Wirtschaftliche Sorge, politischer Aufbruch: Washingtons schwarze Mittelschicht

Hintergrund

Eine Bewohnerin vergleicht die Black-Lives-Matter Proteste mit ihren Erinnerungen an 1968. Ein aus Texas Zugezogener war früher in Houston mit George Floyd bekannt. Sabine Muscat berichtet über Gespräche mit ihren Nachbar*innen in Woodridge im Nordosten von Washington, DC. Die Bewohner des bürgerlichen schwarzen Viertels sehen den jüngsten wirtschaftlichen Aufschwung durch die Pandemie bedroht, hoffen aber gleichzeitig auf echte politische Reformen.

Bildunterschrift: Neben der Kaffeerösterei stehen noch Läden leer: Die Geschäfte an der Rhode Island Avenue North East kämpfen ums Überleben
Teaser Bild Untertitel
Bildunterschrift: Neben der Kaffeerösterei stehen noch Läden leer: Die Geschäfte an der Rhode Island Avenue North East kämpfen ums Überleben

Am Montag nach dem Ausbruch der Proteste war Kyle Todd schon früh auf den Beinen. Während Polizeihubschrauber über der Innenstadt von Washington, DC kreisten, stand der Geschäftsführer des Rhode Island Avenue Main Street Program auf der Laderampe von DC Brau, einer lokalen Brauerei im Nordosten der Stadt, und verteilte Kisten mit Atemschutzmasken und Desinfektionsmitteln an Ladenbesitzer. Die gemeinnützige Organisation unterstützt kleine Geschäfte, die sich Jahrzehnte nach den Rassenunruhen von 1968 wieder in der Gegend angesiedelt haben. Seit Ausbruch der Epidemie hat sie $180,000 für Mietzuschüsse ausgegeben und Laden- und Restaurantbesitzer*innen geholfen, Anträge für staatliche Hilfen zu stellen. „Viele Unternehmen hier kämpfen ums Überleben“, sagt Todd.

Der 1. Juni war der Tag, an dem in DC die ersten Coronavirus-Restriktionen aufgehoben wurden. Eigentlich sollte die Stadt an diesem Tag nach fast drei Monaten im „Lockdown“ zum ersten Mal aufatmen. Stattdessen verhängte die Bürgermeisterin nach gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstrant*innen am Abend eine Ausgangssperre.

Für die afro-amerikanische Mittelschicht im Nordosten von DC weckte der 1. Juni 2020 Erinnerungen an 1968. „Wir fühlten uns damals, als habe jemand die Luft aus einem Ballon gelassen“, erzählt Gwendolyn Faulkner. Sie war 14 Jahre alt, als sie von ihrem Elternhaus nahe der Benning Road den Rauch von brennenden Geschäften an der H Street North East aufsteigen sah, damals – und heute wieder – eine beliebte Ausgehmeile. „Die Ermordung von Martin Luther King war der Strohhalm, der dem Kamel den Rücken brach.“ Die Redewendung entspricht dem deutschen Tropfen, der den Eimer überlaufen lässt.

Ein bürgerliches Viertel – aber alle haben Rassismus erlebt

Der Strohhalm war diesmal die grausame Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in Minneapolis. Wieder wurden in Washington, wie in anderen Städten im ganzen Land, Geschäfte und Restaurants beschädigt und geplündert. Wieder blieben afro-amerikanische Mittelschicht-Viertel am nordöstlichen Stadtrand von DC von Ausschreitungen verschont. Aber 1968 war für die Gegend nicht folgenlos. Die Läden und Nachtklubs, die bis dahin die Rhode Island Avenue gesäumt hatten, schlossen oder zogen fort. Außer einem Dollar-Store, einer Drogerie, ein paar Garküchen und Durchgangsverkehr nach Maryland hatte die Rhode Island Avenue North East bis vor kurzem wenig zu bieten.

Als Gwendolyn Faulkner 1978 frisch verheiratet in den Stadtteil Woodridge am oberen Ende der Rhode Island Avenue zog, gab es dort nur noch wenige weiße Nachbar*innen. Der Exodus der Weißen aus den amerikanischen Innenstädten hatte schon vor 1968 begonnen und sich in den Jahren danach beschleunigt. Viele der älteren schwarzen Bewohner*innen des Viertels haben ihre Häuser von den Eltern und Großeltern geerbt, die bei damals bereits desegregierten Regierungsbehörden arbeiteten und sich eigene Häuser leisten konnten. Abseits der Avenue herrscht in Woodridge Vorort-Atmosphäre. Die Bewohner*innen fahren mit dem Auto zur Arbeit oder zum Supermarkt und mähen samstags den Rasen in ihren Vorgärten. Es ist ein bürgerliches, unauffälliges Leben. Aber alle haben sie die Diskriminierung erlebt, die in diesen Tagen im ganzen Land diskutiert wird. Und alle schärfen ihren heranwachsenden Söhnen ein, Begegnungen mit der Polizei zu vermeiden.

Die Gentrifizierungswelle hat den Stadtteil erst in den letzten zehn Jahren erreicht. Junge Familien und Paare mit besserem Einkommen, schwarz wie weiß, kauften freiwerdende Häuser und trieben Immobilienpreise wie Grundsteuern nach oben. Die Tatsache, dass es an der Avenue heute eine Kaffeerösterei und ein Sushi-Restaurant gibt, führt Faulkner auf die Ansprüche der von ihr so genannten „5-Minuten-Generation“ zurück, die alle Bedürfnisse in fünf Minuten Entfernung befriedigen wolle.

