Kolumbien und SARS-CoV-2: Die Ruhe vor dem Sturm?  

Hintergrund

Auch in Kolumbien steht wegen der Corona-Pandemie das öffentliche Leben und die Wirtschaft still. Es besteht allerdings die Hoffnung, dass die frühen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sich mittel- und langfristig auszahlen werden.

Straße Bogota
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Hauptverkehrsstraße während der Quarantäne in der Hauptstadt Bogotá

Die Osterfeiertage stehen bevor, doch die Menschen bleiben zu Hause. Seit dem 25. März gilt in Kolumbien eine landesweite Quarantäne. Vor Ostern verlängerte die Regierung diese um zwei weitere Wochen bis zum 27. April. Nur in Ausnahmefällen – etwa zum Einkaufen, für dringende Arztbesuche und Bankgeschäfte – dürfen die Menschen ihre Wohnungen verlassen. Das wirtschaftliche Leben steht damit weiterhin still. Die Folgen für das Land sind bisher kaum abzusehen. Es besteht allerdings die Hoffnung, dass die frühen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sich mittel- und langfristig auszahlen werden.

Der Virus kam als blinder Passagier aus Spanien und Italien

Laut einer Ende März veröffentlichten Studie des Nationalen Gesundheitsinstituts Kolumbiens (Instituto Nacional de Salud, INS) gelangte das Coronavirus SARS-CoV-2 wohl am 26. Februar aus Spanien nach Kolumbien. Doch erst am 6. März wurde der erste Fall einer Infektion im Land medizinisch nachgewiesen und öffentlich bekannt. Eine junge Kolumbianerin hatte sich bei einer Reise in Italien angesteckt und nach ihrer Rückkehr über Symptome geklagt. Der Test ergab ein positives Ergebnis. Seit Bekanntwerden des ersten Falls vor vier Wochen hat das kolumbianische Gesundheitsministerium 1.780 Fälle bestätigt (darunter 50 Todesfälle und 100 genesene Personen). Im regionalen Vergleich steht Kolumbien damit noch relativ gut da. Die kolumbianischen Behörden reagierten im Gegensatz zu anderen Ländern wie Brasilien, Mexiko, Chile oder Ecuador schnell und entschieden:

  • am 13. März, eine Woche nach Bekanntwerden des ersten Falls, wurde für Einreisende aus China, Italien, Spanien und Frankreich eine 14-tägige präventive Quarantäne angeordnet.
  • am 16. März danach wurden Schulen, Kindergärten und Universitäten geschlossen.
  • am 17. März wurden die Landesgrenzen geschlossen.
  • am 20. März, zwei Wochen nach Bekanntwerden des ersten Falls, verhängten zahlreiche Städte, darunter die Hauptstadt Bogotá, Medellín und Cali, Ausgangssperren.
  • Präsident Duque zog nach und kündigte noch am gleichen Tag eine landesweite Quarantäne ab 25. März an – zunächst befristet bis zum 13. April, die er am 6. April um zwei Wochen bis 27. April verlängert hat.
  • mit Beginn der Quarantäne wurden alle nationalen Passagierflüge eingestellt; bereits zwei Tage zuvor wurden keine internationalen Passagierflüge mehr nach Kolumbien zugelassen. Der nationale Flugverkehr soll bis zum Ende der nationalen Quarantäne stillstehen, der internationale Flugverkehr bis Ende Mai.

Hat die landesweite Quarantäne (bisher) Schlimmeres verhindert?

Nach Schätzungen einer Studie der Universität Bern vom 18. März wäre die Zahl von Infektionen im Land bis Mitte April ohne Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Virus bei einem Ansteckungsfaktor von 2,5 pro Person auf 613.037 Fälle angestiegen (mit geschätzten 4.573 Todesfällen, 36.782 Fällen zur Behandlung auf Intensivstationen und 122.607 Fällen krankenhäuslicher Behandlung). Im Falle der frühzeitigen Erkennung von Verdachtsfällen, der Isolierung von infizierten Personen, der Anordnung von Quarantäne und sonstigen Maßnahmen sozialer Distanzierung – so die Studie weiter - könne die Zahl von Infektionen  auf 28.600 Fälle gesenkt werden (darunter 213 Todesfälle, 1.716 Fälle zur Behandlung auf Intensivstationen und 5.720 Fälle krankenhäuslicher Behandlung). Die Regierung befürchtete nach eigenen Berechnungen, dass die Zahl von Infektionen ohne einschränkende Maßnahmen auf bis zu 3,9 Millionen Fälle steigen könnte (13,8% bzw. 4,7% davon mit einem schweren bzw. lebensgefährlichen Krankheitsverlauf).  

