeit gar, dass die Zentralbank im Alleingang die Lage retten musste.

Das Erbe der Euro-Gründung

Während dieser Bedeutungswandel in den meisten Teilen der Welt in einem pragmatischen Geist akzeptiert wurde - es war beruhigend zu wissen, dass zumindest jemand das Sagen hatte -, konnte es in der Eurozone niemals so einfach sein. Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl hatte den deutschen Wähler/innen die Aufgabe der D-Mark mit dem Versprechen verkauft, dass die EZB der Bundesbank so ähnlich wie möglich werden würde. Es war der EZB verwehrt, Staatsdefizite direkt zu finanzieren. In der Hoffnung, eine unzulässige nationale Einflussnahme zu begrenzen, hatte sie nur eine begrenzte politische Rechenschaftspflicht. Ihr enges Mandat bestand lediglich darin, Preisstabilität zu gewährleisten.

Dies war immer eine Wette darauf, dass Italien und Frankreich bereit waren, mitzuziehen; denn sie hatten ebenfalls eine Stimme im Euro-System. Ihre Finanzeliten drängten auf eine gemeinsame Währung: zum Teil, weil sie eine Beschränkung ihrer eigenen undisziplinierten politischen Klasse suchten - aber auch, weil sie darauf setzten, dass sie als Mitglieder der Eurozone größere Chancen hätten, die europäische Geldpolitik in ihre Richtung zu lenken, als wenn ihre nationalen Zentralbanken durch den Druck der Anleihemärkte gezwungen wären, der Bundesbank zu folgen. In den ersten Jahren des Euro funktionierte der Kompromiss zur gegenseitigen Zufriedenheit.

Die Eurokrise und ihre Folgen

Aber er war immer brüchig. Die Finanzkrise von 2008 erzwang dann eine dramatische Ausweitung der Tätigkeit der EZB: Sie intervenierte durch den Aufkauf von Staats- und Unternehmensanleihen. So begrenzte sie die von den schwächsten Mitgliedsstaaten der Eurozone gezahlten Zinssätze, und trieb die Kreditvergabe der Banken durch komplexe Zinsmanipulationen voran. Damit war der Konflikt vorhersehbar. Es war diese Spannung, die sich in der zweiten Maiwoche vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht entlud.

Die Mehrheit der Finanzkommentator/innen hielt den wachsenden “Aktivismus” der EZB im Großen und Ganzen für begrüßenswert: Die EZB ist der eine Teil der komplexen europäischen Verfassung, der tatsächlich mit wirklicher Autorität und Schlagkraft als europäisch-föderale Institution funktioniert. Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel die EZB-Politik öffentlich nur grummelnd unterstützte, beruhte ihre Europapolitik dennoch auf der stillschweigenden Übereinkunft, die EZB das Notwendige tun zu lassen. Der EZB zu gestatten, die Spreads zu steuern – also die Zinsspanne, die von weniger solventen staatlichen Kreditnehmer/innen gezahlt werden muss –, war einfacher, als sich mit der Frage zu befassen, wie der Schuldenstand Italiens beherrschbar werden kann.

Das politische Umfeld der Verfassungsklage

Ein widerspenstiger Teil der öffentlichen Meinung in Deutschland hat sich jedoch nie mit dieser Realität abgefunden. Für sie diente die EZB als Blitzableiter für ihre Klagen über die sich wandelnde politische Ökonomie des letzten Jahrzehnts. Sie warfen ihr vor, Sparer/innen mit ihrer Niedrigzinspolitik übervorteilt und die Schuldenaufnahme der südeuropäischen Länder gefördert zu haben. Vertreter/innen der alten Religion der deutschen freien Marktwirtschaft betrachteten billige Kredite als Untergrabung der Marktdisziplin. Alles in allem verdächtigten sie die EZB, eine keynesianische Politik der Umverteilung im monetären Deckmantel zu betreiben - all das, was das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft eigentlich ausschließen sollte. Für diese Deutschen ist die EZB eine undurchsichtige technokratische Agentur, die sich Befugnisse anmaßt, die eigentlich den nationalen Parlamenten zustehen, und die den Weg zum ungeliebten europäischen Superstaat ebnet. Und für sie ist es natürlich alles andere als ein Zufall, dass all dies die Schöpfung eines “machiavellistischen Italieners” mit transatlantischen Geschäftsbeziehungen ist: Mario Draghi.

