Israel und Palästina: Annexion im Schatten von SARS-CoV-2?

Hintergrund

Die weltweite Aufmerksamkeit ist auf die Bewältigung der COVID 19-Pandemie gerichtet. Doch im Schatten dieser Krise zeichnet sich die Annexion von Teilen des Westjordanlandes durch Israel ab. Der Koalitionsvertrag der "nationalen Notstandsregierung" angeführt von Benjamin Netanjahu und Benny Gantz ermöglicht ab dem 1. Juli eine Entscheidung von Kabinett und/oder Knesset über derartige Schritte. Die anstehenden Wahlen in den USA im November dieses Jahres könnten das Momentum weiter verstärken. Während die Frage der Annexion in Israel vor allem aus machtpolitischer Perspektive diskutiert wird, stellt sie für die palästinensische Bevölkerung die Konsequenz der langjährigen Besatzung dar. Wie wahrscheinlich ist eine Annexion und welche Folgen hätte sie?

Blick auf Silwan - ein arabischer Stadtteil in Ostjerusalem

Israelische Notstandsregierung: Koalition mit Ausnahmen

Benjamin Netanjahu hat den COVID19-Notstand geschickt genutzt, um das politische Patt nach drei Wahlen ohne klaren Sieger für sich zu entscheiden. Oppositionsführer Benny Gantz wollte sich dem Ruf nach einer nationalen Notstandsregierung nicht länger widersetzen und erklärte sich zu Verhandlungen mit Netanjahu bereit – trotz eines präzedenzlosen Angriffes auf die Institutionen der israelischen Demokratie.[1] Nach zähen Gesprächen präsentierten Netanjahu und Gantz Ende April eine Einigung, die eine gemeinsame Regierung über drei Jahre vorsieht, sowie eine Rotation im Amt des Ministerpräsidenten zur Halbzeit. Das erste halbe Jahr soll allein der Bewältigung der Coronakrise dienen, zudem verfügen Gantz und Netanjahu über Veto-Möglichkeiten in allen Politikbereichen, um so missliebige Initiativen ausbremsen zu können.

Eine bemerkenswerte Ausnahme von diesem Grundsatz ist jedoch festgehalten: Bereits ab dem 1. Juli kann Ministerpräsident Netanjahu dem Kabinett und/oder dem Parlament das Vorhaben der Annexion von besetzten Gebieten zum Beschluss vorlegen. Zwar wird diese Annexionsklausel hinter schönen Floskeln verborgen, in denen das Bekenntnis zu bestehenden Friedensverträgen, der Koordination mit internationalen Partnern und die Bereitschaft zu Frieden festgehalten werden. Die Entscheidung über die Annexion liegt jedoch letztlich bei Netanjahu – denn Gantz hat trotz Bedenken auf ein Veto in dieser Frage verzichtet. Sollte es innerhalb der Regierung keine Einigung geben, so kann der Likud das von Netanjahu propagierte Gesetz zur Annexion in der Knesset einbringen. Eine Mehrheit für das Vorhaben, das von Teilen der Opposition unterstützt wird, erscheint dann auch ohne die Stimmen der gesamten Blau-Weiß Fraktion sehr wahrscheinlich.

Von de facto zu de jure - Annexion

Der Koalitionsvertrag eröffnet somit die Möglichkeit noch in diesem Sommer mit der Annexion von Teilen des Westjordanlandes zu beginnen. Ob Netanjahu diesen Schritt tatsächlich gehen wird, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Seit 2009 an der Macht ist Benjamin Netanjahu inzwischen der am längsten regierende Ministerpräsident Israels. Ideologisch hat sich seine Position in dieser Zeit wenig verändert. Netanjahu beharrt auf dem israelischen Anspruch auf die besetzten Gebiete, er misstraut den Palästinensern und lehnt einen palästinensischen Staat grundlegend ab. Gleichzeitig hat sich Netanjahu in seinen bisherigen Amtszeiten als ein Politiker gezeigt, der die großen politischen Risiken scheut und lieber inkrementell im Rahmen des Status-quo vorgeht. Unter Netanjahu hat sich so eine "schleichende Annexion" durch den Siedlungsbau vertieft, also eine de facto Annexion ohne öffentlichen Beschluss. Das israelische Militär kontrolliert die besetzten Gebiete und die Grenze zu Jordanien, die Siedlerinnen und Siedler unterstehen israelischem Recht (wenn auch basierend auf einem Militärbeschluss), die Grüne Linie ist aus dem Bewusstsein der israelischen Bevölkerung so gut wie verschwunden und die internationale Staatengemeinschaft ist angesichts des Stillstandes und Widerstandes von Netanjahu der Verhandlungen müde.

