Kanada unter Justin Trudeau: progressive Rhetorik und konventionelle Außenpolitik

Analyse

Die Schwerpunkte der von Trudeau und seiner Liberalen Partei im Wahlkampf 2015 skizzierten Außenpolitik lagen auf dem Schutz von Menschenrechten, verstärktes Engagement bei den Vereinten Nationen, Klimapolitik, Geschlechtergleichstellung und Stärkung von Frauen sowie Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder der Welt. Nach fast vierjähriger Amtszeit bestehen einige Widersprüche zwischen Rhetorik und Praxis in Kanadas Außenpolitik.

20 May 2019; Prime Minister Justin Trudeau on centre stage during the opening night of Collision 2019 at Enercare Center in Toronto, Canada.

Kanadas Außenpolitik konnte in der westlichen Welt ein traditionell positives Image bewahren: Sie stand jahrzehntelang für multilaterale Zusammenarbeit, die Unterstützung der Vereinten Nationen und einen starken Fokus auf den Schutz von Menschenrechten. Die Wahl von Justin Trudeau im Jahr 2015 war mit hohen Erwartungen an eine progressive Innenpolitik und einem stärkeren globalen Engagement als unter Trudeaus konservativen Vorgänger Stephen Harper (2006-2015) verbunden. Die Schwerpunkte der von Trudeau und seiner Liberalen Partei im Wahlkampf 2015 skizzierten Außenpolitik lagen auf dem Schutz von Menschenrechten, verstärktes Engagement bei den Vereinten Nationen, Klimapolitik, Geschlechtergleichstellung und Stärkung von Frauen sowie Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder der Welt. Nach fast vierjähriger Amtszeit bestehen einige Widersprüche zwischen Rhetorik und Praxis in Kanadas Außenpolitik.

Trudeau ein verlässlicher Partner für Europa

Für die Europäer hat sich Kanada unter Trudeau als verlässlicher Partner in Nordamerika erwiesen, insbesondere im Vergleich zu den USA unter Präsident Donald Trump. Trudeau hat sich vielfach für die Stärkung von demokratischen Grundsätzen, Menschenrechten und Grundfreiheiten sowie eine auf Regeln basierende internationale Ordnung ausgesprochen. Während Trudeaus Amtszeit konnten die Beziehungen zwischen Kanada und Europa durch das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommens (CEPA), das seit 2017 vorläufig angewendet wird, und ein Strategisches Partnerschaftsabkommen ausgebaut werden. Darüber hinaus hat Kanada häufig Positionen der EU zu außenpolitischen Fragen geteilt. Beispielsweise hat es seit 2014 Sanktionen gegen Russland erlassen. Kanada beteiligt sich daneben an den EU-Missionen im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Ukraine und in den Palästinensischen Autonomie-Gebieten. Ottawa hat sich auch zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens bekannt und 2.65 Mrd. USD über einen Zeitraum von fünf Jahren zugesagt, um Entwicklungsländern bei der Bekämpfung des Klimawandels zu helfen.

Gleichzeitig bleibt Kanada der weltweit viertgrößte Ölexporteur und verursacht laut „Climate Transparency“ die höchsten Treibhausgasemissionen pro Kopf unter den G20-Ländern. Kritiker bemängeln auch die Unterstützung der Trudeau-Regierung für die fossilen Rohstoffindustrien, darunter beispielsweise die kürzliche Genehmigung des Ausbaus der Trans Mountain-Teersandpipeline, während das kanadische Parlament gleichzeitig einen nationalen Klimanotfall ausgerufen hat.

In den Beziehungen mit den USA unter Donald Trump sah sich Trudeau ähnlichen Herausforderungen gegenüber wie viele seiner europäischen Amtskollegen, beispielsweise in den Bereichen Handel und Verteidigung. Nach harten Handelsverhandlungen unterzeichneten die USA, Kanada und Mexiko 2018 das USA-Mexiko-Kanada-Abkommen, durch das sich die bis dahin angespannten Beziehungen mit den USA verbessert haben. Um die Rolle der Welthandelsorganisation (WTO) und eine regelbasierte internationale Handelsordnung aufrecht zu erhalten, versucht Trudeaus Regierung gemeinsam mit den europäischen Partnern, die Blockadehaltung der USA bei der Besetzung neuer Richter für das Berufungsgremium der WTO zu überwinden.