Für den Teil der deutschen Öffentlichkeit, der dem Euro schon immer misstrauisch gegenüberstand, war Draghis Ankündigung im Jahr 2012 "alles zu tun, was nötig ist" (“whatever it takes”) der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Wir erinnern uns: Die AfD entstand 2013 ursprünglich nicht als eine Anti-Einwanderungs-Partei, sondern als eine rechtskonservative wirtschaftspolitische Alternative zu Merkels Politik, welche die “Possen” der EZB duldete. Bernd Lucke, einer der Gründer der AfD, der die Partei inzwischen verlassen hat, gehörte zu den Kläger/innen, über deren Klage das Bundesverfassungsgericht Anfang Mai entschieden hat.

Unterdessen verfolgte die BILD-Zeitung eine Kampagne - eine wahre Vendetta gegen Draghi - , die ihn im vergangenen September als Vampir darstellte, der das Blut deutscher Sparer/innen saugt. Und selbst Persönlichkeiten aus der aktuellen oder ehemaligen Führungsriege der Bundesbank scheuten sich nicht, sich dem öffentlichen Widerstand gegen den expansiven Kurs der EZB anzuschließen. Bei der Verteidigung eines harten Euro passte das patriotische Märchen der disziplinierten deutschen Sparer/innen gut ins Bild, die für die laxe Haushaltsdisziplin der südeuropäischen Nachbarn herhalten müssen. Doch solange es Merkel vorzog, mit der Führung der EZB zusammenzuarbeiten, blieb diese Opposition marginalisiert. Dieser Zustand wurde nun mit dem Karlsruher Richterspruch beendet.

Das Bundesverfassungsgericht und der Euro

Das Bundesverfassungsgericht hat – einmal angerufen – ein recht “aktivistisches” Verständnis seiner Rolle innerhalb der deutschen Politik. Es präsentiert sich gern als "Bürgergericht", das sich nicht davor scheut, die politische Agenda aufzumischen - von der Kinderbetreuung oder der Bedürftigkeitsprüfung von Sozialleistungen bis hin zur künftigen Entwicklung des europäischen Projekts. Seit den 1990er Jahren war es eine wachsame Kontrollinstanz gegen die ungehinderte Expansion der Macht europäischer Institutionen. Es argumentierte mit der Verteidigung der demokratischen nationalen Souveränität und beharrte auf seinem Recht, die europäischen Institutionen immer wieder auf ihre Konformität mit den Grundnormen des deutschen Grundgesetzes zu überprüfen.

Jede sukzessive Ausweitung des Tätigkeitsbereichs der EZB löste somit eine neue Runde an Klagen aus. Das 2012 von Draghi angekündigte Instrument der geldpolitischen Outright-Geschäfte, also der Möglichkeit im Notfall unbegrenzt Staatsanleihen von europäischen Krisenstaaten zu kaufen, wurde von einer Koalition aus linken und rechten deutschen Kläger/innen angefochten. Erst im Sommer 2015 beschied das Gericht es schließlich notgedrungen als akzeptabel.

Als Draghi schließlich 2015 die EZB zu groß angelegten Anleihekäufen veranlasste, wie sie sowohl die Fed als auch die japanische Zentralbank bereits Jahre zuvor begonnen hatten, löste auch dies sofort eine neue Runde an Prozessen aus. Im Jahr 2017 erließ das Gericht eine Vorabentscheidung, verwies den Fall jedoch an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Im Dezember 2018 erklärte der EuGH das Programm für vereinbar mit den europäischen Verträgen. Die deutschen Verfassungsrichter/innen waren jedoch mit der Argumentation des EuGH nicht zufrieden und führten 2019 Anhörungen durch. Nach monatelangen Beratungen sollte Karlsruhe sein Urteil am 24. März verkünden, doch der Termin wurde eine Woche zuvor wegen der Coronavirus-Pandemie verschoben.