Kritikerinnen und Kritiker vor allem aus dem Sicherheitsestablishment, wie die Commanders for Israel's Security – eine Gruppe von 220 hochrangigen, ehemaligen Angehörigen des Militärs und der Sicherheitsdienste, stellen die sicherheitspolitische Ratio der Annexion in Frage: Die Annexion von Gebieten, die bereits vollständig unter israelischer Sicherheitskontrolle stehen, ergebe keinen Sinn. Diese Argumentation hat sich auch Benny Gantz zu eigen gemacht: Er betont zwar durchaus die Bedeutung des Jordantales für Israels Sicherheit und möchte keineswegs alle Siedlungen räumen, warnt jedoch vor den negativen Konsequenzen einer unilateralen Annexion. So könne Jordanien das Friedensabkommen mit Israel aufkündigen, die Palästinensische Autonomiebehörde die Sicherheitskoordination mit den israelischen Sicherheitskräften einstellen oder sich gar auflösen, wodurch Israel gezwungen wäre, die Kontrolle über die gesamte palästinensische Bevölkerung zu übernehmen.

Der Trump-Plan als historische Gelegenheit

Was also spricht für die Umsetzung der Annexion? Benjamin Netanjahu hat den vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump am 28. Januar 2020 vorgestellten Nahost-Plan wiederholt als einmalige Gelegenheit bezeichnet, die Israel nicht verpassen dürfe. Der amerikanische Plan reflektiert in vielerlei Hinsicht die Position Netanjahus: So werden die historischen Ansprüche auf das Westjordanland ebenso wie die israelischen Sicherheitsbedürfnisse anerkannt, woraus der Anspruch auf die Annexion von zunächst 30 Prozent der besetzten Gebiete inklusive aller Siedlungen und des Jordantales abgeleitet wird. Entscheidend für Netanjahu ist dabei, dass der Trump-Plan neue Parameter setzt und mit völkerrechtlichen Prinzipien bricht, die bis dato auch aus Sicht der USA für eine zu verhandelnde Konfliktregelung galten. So wird Israel ein legitimer Anspruch auf die "in einem defensiven Krieg eroberten Gebiete" zugesprochen, wie es im Blick auf den Krieg von 1967 im Nahost-Plan Trumps heißt.[2] Entsprechend erklärte der amerikanische Außenminister Pompeo, dass die USA die Siedlungen nicht länger als illegal betrachten – im Widerspruch zur Sicherheitsratsresolution 2334 und auch zur Haltung der EU.[3] Zudem spricht der Trump-Plan zwar von der Errichtung eines palästinensischen Staates, die Bedingungen dafür sind jedoch so formuliert, dass sie kaum zu erfüllen sind, zumal Israel die letzte Entscheidung hierüber zugesprochen wird. Der palästinensischen Präsident Abbas lehnte den Plan von Trump daher auch rundheraus ab, worauf Jared Kushner missbilligend warnte, die Palästinenser seien dabei, ihre letzte Chance auf einen eigenen Staat zu verspielen. Auf eine solche Haltung der USA setzt Netanjahu, würde diese ihm schließlich erlauben, die erwartete Ablehnung der Palästinenser als Ende palästinensischer Ansprüche auf einen eigenen Staat zu deklarieren. Damit hätte Netanyahu ein langersehntes Ziel erreicht und sich ein angemessenes historisches Erbe gesichert.

Die Zeit drängt

Hinzu kommt, dass Netanjahu sich selbst in Zugzwang gebracht hat. Annexion war lange Zeit eine Forderung allein der radikalen Rechten. Netanjahus Erfolg hat sie jedoch auch im Mainstream popularisiert und zu einer erreichbaren Option gemacht. Hinter seine Rhetorik der „einmaligen Gelegenheit“ kann er kaum zurück. Zudem drängt die Zeit: Da eine Wiederwahl Trumps im November keineswegs sicher ist, muss ein entsprechendes Gesetz möglichst bald eingebracht werden. Die Risiken eines solchen Schrittes könnten aus Sicht Netanjahus beherrschbar sein, nicht zuletzt auch durch COVID19: Jordanien ist wirtschaftlich und politisch geschwächt und auf die Kooperation mit Israel etwa im Energiesektor angewiesen, die EU wird nicht zuletzt durch seine Uneinigkeit als ein Papiertiger wahrgenommen und die weltweite Aufmerksamkeit liegt nicht auf dem israelisch-palästinensischen Konflikt.