Ähnlich wie einige NATO-Verbündete hat Kanada Mühe, seine NATO-Zusagen zu erfüllen und das Verteidigungsbudget auf zwei Prozent seines BIP zu erhöhen: 2018 gab Kanada nur 1,3 Prozent seines BIP für Verteidigung aus. Ähnlich wie in Deutschland hat die Trudeau-Regierung versucht, dieses „Manko“ durch eine aktive Rolle innerhalb der NATO auszugleichen: Während Kanada seine Truppen aus Afghanistan 2011 abzog und seine Luftwaffe vom Einsatz gegen den Islamischen Staat zurückzog, führt Kanada heute einen multinationalen Gefechtsverband der NATO mit rund 450 Soldaten in Lettland an. Daneben übernahm Kanada 2018 das Kommando über die neue NATO-Ausbildungsmission im Irak und entsandte 250 Soldaten ins Land.

Wie sich kürzlich beim EU-Kanada-Gipfel gezeigt hat, genießt Trudeau, insbesondere im Vergleich zu Donald Trump, viel Vertrauen unter den europäischen politischen Entscheidungsträgern. Trudeaus Rivale um den Posten des Premierministers, der konservative Andrew Scheer, der den Brexit unterstützt hat und mit Trump in verschiedenen außenpolitischen Fragen übereinstimmt (siehe unten), wäre wahrscheinlich ein schwierigerer Partner für die EU.

Begrenztes Engagement bei UN-Friedensmissionen

Zu Trudeaus Wahlankündigungen gehörte es, dass Kanada unter seiner Führung ein aktives und konstruktives Mitglied der Vereinten Nationen (UN) und anderer multilateraler Organisationen werden würde. Kanada war traditionell ein starker Befürworter der UN und ihrer Friedensmissionen. Während Kanada 1992 noch zu den größten Truppenstellern bei UN-Missionen gehörte, sind seine Beiträge in den Folgejahren stetig zurückgegangen. Unter Trudeaus UN-kritischen Vorgänger Harper zog sich Kanada fast vollständig aus UN-Friedensmissionen zurück. Im Gegensatz dazu versprach Trudeau 2016, dass Kanada bis zum Jahr 2019 600 Soldaten und 150 Polizeibeamte für friedenserhaltende UN-Missionen zur Verfügung stellen würde.

In seinen ersten Amtsjahren lehnte Trudeau jedoch mehrere Anträge auf Entsendung von Truppen ab und im Februar 2018 nahmen nur noch 22 kanadische Soldaten an vom UN-Sicherheitsrat genehmigten Missionen teil. Im Sommer 2018 entsandte Kanada schließlich 250 Mitarbeiter/innen zur UN-Mission in Mali – dem ersten großen kanadischen Beitrag zur Friedenssicherung seit 18 Jahren. Das Engagement endete jedoch bereits im Juli 2019 und die Trudeau-Regierung lehnte wiederholt eine Verlängerung der Mission ab, um den Übergang zwischen dem Abzug der Kanadier und dem Eintreffen rumänischer Truppen im Oktober zu überbrücken. Die Rückkehr Kanadas zur UN-Friedenssicherung war damit nur von kurzer Dauer. Insgesamt scheint Kanada – ähnlich wie viele westliche Länder – eher an NATO-Einsätzen als an UN-Missionen interessiert zu sein.

