Echte Hilfe statt Solidarität auf Pump

Kommentar

Die Krise um das Corona-Virus drängt die Länder der EU dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um die Zeit zu überstehen und am Ende möglichst finanziell gesichert hervorzutreten. Doch welche Folgen würden die sogenannten Eurobonds mit sich tragen? Diplom-Volkswirt Rainer Emschermann äußert seine Bedenken.

Foto des Euro-Schildes

Zeiten der Krise sind Zeiten der Veränderung. Die krisenbedingten Mehrheiten stehen für die Abschaffung der einmal getroffenen Maßnahmen in ruhigeren Zeiten nicht mehr zur Verfügung. Was einmal unter dem Druck der Dringlichkeit beschlossen wurde, wird durch die normative Kraft des Faktischen bald zur Dauerlösung. Die nach den beiden Weltkriegen und der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre in Europa auf knapp 50 Prozent gestiegene Quote des Staates an der Wirtschaftsleistung bezeugt dies. Und auch in der Corona-Krise rückt der Staat im Gleichschritt mit den an ihn gerichteten Erwartungen weiter vor: von Ausgangsbeschränkungen für Bürger über neue Überwachungs-Apps zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus bis zu einem Ermächtigungsgesetz in Ungarn: Die Gewöhnung der Bürger an solche „dual use“-Maßnahmen – einige davon sinnvoll, andere nicht – , steigert die Gefahr ihres späteren Missbrauchs für strukturelle Freiheitsbeschränkungen.

In Zeiten der Krise besinnt sich der Mensch auch auf seine Grundempfindungen. Das wirkt im politischen Diskurs so, als wolle jeder die Gunst der Krise für die Durchsetzung der eigenen lang gehegten Überzeugungen oder Interessen ausnutzen. So wird auch die Frage europäischer Solidarität mit den vom Virus am meisten betroffenen Ländern mit den alten Reflexen bedient: die einen wollen endlich Eurobonds, die anderen den ESM und die Dritten sind mit sich selbst beschäftigt. Wir sollten uns aber die Zeit nehmen, zunächst den genauen Bedarf für solche solidarischen Hilfen zu ermitteln und erst dann die dafür geeigneten Maßnahmen zu formulieren. Nehmen wir das Beispiel Italien.

Die öffentlichen Haushalte kommen gegenwärtig von zwei Seiten unter Druck. Auf der einen Seite gilt es, kurzfristig die Gesundheitssysteme mit den notwendigen Mitteln auszustatten. Zudem muss die Wirtschaft mit gezielten Maßnahmen unterstützt werden. Beides kann 10 bis 20 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung kosten. Auf der anderen Seite brechen den Staaten auch die Steuereinnahmen weg. Schätzungen sind mir nicht bekannt; anzunehmen, dass es sich um rund 10 Prozent des BSP handeln könnte, ist aber sicher nicht abwegig. Beides führt zu einem Finanzierungsbedarf, der über staatliche Neuverschuldung finanziert werden soll. Bei einer fiskalischen „Vorerkrankung“ von über 130 Prozent des BSP wird nun befürchtet, Italien könne den Zugang zu den Finanzmärkten verlieren. Zwar kauft die EZB mit ihrem neuen „PEPP“ Programm rund tausend Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Anleihen vorwiegend in den südeuropäischen Ländern auf, was die Zinsen gegenwärtig noch niedrig hält. Allerdings ist klar, dass die Zentralbank damit letztlich öffentliche Schulden monetär finanziert. Diese Situation widerspricht diametral dem Geist der Währungsunion. Selbst Befürworter dieser Politik räumen ein, dass es dringend anderer demokratisch legitimierter Maßnahmen bedarf, um das Handeln der EZB überflüssig zu machen. Soweit der Konsens.

