Gehört Großbritannien zu Europa?

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Als unsere Autorin im Herbst 2018 auf die britische Insel zog, kam sie in ein Land, das in einer tiefen Identitätskrise steckte. Nicht zum ersten Mal geht es um die Frage, ob Großbritannien Teil der europäischen Gemeinschaft sein möchte.

Banksy does Brexit

Nach dem aktuellen Zeitplan wird Großbritannien die Europäische Union am 29. März 2019 verlassen. Dabei ist das britische Parlament tiefer gespalten denn je. Seit Juli 2018 sind 19 Regierungsmitglieder zurückgetreten. Um eine Niederlage ihres ausgehandelten EU Deals im Parlament zu vermeiden, verschob Premierministerin Theresa May die geplante Parlamentsabstimmung im vergangenen Dezember kurzerhand ins neue Jahr. Dabei überstand sie ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Conservative Party.

Auf der Suche nach einer britisch-europäischen Identität

Diese Zerrissenheit um die Rolle in Europa ist nicht neu. Seit Beginn der Europäischen Integration, seit mehr als einem halben Jahrhundert, ist Großbritannien auf der Suche nach der eigenen Identität innerhalb Europas. Als Winston Churchill nach Ende des zweiten Weltkriegs 1946 von seiner Vision der „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach, sprach er nicht für sich und sein Land, sondern von einem Europa ohne Großbritannien. Großbritannien sollte nur eine unterstützende Rolle einnehmen – als „Freund und Förderer des neuen Europa“. 1973 trat Großbritannien schließlich den Europäischen Gemeinschaften bei.

Der Beitritt war hauptsächlich ökonomisch motiviert, es ging darum, Teil des Binnenmarkts zu werden. Zwei Jahre später durften die Bürger/innen in einem ersten Referendum erneut über die europäische Mitgliedschaft Großbritanniens entscheiden, eine Mehrheit von 67 Prozent stimmten 1975 für den Verbleib. – anders als es 2016 kommen sollte. Doch blieb die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU in den letzten 40 Jahren immer umstritten, die Gesellschaft in dieser Frage gespalten. In Meinungsumfragen wechselten sich knappe Mehrheiten pro und contra immer wieder ab.

Nina Locher

Nina Locher ist die Autorin des Brexit-Blogs der Heinrich-Böll-Stiftung und schreibt über die aktuellen Entwicklungen in Großbritannien. 

Derzeit absolviert sie den Master of Public Administration an der London School of Economics and Political Science (LSE). Von 2016 bis 2018 war sie in der Berliner Zentrale der Heinrich-Böll-Stiftung für Projekte zur Türkei und zu Griechenland, sowie zur Europäischen Energiewende zuständig.

Im Brexit-Blog thematisiert sie aktuelle Entwicklungen in Großbritannien sowie übergreifende Themen wie Gender und LGBTQ+, Bregret und die Generation-Brexit.

Kontinent Europa

Dabei geht es um die grundlegende Frage, ob Großbritannien überhaupt Teil Europas ist. Schon der Wortgebrauch ist vielsagend. Mein britischer Mitbewohner in London beispielsweise erzählte mir, er würde über das Wochenende „nach Europa“ fahren, um eine Freundin in Paris zu besuchen. Obwohl er sich eindeutig als Europäer identifiziert, ist für ihn Europa gleichbedeutend mit dem „Kontinent“ - und Großbritannien nicht Teil dieses europäischen Kontinents.

Margaret Thatcher sicherte 1979 Großbritannien dementsprechend eine Sonderrolle innerhalb der Europäischen Gemeinschaften, welche die Mitgliedschaft im Wesentlichen auf den Binnenmarkt reduzierte. Thatchers neo-liberale Reformen und ihr Abbau des britischen Sozialstaates führte zu einer zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit. Die dadurch hervorgerufene Unzufriedenheit äußerte sich unter anderem im Wahlverhalten vieler Bürger/innen, die für den Brexit stimmten.

Das Brexit Votum fordert mehr Identität mit Europa

Doch wie blicken die Britinnen und Briten seit der Entscheidung für den Brexit auf Europa? Das Referendum hat dazu geführt, dass sich viele Bürger/innen mit europäischen Werten und Privilegien auseinandergesetzt haben, die sie zuvor für selbstverständlich hielten und dadurch eine bewusstere Haltung entwickelten.

So meint Niccolò Milanese, Vorsitzender des europäischen Netzwerkes European Alternatives, dass insbesondere die junge Generation, die überwiegend für den Verbleib in der Union gestimmt hat, ihre eigene Nähe zu Europa erkannt habe. Die Entscheidung für den Brexit hat dazu geführt, dass sich Menschen aktiv um ein größeres Verständnis gegenüber der EU und auch um ein zweites Referendum bemühen. Sie hat uns dazu bewegt, über die EU zu diskutieren, zu streiten, und uns politisch zu positionieren. Für die Britinnen und Briten bedeutet das ein großer Schritt in Richtung Europa.