Die Entscheidung über die Annexion liegt somit bei Netanjahu und Trump. Dessen Sondergesandter Jared Kushner hatte die Hoffnungen Netanjahus auf eine Annexion noch vor den Wahlen am 2. März zunichte gemacht. Die Annexion müsse durch ein gemeinsames Komitee koordiniert werden und Teil des amerikanischen Gesamtplans sein, Israel solle nicht vorpreschen. Inzwischen hat der Kampf um die Positionierung der USA bereits begonnen. Benjamin Netanjahu drückte im Gespräch mit evangelikalen Gruppen, einer wichtigen Wählergruppe von Trump, bereits seine Zuversicht aus, dass Donald Trump sein Versprechen halten und die israelische Souveränität über Teile des Westjordanlandes anerkennen werde. Allerdings versuchen auch warnende Stimmen Gehör in der Trump Administration zu finden, sowohl aus Israel wie auch aus arabischen Ländern. Letztlich wird es auf die Dynamik des amerikanischen Wahlkampfes ankommen - Trump wird Kosten und Nutzen einer solchen Entscheidung im Blick auf seinen Wahlsieg abwägen.

Politische Folgen

Was eine Annexion bedeutet und wieviel Unterstützung sie bekommt, hängt auch davon ab, welches und wieviel Territorium annektiert wird. Beschränkt sich die Regierung in einem ersten Schritt etwa auf große Siedlungsblöcke, könnte sie eine breite Unterstützung einschließlich von Blau-Weiß und der Arbeitspartei gewinnen, die Siedlerinnen und Siedler hingegen drängen auf eine möglichst extensive Ausdehnung israelischer Souveränität. Doch die politischen Folgen der Annexion sind in jedem Fall gravierend, denn der Status quo wird erschüttert und damit die Fiktion einer nur temporären Besatzung und der Trennung zwischen Israel und den besetzten Gebieten. Stattdessen treten die Prozesse der de facto Annexion offen zutage und zwingen die israelische Gesellschaft, über künftige Grenzen und die Konstitution des Staates zu diskutieren. So haben 56 ehemalige israelische Parlamentarierinnen und Parlamentarier vor den Folgen der Annexion gewarnt: „Annexion würde die Aussicht auf Frieden ein für alle Mal begraben und einen Apartheidsstaat etablieren. Demokratie, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gibt es jedoch nur bei einem gerechten Frieden und einem Ende der Besatzung."

Schwerwiegende Einschränkungen in Palästina

Als Anfang März die palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus beschloss, war das für die Palästinenser mit schwerwiegenden Einschränkungen verbunden, die ihrer ohnehin durch die Besatzung beschnittenen Bewegungsfreiheit weiter einschränkte. Der Ausbruch der Pandemie ist für die Menschen im besetzten Westjordanland darüber hinaus mit zusätzlichen Ängsten befrachtet, denn im Schatten der Corona-Krise intensiviert Israel seine Besatzungs- und Siedlungspolitik ungehindert. In den Dörfern um Jerusalem wurde in den letzten Monaten, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, Land für den Bau und den Ausbau von Siedlungen und Straßen konfisziert.[4Während Beobachter der Menschenrechtsorganisationen unter Lockdown waren, griffen Siedler palästinensische Dörfer an, hackten Olivenbäume ab und verwüsteten Felder. Die Armee riss im nördlichen Westjordanland eine Zelt-Klinik für die lokale Beduinenbevölkerung ab[5]  und setzte die Zerstörung von angeblich illegal erbauten Gebäuden fort, obwohl sie zugesagt hatte, diese Praxis für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Sogar Installationen für die Wasserversorgung wurden beschädigt oder zerstört[6]. Auch in Jerusalem wurden in palästinensischen Stadtvierteln Pläne vorangetrieben, die Einwohner zu verdrängen und ihre Geschichte auszuradieren [7] , wie die israelische Menschenrechtsorganisation Emek Shaveh berichtet.