Diskutiert wird dieser Tage über Eurobonds oder Anleihen des Krisenrettungsmechanismus ESM. Wohlgemerkt, diese Maßnahmen sollen in der Vorstellung einiger zu dem PEPP Programm der EZB hinzutreten. Sollten solche Maßnahmen umgesetzt werden, wäre klar, dass die Eurozone ohne vertragliche Basis in eine dauerhafte, strukturelle Haftungsgemeinschaft eintreten würde, ohne dass eine ordentliche öffentliche Diskussion stattgefunden hätte. Es lohnt sich also, gründlich über die Folgen und mögliche Alternativen nachzudenken.

Stellen wir uns einmal vor, ein guter Freund benötigt Geld für dringende Operation in einer Spezialklinik, die die Krankenkasse nur zur Hälfte finanziert. Bei seiner Bank und seinen Freunden ist er aber seit Jahren bereits so verschuldet, dass diese ihm kein Geld leihen wollen, bzw. erstere nur zu deutlich höheren Zinsen. Auch bei mir steht er bereits mit einem Betrag in der Kreide, die zwei Monatsgehältern entspricht. Nun schlägt er mir vor, einen gemeinsamen Kredit bei der Bank in Höhe eines weiteren Viertels unseres gemeinsamen Jahreseinkommens aufzunehmen, da auch ich knapp bei Kasse sei und neue Kredite benötige. Die Bank klärt uns auf, dass für den Fall, dass einer von uns mit der Rückzahlung seines Anteils in Verzug kommt, die Zahlung durch den anderen zu erfolgen hat. Durch die gesamtschuldnerische Haftung wird der von der Bank geforderte Zinssatz zwar etwas teurer für mich, aber deutlich billiger für meinen Freund. Dieser erklärt mir, diese „Krankheitsbonds“ seien für ihn unverzichtbar und würden ja schließlich uns beiden zu frischem Geld verhelfen. Der Gedanke daran, dass eine Zahlungsunfähigkeit meines Freundes auch mich in den Ruin treiben könnte, lässt mich bei der Unterschrift noch zögern. Ich fühle mich dabei herzlos, ein Gefühl, das die Blicke des darüber entgeisterten Freundes noch bestärken.

Das Beispiel beschreibt exakt die gegenwärtige Diskussion über Eurobonds. Natürlich sollten wir nicht unterschreiben, denn unser Freund Italien verbittet sich jede Einmischung darüber, wie er die alten und neuen Schulden zurückzuzahlen gedenkt. Nun wird argumentiert, „Corona-Bonds“ würden auf die Bekämpfung der Pandemie beschränkt und zudem werde keine Haftung für Altschulden übernommen. Beides ist abwegig, denn erstens ist es nicht die direkte Bekämpfung der Lungenkrankheit, die die öffentlichen Haushalte belastet, sondern die daraus resultierende Wirtschaftskrise; und zweitens gibt es im Falle eines Zahlungsausfalls keinen Unterschied zwischen Alt- und Neuschulden – alle Schulden werden dann gleichzeitig fällig. Weil man jetzt mit in der Haftung stünde, wäre ein Zahlungsausfall politisch auch in Deutschland nicht gewollt sein; auch die Bundesregierung wird nun einer immer weiteren Monetarisierung der Schulden zustimmen – kein Problem für Aktienbesitzer, aber ein Vermögensfresser für den kleinen Mann. Wir sollten eine andere Hilfsmöglichkeit finden.

Die Eurozone könnte Italien alternativ ein Darlehen anbieten, finanziert über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Der Vorteil wäre hier, dass es eine größere öffentliche Risikotransparenz böte als das PEPP oder Eurobonds. Allerdings kommt der ESM normalerweise mit Auflagen, um die Rückzahlung des Darlehens abzusichern, was die italienische Regierung bekanntlich strikt ablehnt. Ein Darlehen ohne Auflagen birgt aber dasselbe Risiko wie Eurobonds. Und ebenso wie Eurobonds wäre es eine Solidarität auf Pump.