Diese besorgniserregenden Prognosen sowie die täglichen Nachrichten über sprunghaft ansteigende Zahlen von Neuinfektionen in Europa veranlassten die Regierung ab Mitte März dazu, rasch zu handeln, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern - trotz der zu erwartenden erheblichen negativen Auswirkungen auf die kolumbianische Wirtschaft.

Zeit gewinnen, um das fragile Gesundheitssystem nicht zu überlasten

Mit der Ausrufung der Quarantäne soll wertvolle Zeit gewonnen werden. Die Infektionskurve soll weiterhin flachgehalten werden. Landesweit verfügten öffentliche und private Krankenhäuser zu Beginn der Pandemie nur über ca. 85.000 Betten (1,7 Betten pro 100.000 Einwohner*innen; im Vergleich: 29,2 in Deutschland), darunter etwa 5.346 Betten auf Intensivstationen (1.173 Betten davon in der Hauptstadt). In Bogotá werden nun das traditionsreiche Hotel Tequendama mit 413 Zimmern für bis zu 700 Personen und die Hallen des Messezentrums für bis zu 5.000 Personen in Krankenhäuser umgebaut, um die städtischen Krankenhäuser in den nächsten Wochen zu entlasten. Die Zahl der Betten auf Intensivstationen in Bogotá soll auf 4.000 Betten steigen, landesweit solle sie sich laut Regierung verdoppeln bzw. verdreifachen. Auch die Zahl der Tests möchte die Regierung in diesen Wochen erhöhen. Seit dem ersten Fall wurden bisher nur etwa 25.667 Proben ausgewertet. Schnelltests sollen nun helfen, ein umfassenderes Bild über Neuinfektionen zu bekommen. Insgesamt soll das Gesundheitssystem eine Finanzspritze von 6 Billionen Pesos (ca. 1,5 Mrd. Euro) bekommen, um auf die drohende Welle von Neuinfektionen in den nächsten Wochen vorbereitet zu sein.

Informelle Beschäftigung, steigende Arbeitslosigkeit, sinkender Ölpreis und neue Schulden

Die wirtschaftlichen Auswirkungen für die Bevölkerung durch die Quarantäne sind enorm. Etwa 47% der Erwerbstätigen beziehen ihre Einkünfte im informellen Sektor. Pro Monat kostet die Quarantäne das Land etwa 4,5% bis 6,1% seines jährlichen Bruttoinlandsprodukts. Expert*innen halten einen Anstieg der Arbeitslosenquote, die Ende März bei 12,2% lag, auf 20% bis 25% für nicht ausgeschlossen. Kolumbiens Arbeitsminister rief die Unternehmen dazu auf, Angestellte nicht zu entlassen. Die Inflation ist bereits nach drei Monaten so hoch wie nach zwölf Monaten im letzten Jahr. Der gesunkene Ölpreis trifft die Wirtschaft zusätzlich: die Förderkosten lagen im März über dem Weltmarktpreis. Kolumbiens Finanzminister kündigte bereits an, nur durch die Aufnahme von neuen Schulden die durch die Pandemie verursachten finanziellen Lasten stemmen zu können.

Finanzielle Hilfsmaßnahmen: ein Tropfen auf den heißen Stein?