Kanadas feministische Außenpolitik: lobenswerte Ziele, wenig Ressourcen

Eine der vielversprechendsten Initiativen von Trudeau war sein sogenannter feministischer außenpolitischer Ansatz. Im Juni 2017 unterstrich Außenministerin Chrystia Freeland die historische Bedeutung einer feministischen Regierung und stellte Frauenrechte als Menschenrechte in den Mittelpunkt der kanadischen Außenpolitik. 2016 wurde das kanadische Entwicklungshilfeprogramm in „Feminist International Assistance Policy“ umbenannt, mit dem spezifischen Auftrag, die Geschlechtergleichstellung und die Stärkung von Frauen als wirksamste Methode zur Verringerung extremer Armut zu fördern. Entsprechend wurde das Ziel ausgegeben, bis 2022 mindestens 95 Prozent der Entwicklungshilfe Kanadas für Gleichstellung und Stärkung von Frauen auszugeben. Darüber soll sich die Hilfe auf die am wenigsten entwickelten Länder konzentrieren; bis 2022 sollen mindestens 50 Prozent der Mittel in die Subsahara-Region entfallen. Oberflächlich betrachtet ist das ein lobenswertes Ziel, allerdings bleibt unklar, wieviel Substanz hinter der Rhetorik steckt. Denn Kanada gibt nur 0,26 Prozent seines Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe aus, ein Wert, der weit unter dem von der UN ausgegebenen Ziel von 0,7 Prozent liegt.

Allerdings trug die neue Politik der Trudeau-Regierung Früchte in Bezug auf die Stärkung von Frauen im außenpolitischen System Kanadas. Während im Jahr 2013 unter Premierminister Harper nur 29 Prozent der Top-Diplomat/innen Frauen waren, lag die Quote im Oktober 2017 bei 44 Prozent.

Drängen auf den Schutz von Menschenrechten bei Fortführung von Waffenexporten in den Nahen Osten

Trotz des Versprechen von Chrystia Freeland, dass „Kanada immer für die Menschenrechte auf der ganzen Welt eintreten wird“, hat Ottawa unter Trudeau in diesem Bereich eine eher gemischte Bilanz vorzuweisen. Einerseits warb Außenministerin Freeland kontinuierlich für den Schutz von Menschenrechten und der Meinungsfreiheit, was teilweise zu diplomatischen Zerwürfnissen führte. Beispielsweise eskalierten 2018 Kanadas Beziehungen mit Saudi-Arabien, nachdem sich Freeland für die Freilassung von Menschenrechtsaktivisten aus saudischen Gefängnissen ausgesprochen hatte. Die Spannungen mit Riad nahmen Anfang 2019 weiter zu, als Kanada einer saudischen Frauen, die aus dem Land geflüchtet war, Asyl gewährte. Kritiker bemängeln jedoch, dass Kanada zwar gern auf den Schutz von Menschenrechten in der arabischen Welt drängt, dass sich Kanadas Waffenexporte in den Nahen Osten aber nicht wesentlich verändert haben. In der Tat bleibt Kanada einer der größten Exporteure in die Region, in der Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, die für Menschenrechtsverletzungen im Jemen verantwortlich gemacht werden, die Hauptabnehmer von Kanadas Waffenexporten sind. Nach den Auseinandersetzungen mit Saudi-Arabien kündigte Trudeau zwar an, dass die Regierung ein Geschäft über 15 Milliarden US-Dollar zwischen einem kanadischen Rüstungsunternehmen und Riad über die Lieferung von 737 gepanzerten Fahrzeuge, zu überdenken. Am Ende konnte sich die Regierung aber nicht dazu umringen, das Geschäft platzen zu lassen und Arbeitsplätze in Kanada zu gefährden. Ähnlich wie andere westliche Regierungen ist Kanada trotz des Jemenkriegs bisher nicht dazu bereit, eine Kehrtwende in den Beziehungen zu Riad zu machen.