Vorboten der Annexion

Für die Palästinenser sind diese Geschehnisse Vorboten der bevorstehenden Annexion von Teilen des Westjordanlandes. Denn dass dieser Schritt kommen wird, steht für sie außer Zweifel, nachdem sich Netanjahu und Gantz in ihrer Koalitionsvereinbarung darauf geeinigt haben, obwohl in Israel etwa die Hälfte der Bevölkerung die Annexionspläne ablehnt[8]. Im April gab der amerikanische Außenminister Mike Pompeo aber noch einmal grünes Licht für das Vorhaben. Zuvor hatte Präsident Donald Trump in seinem sogenannten „Friedensplan“ Israel das Recht zugestanden, sich Teile der besetzten Gebiete anzueignen.

„Wenn der Corona-Lockdown beendet ist, werden wir aus unseren Häusern herauskommen und feststellen, dass wir kein Land mehr haben“ – so beschrieben viele Palästinenser in den ersten Märztagen ihre Ängste.

Noch ist nicht klar, welche Teile des Westjordanlandes genau annektiert werden sollen, aber über die verheerenden Auswirkungen auf die Rechte der Palästinenser und die Zukunft eines palästinensischen Staates an der Seite Israels gibt es keinen Zweifel. Menschenrechts-Experten und diplomatische Beobachter gehen davon aus, dass die Annexion die Enteignung von weiterem palästinensischem Land zur Folge haben wird, mithin die Ausdehnung der Siedlungen und die Vertreibung der lokalen palästinensischen Bevölkerung.[9]

Vor allem im fruchtbaren Jordantal, das 30 Prozent der besetzten West Bank umfasst und die Kornkammer Palästinas darstellt, ist dieser Trend schon seit Jahren zu beobachten. Heute leben nur noch 65.000 Palästinenser in dieser Region (vor dem Sechstagekrieg 1967 waren es 250.000), die meisten von ihnen auf nur fünf Prozent des Landes mit beschränktem Zugang zu Wasser und Ressourcen. Die 12.000 Siedler im Jordantal dagegen bewirtschaften große Flächen, die sie vom Staat erhalten haben. Sie können sich frei bewegen, haben unbeschränkten Zugang zur Wasser- und

Stromversorgung und ihre Siedlungen wachsen beständig. Sollte Israel das Jordantal und weitere Teile der besetzten Gebiete annektieren, scheint das Schicksal der Palästinenser dort besiegelt. Sie werden das wenige Land verlieren, dass sie dort noch besitzen und, wenn sie nicht vertrieben werden, als rechtlose und höchstens geduldete Untertanen im dann vergrößerten israelischen Staat leben.

Beispiel Jerusalem

Die Stadt Jerusalem kann als Beispiel dafür dienen, was die Annexion für die rund drei Millionen Palästinenser im Westjordanland bedeuten wird. Im Sechstagekrieg wurde der Ostteil der Stadt von israelischen Truppen erobert und in Besitz genommen. Schon am letzten Tag des kurzen Krieges begannen die Truppen mit Vorbereitungen, das Mughrabi-Viertel, eine fast 800 Jahre alte Nachbarschaft im Herzen der Altstadt niederzureißen. Drei Tage später waren 135 Häuser dem Erdboden gleichgemacht und ihre Bewohner vertrieben. An der Stelle des alten Viertels entstand später der weitläufige Platz vor der Klagemauer. Doch nicht nur die Bewohner der Altstadt, auch die Palästinenser in den umliegenden Dörfern bekamen die harte Hand der Besatzung unmittelbar nach dem Krieg zu spüren, als die israelische Regierung die Stadtgrenzen neu definierte und von 6,5 Quadratkilometer auf 71 Quadratkilometer ausdehnte. Die umliegenden palästinensischen Dörfer wurden damit der Stadtverwaltung von Jerusalem unterstellt, große Teile ihrer Ländereien enteignet und für den Bau jüdischer Nachbarschaften genutzt. Elf Siedlungen entstanden auf palästinensischem Land, in denen heute mehrheitlich jüdische Israelis leben. Im Jahr 1980 wurde „das vereinte Jerusalem ... in seiner Gesamtheit“ mit der Verabschiedung eines Basic Law[10] zur Hauptstadt Israels erklärt und damit auch formell annektiert, ein Schritt, der von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt wurde.

