Tage der friedlichen Revolution

Wilhelm Knabe, Mitbegründer der Grünen und der Heinrich-Böll-Stiftung, verbrachte Donnerstag, den 09. Oktober 2014, in Leipzig: Vor damals 25 Jahren entschied es sich hier, ob der Tag - und, wie wir heute wissen, das große Ganze -  ohne Gewalt zu Ende ging.

Donnerstag, 09. Oktober 2014: Vor 25 Jahren entschied es sich, ob der Tag ohne Gewalt zu Ende ginge. Kein Berliner Funktionär der SED wollte die Verantwortung für den Einsatz der Streitkräfte gegen die wohl 70.000 Menschen, die ihre Angst überwunden hatten und auf den Straßen von Leipzig demonstrierten, übernehmen. Diese Überwindung der Angst bei den Demonstranten und ihr klares Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit gaben in dieser Situation wohl den Ausschlag. 25 Jahre später knüpfte man daran an. Das Friedensgebet in der Nikolaikirche folgte dem Motto: „Hoffnung fährt unter die Angst“. Inhaltlich knüpfte es an die Seligpreisungen der Bergpredigt an.

Beim Verlesen des Aufrufes der 30 (verschiedene Vertreter von 30 Friedens-Umweltgruppen) ging mir direkt ein Schauder über den Rücken. So machtvoll wurde die Erinnerung. Ich war ganz in die damalige Zeit eingetaucht, ich spürte die harten Pflastersteine des Kirchplatzes vor der Nikolaikirche kaum, auf denen ich aus Platzmangel sitzen musste.

Denn gleich sprach der ehemalige US-Außenminister James A. Baker, dessen Politik es wohl Gorbatschow ermöglicht hatte, das eroberte Ostdeutschland wieder frei zu geben. Und ich sah auf dem Großbildschirm Henry Kissinger, der mich am 8. Mai 1945, als der 2. Weltkrieg offiziell endete, als Kriegsgefangenen verhört hatte. Seinen damaligen Ratschlag, nicht erneut aus dem Gefangenenlager zu flüchten, sondern bis zu meiner Entlassung zu warten, hatte ich zum Glück befolgt. Meine Gedanken gingen fast gleichzeitig zu ganz unterschiedlichen Zeiten zurück. Vor wenigen Stunden hatte ich noch im weichen Sessel des prächtigen Gewandhauses mit klarer Sicht auf die Bühne den Reden des Bundespräsidenten und anderer Politiker zugehört, die ein stärkeres Engagement der Deutschen in der Welt, genauer gesagt, an den Kriegen und Bürgerkriegen forderten.

Und hier auf dem Pflaster konnte ich am Großbildschirm die damalige Erklärung der 30 anhören, die eine strikte Enthaltung der Deutschen bei der Produktion und dem Einsatz von Waffen gefordert hatte. Den Vorschlag, diese Erklärung in die Schulbücher aufzunehmen, fand ich deshalb sehr gut, aber die heute verantwortlichen Politiker werden wahrscheinlich alles tun, um das zu verhindern oder nichts, um es zu verwirklichen.

Eine Überraschung hielt das Gewandhaus noch bereit. Mein Sitznachbar stellte sich als Dr. Kluge vor, der früher mit mir korrespondiert hätte. Leider hätte ich nie geantwortet. Das stimmt. Ich habe diesen Brief damals wohl überhaupt nicht gelesen. Nach 11 Jahren bekam ich ihn nun erneut mit der Post. Meine Antwort ging inzwischen ab. Doch an diesem Abend traf ich noch Freunde aus der Wendezeit.

Konrad Weiß aus Berlin-Pankow, Hilli, der mich immer mit Nachrichten versorgt hatte, Frank Ebert von der Umweltbibliothek und auch Roland Jahn, dem jetzigen Leiter der sogenannten Gauck-Behörde, der mir 1987 Bücher und sogar eine Druckmaschine zum Einschmuggeln in die DDR besorgt hatte.

Im Trubel des Menschengewühls auf dem Augustusplatz war die Suche nach einzelnen Freunden hoffnungslos. Doch in der Moritzbastei trafen wir dann einige. Spät brachen wir auf. Die Straßenbahnen hatten den Fahrdienst in der ganzen Innenstadt eingestellt. So liefen Alina und ich den ganzen Weg bis nach Gohlis-Nord zu Fuß. Es machte mir nach all den Erlebnissen nichts aus.

Resümee: In Leipzig verschmolzen die Visionen eines anderen Deutschlands mit den Kriegserlebnissen und der Befreiung eines unterdrückten Volkes von der Angst zu einem Gesamtbild, zu einem nicht mehr erwarteten Höhepunkt meines Lebens.

Dafür bin ich dankbar.