Hier aber liegt der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Solidaritätsfrage: Wer Solidarität einfordert, muss sich auch nach dem eigenen Beitrag zu seiner Rettung fragen lassen. Ansonsten darf der Wille zur Rückzahlung der Darlehen durchaus in Frage gestellt werden. Der Grund dafür, dass Italien für neue Anleiheemissionen voraussichtlich deutlich höhere Zinsen zahlen müsste, liegt ja nicht etwa an Spekulanten, sondern daran, dass seine Glaubwürdigkeit als Schuldner bezweifelt wird. Beherzte Schritte zur Umsetzung überfälliger Reformen bei staatlichen Leistungen wie der Rente oder auch zu einer effektiveren Steuererhebung könnten die Bonität italienischer Anleihen sofort verbessern. Dass aber strategische Maßnahmen zur langfristigen Gesundung der Staatsfinanzen ausbleiben und stattdessen vor allem auf Hilfe von außen gesetzt wird, muss bei einem Land zu denken geben, dessen Nettovermögen pro Kopf laut Studien der EZB (2012) und der Credit Suisse (2012, 2018) höher liegt als in Deutschland.

Aber auch wenn der Zustand des politischen Systems in Italien einen besseren Zugriff des Staates auf die privaten Vermögen und damit eine langfristige Gesundung der Staatsfinanzen als unwahrscheinlich erscheinen lässt, können und müssen wir unseren europäischen Partnern doch in der Krise helfen. Die EU sollte nicht versuchen, Reformen zu oktroyieren, schon gar nicht in einer Krise.

Deutschland, das auch aufgrund der schwarzen Null einen gewissen fiskalischen Handlungsspielraum genießt – und diesen nun krisenbedingt auch weitgehend ausschöpft - sollte Italien jetzt finanziell unter die Arme greifen, und zwar nicht mit einem Darlehen, sondern mit einer nicht rückzahlbaren Hilfszahlung, die es unseren Partnern ermöglichen würde, spätere Zinslasten für die neuen Anleihen zu tragen. Dazu würde Italien eigene Kredite am Markt aufnehmen, die natürlich nur zu höheren Zinsen Absatz finden werden. Allerdings wird ja die Zinslast nicht unmittelbar, sondern erst über die Jahre der Laufzeit anfallen. Der Vorteil dieser Art von Solidarität ist, dass das Investitionsrisiko damit komplett an den Markt ausgelagert wäre. Die Hilfeleistungen könnten nie die Möglichkeiten und den politischen Willen des Gebers überschreiten. Zugleich blieben die Reformanreize für die begünstigten Länder erhalten. Das Volumen dieser Hilfen könnte z.B. eine Höhe von insgesamt 30 Milliarden Euro für alle notleidenden südeuropäischen Partner annehmen, möglicherweise ausgezahlt in zwei Jahrestranchen. Es wäre eine sehr sichtbare Hilfe, die auch demokratischer und ehrlicher als jedes Darlehen wäre, da sie nicht zukünftigen Generationen aufgebürdet würde.

Ich würde also bei der Bank meine Unterschrift nicht leisten. Ich würde meine Familie und eine Freundschaft nicht für Geld und die Spekulation auf die Bonität meines Freundes riskieren. Ich würde stattdessen mit ihm zum Bankschalter gehen, mir meinen Überziehungskredit auszahlen lassen und ihm das Geld zum Geschenk machen. Er würde ein Darlehen aufnehmen und den von mir erhaltenen Betrag auf ein Sperrkonto zur Zinszahlung übertragen. Damit stünde er sich letztlich finanziell genau so, als wenn wir einen gemeinsamen Kredit aufgenommen hätten. Und es gibt nichts, was unsere Freundschaft gefährden könnte.

Argumente für die Aufnahme von Eurobonds hat Franziska Brantner im Beitrag "Coronabonds" aufgeführt.