Die nationale Regierung hat eine Reihe von Hilfsmaßnahmen angekündigt, darunter: ein Einmalzahlung in Höhe von 45,- Euro an 3 Millionen einkommensschwache Familien, darunter aus dem informellen Sektor; Sonderzahlungen für Leistungsbezieher*innen staatlicher Sozialprogramme; eine einmalige Sonderzahlung für Rentner*innen; einen Aufschub von Gebühren für Wasser und Strom für einkommensschwache Personen und Familien während der nächsten Monate; Kreditprogramme für Unternehmen (u.a. um Gehälter weiterbezahlen zu können); Maßnahmen zur Lebensmittelversorgung von einkommensschwachen Personen; Rückerstattung der Mehrwertsteuer für einkommensschwache Personen; Wiederanschluss an das Trinkwassersystem für 1 Million Menschen (ca. 200.000 Haushalte), die Wasserrechnungen nicht bezahlt hatten; die Gewährung eines Aufschubs bei der Rückzahlung von Hypotheken und Krediten während der nächsten Monate; Bürgerschaften für die Kreditvergabe durch Banken an klein- und mittelständische Betriebe; erleichterter Zugang zu gezahlten Einlagen in den Arbeitslosenfond. Daneben stellen auch Städte und Gemeinden finanzielle Beihilfen für arme und sozial schwache Familien bereit. So gewährt die Stadt Bogotá etwa für die ersten drei Wochen Quarantäne 500.000 von Armut betroffenen und vulnerablen Familien einmalig zwischen 45 bis 60 Euro als Soforthilfe. Über die Finanzierung und Verteilung der Kosten zwischen der nationalen Regierung und den lokalen Behörden wurde bereits kontrovers diskutiert.

Der Kampf gegen das Virus als politische Chance für Kolumbiens Präsident?

Wenngleich in Umfragen etwa 75% der Bürger*innen die Quarantäne für einen notwendigen Schritt halten, blicken sie sorgenvoll in die Zukunft. Präsident Duque, dem Umfragen in den letzten Monaten eine Unzufriedenheit unter der Bevölkerung von bis zu 70% attestierten, hat nun die Möglichkeit, sich politisch als Krisenmanager zu profilieren und neues Vertrauen zu gewinnen. Zuletzt sagten in einer Umfrage ca. 61,7% der Befragten, dass sie mit der Arbeit des Präsidenten beim Umgang mit der Pandemie zufrieden seien. Noch besser schnitten die Bürgermeister*innen in Großstädten wie Bogotá, Medellín, Cali und Barranquilla ab, die den Präsidenten dazu gedrängt hatten, die Quarantäne zu verhängen und später zu verlängern. Währenddessen glänzt das kolumbianische Parlament durch die Abwesenheit seiner Mitglieder. Nach Ende der sitzungsfreien Zeit seit Anfang Januar sollte die neue Sitzungsperiode des Kongresses eigentlich am 17. März beginnen. Seitdem hat das Parlament aber aufgrund von Streitigkeiten über präsentielle oder virtuelle Sitzungen noch nicht getagt.  

Gewalt gegen soziale Anführer*innen, häusliche Gewalt und Migration als weitere sozial- und gesellschaftspolitische Herausforderungen

Neben den gesundheitspolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen hat das Land mit weiteren strukturellen Problemen, die sich durch die SARS-CoV-2-Krise verstärken, zu kämpfen. Seit Beginn der Quarantäne gab es zahlreiche Angriffe von illegalen bewaffneten Gruppen auf soziale Anführer*innen in verschiedene Regionen des Landes. Die Gefängnisse sind überfüllt, soziale Distanzierung ist unmöglich. Wenngleich die Zahl von Diebstahls- und Tötungsdelikten in den Städten infolge der Quarantäne zurückgegangen ist, ist ein steiler Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt zu verzeichnen. Und schließlich steht das Land vor der Frage, wie es auch einem Großteil der mehr als 1,8 Millionen Migrant*innen aus Venezuela, die infolge der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Krise ihr Land in den letzten Jahren verlassen hatten, finanzielle Unterstützung im Rahmen der wirtschaftlichen Hilfsprogramme gewähren kann und xenophoben Tendenzen in Teilen der Gesellschaft entgegentritt. Kolumbien stehen insoweit weiterhin turbulente Zeiten bevor. Es bleibt abzuwarten, wie in den nächsten Wochen die kolumbianische Regierung und Gesellschaft angesichts dieser Vielzahl von Schwierigkeiten einen Weg aus dem Sturm finden wird.