„Das hätte in jeder amerikanischen Stadt passieren können“

Aber auch diese Generation ist mit der Erfahrung von Rassismus aufgewachsen. Einer dieser jüngeren Nachbarn, der sich gerne mal schnell einen Espresso holt, ist schwarz und vor sechs Jahren aus Texas nach DC gezogen. Als George Floyd ermordet wurde, bekam er einen Anruf von seinem ehemaligen Friseur in Houston. Ob er sich an Floyd erinnere, wollte der Friseur wissen. Afro-amerikanische „Barber Shops“ sind gesellige Treffpunkte und Floyd gehörte zu einer Gruppe von Männern, die sich eine Zeitlang jeden Samstag zur selben Zeit im selben Salon trafen und beim Haareschneiden über Sport, Gott und die Welt redeten. „Er war ein netter Typ, eine Art sanfter Riese“, erinnert sich der Nachbar, der seinen Namen nicht nennen möchte „Wenn er geahnt hätte, was ihm zustoßen würde, wäre er sicher nicht nach Minneapolis gezogen.“ Hätte so etwas denn in Houston nicht passieren können? „Oh doch, das hätte in jeder amerikanischen Stadt passieren können.“

Die Bewohner*innen von Woodridge sind keine Revoluzzer*innen. In anderen Stadtteilen und Vororten verabredeten sich Nachbar*innen zu spontanen Protestaktionen wie Topf- und Pfannenschlagen auf der Straße. In Woodridge saß die Lehrerin Mignon Smith in der ersten Juni-Woche an den Abenden nach Anbruch der Ausgangssperre auf der Veranda vor ihrem Haus und las in einem abgegriffenen Gedichtband des berühmten afro-amerikanischen Dichters Langston Hughes.

Langston Hughes Gedicht I, too wurde zum Leitbild der Bürgerrechtsbewegung

I, Too

BY LANGSTON HUGHES (1902-1967)

I, too, sing America.

I am the darker brother.

They send me to eat in the kitchen

When company comes,

But I laugh,

 And eat well,

And grow strong.

Tomorrow,

I’ll be at the table

When company comes.

Nobody’ll dare

Say to me,

“Eat in the kitchen,”

Then.

Besides,

They’ll see how beautiful I am

And be ashamed—

I, too, am America.

 

Sie verstehe die „große Wut“ der Demonstrant*innen, sagt sie, auch wenn sie selbst nicht auf die Straße gehe. „Wenn ich ein paar Jahre jünger wäre, hätte ich vielleicht auch demonstriert. Aber heute glaube ich, dass es andere Wege gibt, um etwas zu ändern.“ Sie spendet für schwarze Bürgerrechtsorganisationen, und an der privaten – und großenteils weißen – Mittelschule, an der sie unterrichtet, versorgt sie Lehrer und Eltern mit Infomaterial zum Thema Rassismus.

Bürger hoffen auf Wandel in DC

Die wirtschaftliche Zukunft der Rhode Island Avenue mag ungewiss sein. „Es gibt bei keinem der Geschäfte hier eine Garantie dafür, dass es die Corona-Zeit übersteht,“ sagt Todd vom RIA Main Street Program. Aber die Bewohner*innen hoffen, dass zumindest die politische Zukunft ihrer Stadt und ihres Landes nach dieser tiefen Krise heller aussehen könnte. „Die Proteste sind anders als 1968, sie sind viel breiter und gemischter“, sagt Smith, deren Mutter in Georgia als Schülerin noch die Rassentrennung erlebt hat. Gwen Faulkner glaubt, dass die Pandemie den politischen Wandel beschleunigt haben könnte: „Wegen des Lockdowns waren viele Leute zu Hause und hatten mehr Zeit, sich zu informieren und nachzudenken. Ohne die Pandemie wären die Proteste niemals so groß und anhaltend gewesen.“

Eine zentrale politische Forderung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, der Ruf nach Polizeireform, sei erstmals in greifbare Nähe gerückt, sagt Faulkner. Und der Kampf zwischen Washingtons Bürgermeisterin Muriel Bowser gegen den Präsidenten Donald Trump, der das Militär in die Stadt schicken wollte, hat das ganze Land daran erinnert, dass der District of Columbia (DC) direkt der Bundesregierung untersteht. Washington, DC hat keine Hoheit über seinen Haushalt und keine stimmberechtigten Abgeordneten im Kongress. Die Forderung, dass DC ein Bundesstaat wie alle anderen wird, hat durch die allgemeine Empörung über die versuchte Machtübernahme des Weißen Hauses mehr politisches Gewicht bekommen.

Das ließe sich aber nur vorantreiben, wenn die Demokraten die Wahlen im Herbst gewinnen. Denn die Republikaner im Kongress halten nicht viel von einem neuen Bundesstaat, der überwiegend die Demokraten wählen und das politische Gleichgewicht verschieben würde. „Meine größte Sorge ist nicht die Pandemie“, sagt Faulkner deshalb. „Meine größte Sorge ist, dass die Leute im November nicht wählen gehen.“