Das erwies sich aus Sicht der EZB als vorteilhaft, denn die Finanzmärkte befanden sich im März in einer Krise. Als es der EZB zwischen dem 12. und 18. März nicht gelang, die Wogen zu glätten, stiegen die Zinsen sprunghaft an, die Italien für staatliche Kreditaufnahme zahlen musste. Dank der massiven Intervention der EZB haben sie sich seitdem wieder beruhigt. Christine Lagardes EZB hat angekündigt, eine zusätzliche Ankaufsrunde von mehr als 700 Milliarden Euro durchzuführen, und wenn nötig, würden weitere Käufe folgen. Um die Märkte zu beruhigen, brauchte es Diskretion und Freigiebigkeit - genau das, was die deutschen Kritiker/innrn der EZB am meisten befürchteten und im Anleihekaufprogramm von 2015 so unentwegt kritisiert hatten.

Das neueste Urteil aus Karlsruhe wurde damit noch bedeutsamer. Was bedeutete das Urteil zu Draghis quantitativer Lockerung (QE) von 2015 für ein mögliches gerichtliches Vorgehen gegen Lagardes aktuelles Krisenprogramm? Wie könnte das Gericht den Verlauf der Debatte in Deutschland beeinflussen? Die ersten Anhörungen im Jahr 2019 fielen für die EZB eher ungünstig aus. Die Auswahl der Expert/innen durch das Gericht war einseitig konservativ. Das Gericht hatte den Beschwerden kleinerer deutscher Banken die von den niedrigen Zinssätze betroffen waren, volles Gehör geschenkt. Es war so, als hätte das Gericht ausgerechnet Ölfirmen, und nur Ölfirmen, zur Frage einer CO2-Steuer angehört.

Das Urteil und seine Begründung

Obwohl das Urteil erwartbar war, kommt es doch einem politischen Erdbeben gleich. Die Frage, die sich letztlich als entscheidend erwiesen hat, betrifft die begriffliche Abgrenzung zwischen Geldpolitik und Wirtschaftspolitik. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die EZB bei ihren Bemühungen, die Inflation auf bis zu zwei Prozent zu erhöhen, die Grenzen ihres eigentlichen Bereichs der Geldpolitik überschritten habe und in den Bereich der Wirtschaftspolitik vorgedrungen sei. Dieser sei nach den europäischen Verträgen den nationalen Regierungen vorbehalten.

Dies ist jedoch keineswegs eine offensichtliche Abgrenzung. Sie wurde ursprünglich in die Verträge eingebaut um die nationalen Kompetenzen zu schützen, und um sicherzustellen, dass der Fokus der EZB auf Preisstabilität vor einer unzulässigen Einmischung durch Parteien geschützt wird, die andere Anliegen wie Arbeitslosigkeit oder Wachstum in den Vordergrund stellen könnten. Diese Abgrenzung einzuhalten ist eines der zentralen Dogmen des Ordoliberalismus, einer deutschen wirtschaftspolitischen Schule. Aber sobald die Geldpolitik einmal eine substanzielle Größenordnung erreicht hat, wird diese Abgrenzung einfach bedeutungslos.

Der EuGH in Luxemburg vertrat vernünftigerweise die Auffassung, dass die EZB durchaus ihrer Verpflichtung zur Einhaltung dieser Abgrenzung nachgekommen sei, indem sie ihre Politik im Hinblick auf das Inflationsziel rechtfertigte und einem für moderne Zentralbanken typischen Policy-Mix folgte. Diesem pragmatischen Ansatz des EuGH widerspricht Karlsruhe. Der EuGH habe den Fall durchgehen lassen, ohne die Verhältnismäßigkeit des zugrundeliegenden Zielkonfliktes zu prüfen, donnerte das Bundesverfassungsgericht. Damit habe er seine Pflicht verletzt und ultra vires - über seine Befugnisse hinaus - gehandelt. Es sei daher Sache des deutschen Gerichts, in dieser Frage zu entscheiden, und es stellte wenig überraschend fest, dass die EZB die von den Zeug/innen des Gerichts vorgebrachten wirtschaftlichen Bedenken nicht zu seiner Zufriedenheit beantwortet habe. Folglich wurde befunden, dass auch die EZB ihr Mandat überschritten habe.

