Eine Pfadsuche für den Umgang mit Plastikmüll

Green Lecture

Es scheint ein Widerspruch zu sein: Wirtschaftliches Wachstum und Umweltschutz. Doch die junge tunesische Demokratie ringt um Lösungen, die beides vereint.

"Green Lecture" von Prof. Dr. Michael Braungart
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Die "Green Lecture" von Prof. Dr. Michael Braungart

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Clean it up! Müll in Nahost und Nordafrika".

Viele Initiativen in den Ländern der MENA-Region kämpfen gegen Verschmutzung durch Plastikmüll. Auch in Tunesien. Verschiedene Interessen werden dabei gegeneinander ausgespielt: Die einen argumentieren, die Reduzierung von Plastikmüll sei nicht mit wirtschaftlichem Aufschwung und Wachstum vereinbar, da beide für die Entwicklung und Stabilität in der Region von großer Bedeutung seien.

Andere erkennen zunehmend, dass es so nicht weitergehen kann. Die Strände und Straßen sind mit Plastikabfällen zugemüllt, auch die Auswirkungen auf Mensch und Natur geraten zunehmend in den Blick. Es braucht innovative Konzepte in der Region, Querdenker/innen, die den Status Quo hinterfragen und Visionen entwickeln um die Plastikverschmutzung in den Griff zu bekommen.

Cradle to Cradle - ein innovativer Designansatz

Das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis hat mit der Veranstaltung „Green Lecture“ zur aktuellen Debatte rund um ein Dekret zum Verbot von biologisch nicht abbaubaren Plastiktüten beigetragen. Der Hauptvortrag zielte darauf, eine Vision für weitergehende Lösungsansätze entwickeln zu helfen. Als Gastredner stand Prof. Dr. Michael Braungart am Pult. Er ist Chemiker und hat gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen, dem Architekten William McDonough das Designkonzept „Cradle to Cradle“ entwickelt, also „Von der Wiege zur Wiege“.

Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der ein radikales Neudenken fordert. Im aktuellen Zustand unserer Konsumgesellschaften legen verwendete Produkte eher eine Einbahnstraße „von der Wiege ins Grab“ zurück, da meist nur bis zu 40 Prozent der Inhaltsstoffe eines Produkts recycelt und wiederverwendet werden können. Die verbleibenden Abfallstoffe werden somit zunehmend zu einer Gefahr für unsere Umwelt, unseren öffentlichen Raum, aber auch für unsere eigene Gesundheit.

Braungart fordert ein radikales Umdenken im Umgang mit Abfällen. Er schlägt vor, dass wir uns nicht damit zufriedengeben, Verpackungsabfälle lediglich zu vermindern, sondern darauf, die Zusammensetzung der Inhaltsstoffe für Verpackung in einer solchen Weise neu zu erfinden, dass sie komplett wiederverwendet werden können. Es muss künftig also darum gehen „die Dinge nicht einfach nur ein bisschen weniger falsch machen zu wollen, sondern es vollständig richtig zu machen“, so sein Plädoyer.

Das heißt, entweder wird eine komplette Wiederverwendung der Inhaltsstoffe eines Produkts ermöglicht, sodass jeder einzelne Bestandteil in einer neuen Produktion benutzt und dem technischen Kreislauf zugeführt werden kann. Oder aber die Produkte wandern in einen biologischen Kreislauf und werden dort als biologische Nährstoffe genutzt.

Wirtschaft, Kommunen und Zivilgesellschaft tauschen sich aus

40 Millionen Badelatschen verlieren jährlich weltweit ihre Besitzer und gelangen auf verschiedene Weise in die Weltmeere
Mit Blick auf die vielen jungen Menschen, die Braungart zuhörten, lud er junge tunesische Ingenieure und Ingenieurinnen in sein Institut nach Hamburg ein, um gemeinsam mit ihm Produkte zu entwickeln, die das „Cradle to Cradle“-Logo verdienen. Eine konkrete Idee, die er vortrug: bis zu 40 Millionen Badelatschen verlieren jährlich weltweit ihre Besitzer und gelangen auf verschiedene Weise in die Weltmeere. Eine Riesenchance also für biologisch abbaubare Badeschlappen die als „Made in Tunesia“ die Weltmärkte erobern.

Aktuell steht aber erst einmal das Dekret zum Verbot von Produktion, Import und Verteilung von biologisch nicht abbaubaren Plastiktüten zur Diskussion. Schätzungen zufolge verbrauchen die Tunesier/innen 380 Plastiktüten pro Kopf und Jahr, woraus sich ein großer Handlungsbedarf ergibt.

Während der Debatte mit einem Vertreter der Kammer der Kunststoffproduzenten wurde deutlich, dass die Produzent/innen die Notwendigkeit der Umstellung der Produktion zwar anerkennen, aber einen kurzfristigen Um- oder Ausstieg aus der Produktion nicht abbaubarer Plastiktüten und Verpackungsmaterialien wirtschaftlich für nicht möglich und zumutbar halten.

Zur Wiederaufbereitung von Müll besteht zwar ein staatliches System, dieses hat jedoch seit seiner Spitzenperformanz mit 15700 Tonnen Verpackungsmüll im Jahr 2009 dramatisch an Leistung verloren. Im Jahr 2017 wurde lediglich ein Drittel der Menge von 2009 eingesammelt und aufbereitet.

Viele NGOs und Vereine kümmern sich um Sensibilisierungskampagnen für junge Menschen. Durch Bildung und Erziehung in den Schulen würde auch das Potential für Kreativität und Innovation im Umgang mit Plastik gestärkt. Lehrpläne müssen entwickelt und Lehrkräfte dafür weitergebildet werden.

Letztendlich – auch im Dialog mit dem Publikum – entstand ein Konsens darüber, dass ein „Weiter so!“ nicht möglich ist. Die Begegnung mit Expert/innen wie Braungart und die Auseinandersetzungen mit seinen Ideen und Lösungsvorschlägen schafft Räume für Inspiration und gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen Plastikverschmutzung – einem Kampf, der nicht an Staatsgrenzen endet.

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers "Clean it up! Müll in Nahost und Nordafrika".