Im Bereich Asylpolitik hat die Trudeau-Regierung zumindest ihre Wahlkampfversprechen eingelöst. 2015 kündigte Trudeau an, bis Ende 2015 25.000 syrische Flüchtlinge in Kanada aufzunehmen. Trotz anfänglicher Verzögerungen hat Kanada in den letzten vier Jahre fast 60.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Im Jahr 2018 nahm Kanada weltweit die meisten umgesiedelten Flüchtlinge auf (28.100 von 92.400 Flüchtlingen) und hatte die zweithöchste Rate an Flüchtlingen, die die Staatsbürgerschaft erhielten. Bereits unter Justins Vater Pierre Trudeau nahm Kanada mehr vietnamesische Flüchtlinge pro Kopf auf als jedes andere Land (insgesamt 110,000 Flüchtlinge in fünf Jahren).

Mit wachsender Skepsis gegenüber Flüchtlingen in Kanada hat aber auch die Trudeau-Regierung die Einwanderungs- und Asylverfahren verschärft. So plant die kanadische Regierung künftig, Asylbewerber/innen abzulehnen, die bereits in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt haben, mit dem Kanada ein Abkommen über den Informationsaustausch zur Einwanderung geschlossen hat (wie zum Beispiel den USA).

Kanadas Außenpolitik könnte sich unter konservativer Führung erheblich wandeln

Im bisherigen Wahlkampf spielte Außenpolitik keine große Rolle. Allerdings bestehen zwischen der außenpolitischen Ansätzen der Trudeau-Regierung und der außenpolitischen Haltung von Andrew Scheer, Vorsitzender der Konservativen Partei und größter Konkurrent Trudeau, nennenswerte Unterschiede. In einigen Bereichen teilt Scheer die außenpolitische Haltung der Trump-Regierung, darunter seine Unterstützung für eine härtere Gangart gegenüber China. Scheer kritisiert China nicht nur für die Verbreitung autoritärer Werte und unlautere Handelspraktiken, sondern sieht auch Pekings Arktispolitik als Bedrohung für Kanadas nationale Sicherheit. Vor nicht allzu langer Zeit erwog Kanada unter Justin Trudeau noch, mit China ein Freihandelsabkommen abzuschließen; nach der Huawei-Affäre kamen diese Bemühungen aber zum Stillstand.

Scheer teilt auch die Haltung der Trump-Regierung in Bezug auf Iran und kritisiert die Aufhebung der kanadischen Sanktionen nach dem Iran-Atomabkommen durch die Trudeau-Regierung. Scheer möchte die Iranische Revolutionsgarde als terroristische Einheit einstufen, eine Maßnahme, die die USA bereits ergriffen haben. So wie die Trump-Regierung möchte Scheer daneben Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen. Bezüglich des Iran-Nuklearabkommens und dem Israel-Palästina-Konflikt könnte Scheers Außenpolitik also erheblich von den Standpunkten der EU abweichen.

Fazit

Zu Trudeaus außenpolitischen Zielen gehörte es, Kanada „zurück auf die Weltbühne“ zu führen. Tatsächlich unterstützte seine Regierung multilaterale Zusammenarbeit und schlug neue Initiativen vor, darunter Maßnahmen zur Förderung der Geschlechtergleichstellung und der Stärkung der Rolle von Frauen. Während es Trudeau gelang, eine engere Beziehung zur EU aufzubauen, waren seine Bemühungen zur Stärkung der UN-Friedenssicherung nur von kurzer Dauer. Insgesamt war Trudeaus Außenpolitik konventioneller als seine progressive Rhetorik von 2015/2016 vermuten lässt, und ähnelt in vielerlei Hinsicht der Außenpolitik vieler westlicher Staaten. Dies zeigt sich nicht nur an Trudeaus uneinheitlicher Klimapolitik sondern zum Beispiel auch an den Diskussionen über Waffenexporte an Saudi-Arabien: Hier entschied sich Trudeau für die Unterstützung der heimischen Rüstungsindustrie, auch auf die Gefahr hin, dass sich Kanada dadurch weiter indirekt an Menschenrechtsverletzungen im Nahen Osten beteiligt. Progressive Außenpolitik sieht anders aus.