Da die EZB eigentlich nicht in den Zuständigkeitsbereich des deutschen Gerichts fällt, erging das Urteil gegen die deutsche Regierung, die ihrer Pflicht nicht nachgekommen sei, die Kläger/innen vor der übergriffigen Politik der EZB zu schützen. Wie Karlsruhe betonte, wird das Urteil nicht sofort in Kraft treten. Die EZB habe eine dreimonatige Gnadenfrist, um zufriedenstellende Belege dafür zu erbringen, dass sie tatsächlich die wirtschaftlichen Nebenwirkungen ihrer Politik gegen die beabsichtigten Auswirkungen abgewogen hat. Andernfalls sei die Bundesbank verpflichtet, jegliche Zusammenarbeit beim Erwerb von Anleihen im Rahmen des sogenannten quantitative easing-Programms von 2015 einzustellen.

Das Urteil wurde in einem Gerichtssaal unter strikter Beachtung der Abstandsregeln verkündet, doch auf Gesichtsmasken hatten die Richter verzichtet. Der Vorsitzende des zweiten Senats Andreas Voßkuhle stellte fest, dass das Urteil als eine Herausforderung an die europäische Solidarität interpretiert werden könnte, die zur Bewältigung der COVID-19-Krise erforderlich sei. Daher fügte er zur Sicherheit hinzu, dass das Urteil nur für das Vorgehen der EZB im Jahr 2015 gelte. Es bestehe daher keine Notwendigkeit für eine sofortige Änderung der Politik. Die Märkte haben die Intervention bisher anstandslos hingenommen. Die Karlsruher Entscheidung ist dennoch ein Schock.

Ein anmaßendes Urteil

Es ist eine spektakuläre Herausforderung der Zuständigkeiten in der europäischen Rechtsprechung. Anstatt lediglich die Konformität der Politik der EZB mit dem deutschen Grundgesetz zu bewerten, hat das Bundesverfassungsgericht sich das Recht angemaßt, die Konformität des Vorgehens der EZB mit dem europäischen Vertragsrecht zu bewerten, ein Bereich, der ausdrücklich dem EuGH vorbehalten ist. Dies wird sicherlich denjenigen in Polen und Ungarn in die Hände spielen, die entschlossen sind, die gemeinsamen Normen der Europäischen Union in Frage zu stellen. Es dauerte nicht lange, bis der stellvertretende polnische Justizminister seine enthusiastische Unterstützung für die Karlsruher Entscheidung signalisierte. Dies könnte am Ende die nachhaltigste Wirkung des Falles sein.

Aber es ist auch aus einem anderen Grund spektakulär. Indem das deutsche Gericht die EZB zur Rechtfertigung ihrer Politik des quantitative easing auffordert, hat es nicht nur eine bestimmte Politik, sondern die gesamte Begründung der Unabhängigkeit von Zentralbanken infrage gestellt. Mehr noch: es hat dies nicht nur formal, sondern auch inhaltlich getan. Es hat die politische und materielle Basis offengelegt, die hinter der Norm der Unabhängigkeit steht.

Die Behauptung, die EZB habe die Grenze zwischen Geld- und Wirtschaftspolitik überschritten, ist als abstrakte Behauptung nicht so sehr ein Skandal als vielmehr eine Tautologie. Nur in einer ordoliberalen Phantasiewelt kann man sich vorstellen, dass die Geldpolitik rein signaltechnisch funktioniert, ohne dass sie sich auf die Realwirtschaft auswirkt. Es ist aber genau das Ziel der Geldpolitik, die reale Wirtschaftstätigkeit zu beeinflussen, indem die Kosten der Kreditaufnahme gesenkt werden. Weit davon entfernt, die wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Geldpolitik außer Acht zu lassen, verbringt die EZB ihre gesamte Zeit damit.

Nichtsdestotrotz hat das Gericht, indem es auf dieser scheinbar absurden Unterscheidung beharrt, tatsächlich eine bedeutende historische Verschiebung festgestellt. Die Verschiebung geht nicht von der Geld- zur Wirtschaftspolitik, sondern von einer Zentralbank, deren Aufgabe es ist, die Inflation einzudämmen, zu einer, deren Aufgabe es ist, Deflation zu verhindern - und von einer Zentralbank mit einem ihr übertragenen eng gefassten politischen Ziel zu einer, die als Händler in letzter Instanz agiert, um das gesamte Finanzsystem zu stabilisieren. Das deutsche Gericht hat recht, wenn es einen Kunstgriff aufdeckt, durch den die EZB eine völlig neue Politik durch das gleiche alte Mandat des Strebens nach Preisstabilität rechtfertigt. Was das Bundesverfassungsgericht jedoch verkennt, ist, dass dies keine willkürliche Entscheidung der EZB ist, sondern durch historische Umstände erzwungen wurde.