Palästinensische Einwohner Jerusalems ohne Staatsbürgerschaft

Die Annexion Ostjerusalems erstreckte sich jedoch nicht auf deren palästinensische Einwohner. Statt der israelischen Staatsbürgerschaft erhielten sie lediglich den Status geduldeter temporärer Einwohner, einen Status, den sie jederzeit verlieren können, weil er an strikte Auflagen gebunden ist. So wurden zwischen 1967 und 2016 nach Angaben von Human Rights Watch 14.595 Palästinensern ihr Status und ihre Rechte als Einwohner Jerusalems[11] entzogen. Auch nach Ausbruch der SARS-CoV-2-Krise wurde einem Palästinenser aus Jerusalem, der mit einem israelischen Reisedokument ausgestattet war, am Ben-Gurion-Flughafen die Wiedereinreise verweigert mit der Begründung, dass er kein israelischer Staatsbürger sei.

In der Tat sind die meisten palästinensischen Einwohner Jerusalems staatenlos. Sie dürfen sich zwar an den Kommunalwahlen beteiligen, doch von den Parlamentswahlen in Israel sind sie ausgeschlossen. Sie haben also keinen Einfluss auf die Gremien der Knesset und der Regierung, in denen die Jerusalem betreffenden Entscheidungen fallen. Doch auch die palästinensische Autonomiebehörde ist für sie nicht zuständig. Ihre Repräsentanten dürfen in der Stadt nicht tätig werden, nicht einmal in den Stadtvierteln, die von Israel im Jahr 2003 hinter die damals errichtete Mauer verbannt wurden. Dort leben rund 140.000 Palästinenser, weitgehend abgeschnitten von ihrem Lebensmittelpunkt Jerusalem und ohne jeden Zugang zu städtischen oder staatlichen Dienstleistungen. Gerade in der Corona-Krise hat sich das deutlich bemerkbar gemacht, denn es gab in diesen Vierteln bis Mitte April weder Testzentren noch Kliniken oder Quarantäne-Einrichtungen[12], während die Dunkelziffer der Infizierten anstieg.

Das Ende der Zweistaatenlösung

Das Schicksal dieser vernachlässigten, verarmten und völlig überbevölkerten Viertel haben die Palästinenser vor Augen, wenn die israelische Regierung ankündigt, „ihre Souveränität“ auf Teile der besetzten Gebiete ausdehnen zu wollen. Annexion, das bedeutet für die Palästinenser im Westjordanland den vollständigen Verlust ihres Landes, ihrer Rechte und ihrer Zukunft in freier Selbstbestimmung.

Die Annexion bedeutet damit auch das Ende der Zweistaatenlösung - der Lösung, zu der sich die Palästinenser mit der Anerkennung Israels in den Grenzen von 1967 durch die PLO im Jahr 1988 und mit dem Beginn des Oslo-Friedensprozesses im Jahr 1993 bekannt haben. Es ist die Lösung, die auch die internationale Staatengemeinschaft, einschließlich Deutschland und der EU, anstrebt und unterstützt.

Düstere Aussichten

Die Annexion von Teilen des Westjordanlandes widerspricht den erklärten Zielen, Interessen und Werten deutscher und europäischer Außenpolitik. Nicht nur wird das erklärte Ziel der Zwei-Staaten-Regelung unterminiert und die europäische Politik der Differenzierung herausgefordert, eine unilaterale Annexion widerspricht auch internationalem Recht und wäre eine (weitere) Bedrohung für die Regel-basierte internationale Ordnung und damit einen grundlegenden Pfeiler deutscher und europäischer Außenpolitik. Zudem würde ein gefährlicher Präzedenzfall auch für andere territoriale Konflikte geschaffen. Es sollte daher Ziel deutscher und europäischer Politik sein, einen solchen Schritt zu verhindern. Der Hohe Repräsentant der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell hat sich ebenso wie viele Mitgliedsstaaten bereits kritisch geäußert. Damit allein wird es jedoch nicht getan sein, zumal die EU es etwa in der Reaktion auf den Nahostplan von Donald Trump nicht geschafft hat, mit einer Stimme zu sprechen.

Steffen Hagemann leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, Bettina Marx das Büro der Stiftung in Ramallah.


[1] Vgl. https://www.boell.de/de/2020/04/01/coronakrise-israel-rettung-fuer-neta…