Seziert man die juristische Fachsprache, lautet die von den Kläger/innen vor Gericht vorgebrachte Klage, dass sich die Welt verändert hat. Den Kläger/innen zufolge sollte die europäische Zentralbank eine Ordnung aufrechterhalten, in der übermäßige Staatsausgaben eingedämmt, Lohnforderungen und Inflation diszipliniert und sparsame Sparer/innen mit soliden Erträgen belohnt wurden. Die Realität, mit der sie sich in den letzten 10 Jahren konfrontiert sahen, ist eine ganz andere. Sie vermuten ein falsches Spiel und geben der neumodischen Politik der EZB und ihrer italienischen Führung die Schuld. Anstatt die historische Bedeutung dieser Krise anzuerkennen und eine allgemeine Neubewertung der Rolle der Zentralbanken in Bezug auf eine radikal andere Wirtschaftslage zu fordern, hat sich das deutsche Bundesverfassungsgericht zum Sprachrohr der spezifischen Partikularinteressen der Kläger/innen gemacht, diese mit einem bestimmten Verständnis demokratischer Grundrechte verknüpft und die Grundlage der europäischen Rechtsordnung in Frage gestellt.

Seine Bereitschaft, diese Rolle zu übernehmen, spiegelt zweifellos seinen Groll über die Vormachtstellung des EuGH wider. Die Entscheidung spiegelt in diesem Sinne das Anliegen wider, die nationale Souveränität Deutschlands zu verteidigen. Sie spiegelt aber auch ein Unverständnis, ein Scheitern des Bundesverfassungsgerichts, sich mit der Rolle der Zentralbanken in einer radikal veränderten Welt auseinander zu setzen. Dies legt die Grenzen der bestehenden Legitimierung von Zentralbanken - einschließlich des Narrativs der Unabhängigkeit der Zentralbanken – genau in dem Moment offen, in dem wir mehr denn je vom entschlossenen Handeln der Zentralbanken abhängig geworden sind.

Die Absurdität der Argumentation

Um die deutsche Perspektive für einen Moment zu verlassen, bietet sich ein Gedankenexperiment an: Stellen Sie sich ein Gericht vor, das irgendwann Mitte der 1980er Jahre in den Vereinigten Staaten zusammentritt, um zu beurteilen, ob die wirtschaftlichen Auswirkungen der drastischen Zinserhöhungen auf die Stahlarbeiter/innen des Rust Belt von Paul Volcker, dem damaligen Chef der Fed, angemessen berücksichtigt wurden oder nicht. Oder, nur etwas plausibler, stellen Sie sich eine Anhörung vor dem spanischen oder italienischen Verfassungsgericht vor, bei der es um folgende Frage geht: haben es ihre Regierungen versäumt, die Gründe für die Entscheidung der EZB zu prüfen, in den Krisenjahren 2008 oder 2011 die Zinssätze zu erhöhen, als die europäische Union im Begriff war, von einer Rezession in die nächste zu rutschen. Wurden in diesen kritischen Momenten die deutschen Inflationsängste gegen den Schaden abgewogen, der durch die Zinserhöhung für die Jobchancen von Millionen spanischer und italienischer Mitbürger/innen entstand? Hätte in Karlsruhe eine Klage eines unglücklichen deutschen Staatsbürgers verhandelt werden können, der infolge dieser katastrophal falsch eingeschätzten geldpolitischen Maßnahmen seinen Arbeitsplatz verlor?

Natürlich wurden diese Entscheidungen damals kritisiert. Aber diese Art von Kritik wurde nicht als verfassungsrechtlich bedenkenswert erachtet. Das war lediglich Politik, und es war die Pflicht der Zentralbank und ein Ausdruck ihrer Unabhängigkeit, sich über solche Einwände hinwegzusetzen und sie zu ignorieren.

Reaktionen auf das Urteil

Einige der politischen Reaktionen auf das Gerichtsurteil waren aufschlussreich. Auf deutscher Seite hat der Wirtschaftsrat von Merkels CDU sofort seine Unterstützung für das Urteil zum Ausdruck gebracht. So auch ein Sprecher der AfD. Friedrich Merz als Aspirant auf Merkels Nachfolge ließ verlauten, dass er die deutsche Regierung nun verpflichtet sieht, jede weitere Ausweitung des Handlungsspielraums der EZB vorsorglich zu prüfen.

Die Reaktion der Europäischen Kommission und der EZB kam ebenfalls umgehend. Sie schlossen die Reihen um den EuGH. Die klare Botschaft war, dass sie an das Recht und die Institutionen Europas gebunden sind. Nach einigen Tagen der Beratung erklärte die EZB mit demonstrativem Understatement, dass sie das Karlsruher Urteil zur Kenntnis nimmt, es aber ignorieren werde, da die EZB dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Gerichtshof, nicht aber dem deutschen Bundesverfassungsgericht rechenschaftspflichtig sei. Der EuGH habe im Dezember 2018 auf Antrag des deutschen Gerichts über das Programm zum Anleihenkauf entschieden. Es gibt keine Wiederaufnahme. Der Fall ist abgeschlossen.

Damit sitzen die Bundesregierung und die Bundesbank in der Klemme. Das sozialdemokratisch geführte Finanzministerium in Berlin, seinem Image als Verfechter einer pro-europäischen Politik verpflichtet, spielte die Bedeutung des Urteils herunter. Der neuralgische Punkt wird die Bundesbank sein. Sie ist sowohl eine deutsche Behörde, die dem Grundgesetz und damit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts untersteht, als auch ein Mitglied des Eurosystems - und damit an die Satzung der EZB gebunden.

Ein offener und unlösbarer Konflikt zwischen der Bundesbank und dem Verfassungsgericht auf der einen Seite und der EZB auf der anderen Seite würde die Spannungen noch verstärken, die bereits jetzt innerhalb der Eurozone hinsichtlich der Finanzierung der Antworten auf die Coronakrise spürbar sind. Die Ressentiments in Italien und Spanien gegenüber Deutschland sind bereits sehr groß.

Man könnte den Aufruf des deutschen Gerichts, die Expansion der Kompetenzen der EZB zu begrenzen und auszugleichen, als Aufforderung verstehen, stattdessen die Spielräume der gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik auszuweiten. Genau dieses Argument hat die EZB selbst vorgebracht. Bisher standen dieselben konservativen wirtschaftspolitischen Kräfte in Deutschland, die den Fall vor das Bundesverfassungsgericht gebracht haben, auch einem großen Schritt in Richtung eines europäischen fiskalischen Föderalismus im Wege. Nachdem das Verfassungsgericht dem bisherigen Status Quo den Boden unter den Füßen weggezogen hat, trat Bundeskanzlerin Merkel nun die Flucht nach vorn an: Ihre Zustimmung zu einem Vorschlag von Emmanuel Macron für einen mit 500 Milliarden Euro ausgestatteten europäischen Wiederaufbaufonds, für den die EU-Kommission an den Kapitalmärkten Schulden aufnimmt, ist ein wichtiger Schritt in Richtung einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik. Doch wird das nicht reichen, um die Eurozone in der tiefen Wirtschaftskrise dauerhaft zu stabilisieren.

Angesichts des wirtschaftspolitischen Konservatismus und der Anmaßungen des Bundesverfassungsgerichts, und der Aussicht auf eine Reihe von Herausforderungen durch noch unfreundlichere Kräfte quer durch die EU, ist hinsichtlich der EZB eine klare Haltung von europäischer Seite wünschenswert. Es wäre jedoch bedauerlich, wenn die EZB auf den weltfremden deutschen Angriff auf die Realitäten des Zentralbankwesens des 21. Jahrhunderts mit einem Rückzug in die Defensive reagieren würde.

Es braucht eine offensive Antwort: Neue Definition des Mandats

Falls es nicht bereits offensichtlich war, hat der enorme wirtschaftliche Schock durch den Coronavirus zweifelsfrei deutlich gemacht, dass sich sowohl die politischen als auch die wirtschaftlichen Umstände, aus denen das ursprüngliche Modell der unabhängigen Zentralbank hervorgegangen ist, verändert haben, und zwar nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern weltweit. Damit ist das klassische Paradigma der Inflationsbekämpfung durch Unabhängigkeit obsolet geworden. Das damit einhergehende Prinzip der Übertragung von Handlungskompetenzen auf Basis eines engen Mandats muss in Zweifel gezogen werden. In den aktuellen Umständen sind die realen Probleme die drohende Deflation, die Stabilität des Finanzsystems und eine zu passiveFiskalpolitik. Um diesen gerecht zu werden, hat die EZB, wie alle ihre Pendants, in der Tat eine Politik verfolgt, die weit über das konventionelle Verständnis der Sicherung der Preisstabilität hinausgeht. In Europa ist die EZB die einzige Akteurin, die eine Wirtschaftspolitik verfolgt, die diesen Namen verdient. Angesichts ihres eingeschränkten Mandats erforderte dies eine gewisse Verschleierung. Obwohl die Verfassungsrichter/innen selbst im Dunkeln tappen, hat die Karlsruher Entscheidung die Scharade der EZB hilfreich ins Rampenlicht gerückt.

Kurzfristig scheint es für die EZB unvermeidbar zu sein, darauf mit einer klaren Verteidigung ihrer Unabhängigkeit zu reagieren. Auf Dauer greift das jedoch zu kurz. Die zielführendere Antwort wäre es, sich für ein breiteres Mandat einzusetzen, um sicherzustellen, dass die Zentralbank Preisstabilität mit anderen Anliegen in Einklang bringen kann. Das zweite Ziel der Bank sollte sicherlich die Klimastabilität und Vollbeschäftigung und nicht die Interessen deutscher Sparer/innen sein. Eine offene Debatte über den Umfang des Mandats der EZB wäre ein Fortschritt für die europäische Politik. Die politische Herausforderung einer Anpassung der europäischen Verträge wäre selbstverständlich nicht trivial. Das erfordert politischen Mut. Aber die Forderung selbst sollte nicht als abwegig dargestellt und abgetan werden. Schließlich hat auch die Fed ein Doppelmandat. Neben der Preisstabilität wird sie durch den Humphrey-Hawkins Act dazu angehalten, eine möglichst hohe Beschäftigungsquote anzustreben. Wie die Geschichte der Fed beweist, ist dies alles andere als eine verbindliche Verpflichtung. Aber seit 2008 gibt sie der Fed den nötigen Spielraum, um ihr Tätigkeitsspektrum zu erweitern.

Diese Ausweitung der Aktivitäten war zu einem großen Teil eine Frage des technokratischen Ermessens. Auf eine Diskussion über eine Erweiterung des Mandats der EZB zu drängen, sollte das Gegenteil verfolgen. Ziel sollte es sein, eine breit angelegte Diskussion über den Zweck von Zentralbanken zu ermutigen. Auch hier könnte das Beispiel der USA eine Inspiration sein. Das Doppelmandat der Fed ist, etwas überraschend, ein Vermächtnis progressiver Kämpfe. Sie wurden in den 1960er und 70er Jahren - insbesondere von der Bürgerrechtsbewegung unter der Führung von Coretta Scott King - geführt, um soziale Gerechtigkeit an die Spitze der makroökonomischen Politikagenda zu setzen. Dies mag weit hergeholt erscheinen, aber wir sollten vor dieser Herausforderung nicht zurückschrecken. Der Nimbus der unabhängigen Zentralbanken ist schließlich erst in den 90er Jahren in Stein gemeißelt worden.

Die neuen Herausforderungen: Pandemiefolgen und Klimakrise

Zwei neue Themen machen dies im gegenwärtigen Augenblick so dringlich. Das eine ist die finanzielle Hinterlassenschaft der Coronakrise, die uns mit gigantischen Schulden belasten wird. Die Bilanz der Zentralbank ist ein zentraler Mechanismus zur Verwaltung dieser Schulden. Das andere Thema ist die Energiewende und die Notwendigkeit, unsere Gesellschaften widerstandsfähig gegen kommende Umweltkrisen zu machen. Das erfordert staatliche Ausgaben, aber auch eine Neuausrichtung privater Kredite auf nachhaltige Investitionen. Auch in diesem Prozess kommt der Zentralbank eine Schlüsselrolle zu. Die heutigen Mandate erfordern, dass diese Anliegen mit Argumenten über die Finanzmarktstabilität gerechtfertigt werden. Es ist Zeit für einen direkteren, offener politischen Ansatz.

Das Modell der unabhängigen Zentralbank entstand durch den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und aus der Notwendigkeit, während der großen Inflation der 1970er das Inflationsniveau steuern zu können. Die große Bandbreite der Interventionen, die derzeit von den Zentralbanken weltweit verfolgt werden, ist aus den Krisen eines global integrierten Finanzsystems hervorgegangen. Sie wurden durch das Fehlen eines Inflationsrisikos ermöglicht. Es ist ihnen gelungen, die Katastrophe vorerst abzuwehren. Was fehlt, ist ein konkreter Auftrag hierzu und eine aktualisierte demokratische Grundlage.

Wir legen Wert auf Preisstabilität, aber wie man es auch betrachtet, die Kräfte, die sie einst zu einem dringenden Problem gemacht haben, sind heute nicht mehr aktuell. Dieses Ziel allein reicht nicht mehr aus, um das Mandat der wichtigsten wirtschaftspolitischen Instanz zu definieren. Finanzmarktstabilität ist von wesentlicher Bedeutung, aber die gegenwärtige inzestuöse Beziehung zwischen den Zentralbanken und dem Finanzsystem neigt eher dazu, gefährliche Spekulationen einer sich selbst bereichernden Elite abzusichern und zu ermutigen. Unterdessen sind niedriges Wachstum, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit die Wurzel vieler unserer sozialen Missstände. Gleichzeitig hängt das Problem der Schuldenlast, also die Frage wie wir mit Staatsverschuldung umgehen, - entscheidend davon ab, wie schnell die Wirtschaft wächst. Und letztlich können wir nicht länger leugnen, dass wir uns mit grundlegenden Umweltproblemen konfrontiert sehen, die wirtschaftlich eine dramatische, die Generationen übergreifende Herausforderung an Investitionen darstellen.

Dies sind die politischen Herausforderungen des dritten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts. Geld und Finanzen müssen bei der Bewältigung all dieser Herausforderungen eine Schlüsselrolle spielen. Die Zentralbanken müssen daher im Zentrum der Politikgestaltung stehen. Das Gegenteil zu behaupten hieße, sowohl die Logik der Wirtschaft als auch die faktischen Entwicklungen im Zentralbankwesen der letzten Jahrzehnte zu leugnen. Wir sollten jedoch auch anerkennen, dass diese Expansion in einem Spannungsverhältnis zur gegenwärtigen politischen Konstruktion der Zentralbanken und insbesondere der EZB steht. Die Definition ihrer Position durch Unabhängigkeit, streng abgegrenzte Mandate, und feste Regeln, schränkt ihre demokratische Rechenschaftspflicht ein. Das war die ausdrückliche Absicht der konservativen Reaktion auf die Turbulenzen der 1970er Jahre.

Durch das deutsche Gerichtsurteil steckt Europa in einer Sackgasse, weil eine unabhängige Institution eine andere auf Geheiß einer verärgerten und letztlich eigennützigen Minderheit zu kontrollieren versucht. Um diese Sackgasse zu verlassen, müssen wir aus dem historischen Schatten der 1970er heraustreten. Dies wäre zweifellos mit Risiken verbunden. Aber das Gleiche gilt für den Versuch, unseren unzeitgemäßen Status quo mit einem Flicken zu versehen und weiterzumachen. Ein halbes Jahrhundert nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und dem Entstehen eines Fiat-Geldsystems, 20 Jahre nach dem Start des Euro, ist es an der Zeit, unserem Finanz- und Währungssystem einen neuen verfassungsmäßigen Zweck zu geben. Damit würde Europa nicht nur seine eigenen inneren Dämonen zur Ruhe bringen. Es würde ein Vorbild für den Rest der Welt abgeben.

Zuerst auf Englisch erschienen auf foreignpolicy.com. Übersetzung: Jörg Haas und Fiona Hauke.