Der Kern des Krieges in Syrien

Hintergrund

So komplex und religiös motiviert der Konflikt in Syrien scheint, die Grundkonstellation ist: Ein Regime mit mächtigen Verbündeten führt einen Vernichtungskrieg gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung. Wie konnte es so weit kommen? Und was ist das Mindeste, das wir tun können?

The Restless Earth Installation
Teaser Bild Untertitel
"The Restless Earth" - so der Titel einer Ausstellung über Migration auf der Triennale 2017 in Mailand, an der auch KünstlerInnen aus Syrien beteiligt waren

Dieser Artikel basiert auf einer Rede, die Bente Scheller - unsere Büroleiterin in Beirut - am 17. September in München hielt.

Wer von Ihnen vor 2011 in Syrien war, mag vielleicht ähnlich von seinen Reisen schwärmen, wie ich: Ein Land, in dem Bauwerke aus verschiedensten Epochen Zeugnis einer langen Geschichte vieler Völker und Religionen ablegten. Die Altstadt von Damaskus, in der sich auf den Grundmauern des römischen Jupiter-Tempels die Umayyaden-Moschee erhebt, ein traditionsgeprägtes Umfeld, in der Menschen zwischen Gebetsruf und Kirchengeläut einen Alltag lebten, der 1001 Nacht entsprungen sein könnte.

Über dem Duft des Jasmins und des Kardamom-Kaffees konnte man als AusländerIn leicht die dunkle Seite des syrischen Lebens vergessen. Syrien war nicht nur ein Staat, in dem man den Herzschlag Jahrtausende alter Zivilisation förmlich spürte, sondern auch einer, in dem der massivste Sicherheitsapparat des Nahen Ostens seinen Bürgerinnen und Bürgern buchstäblich die Luft abdrückte.

Das vielgepriesene friedliche Miteinander der Religionen war keine Errungenschaft von Hafez al-Assad, der sich 1970 an die Macht geputscht hatte. Vielmehr war es ein Charakteristikum der syrischen Geschichte, sonst hätten sich nie so viele kleine und kleinste Gemeinschaften unterschiedlicher Konfessionen entwickeln und halten können.

Aber der Griff nach der Macht stellte Hafez al-Assad vor ein religiös-politisches Problem. Wie jeder Diktator war er beseelt davon, sich den Anschein der Legitimität zu geben. Doch während die syrische Verfassung festlegt, dass der Staatspräsident muslimischer Konfession zu sein habe, war bei der Religionsgemeinschaft, der er angehörte, den Alawiten, unter Muslimen strittig, ob diese zum Islam gehöre.
So sehr er auch den von der syrischen Baath-Partei propagierten panarabischen Nationalismus in den Vordergrund rückte, die Gretchenfrage blieb: wie sollte er es mit der Religion halten?

Auf Hafez al-Assad folgt sein Sohn Bashar - und die Geschichte wiederholt sich

Hafez al-Assads Lösung war: sich von muslimischen Gelehrten ein religiöses Dekret erstellen zu lassen, das seine Religionsgemeinschaft zu Muslimen erklärte. Gleichzeitig unterband er jede Diskussion über Religion oder politisch religiöse Fragen wie die, ob eine Religionsgemeinschaft Privilegien hatte oder unterdrückt war.

Nicht alle trugen Hafez al-Assads Politik mit. Enteignungen zum Beispiel, vorgenommen auf der Basis seiner sozialistisch angelehnten Politik und die Benachteiligung bestimmter Landstriche, sorgten für Spannungen.

Als Ende der 70er Jahre deswegen ein erster größerer Aufstand stattfand, den das Regime mit Waffengewalt beendete, brandmarkte Hafez al-Assad ihn als „islamistisch“. Die syrischen Muslimbrüder waren zwar die treibende Kraft hinter dem Aufstand Anfang der 80er Jahre, doch die brutale Niederschlagung traf beileibe nicht nur sie.

Der syrische – christliche – Menschenrechtsanwalt Anwar al-Bunni, der heute in Berlin lebt, erlebte den Aufstand und seine Niederschlagung in der Stadt Hama, deren Zentrum damals dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die flächendeckenden Verhaftungen stellten alle Männer im wehrfähigen Alter unter Generalverdacht. Schon damals reichte es, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort zu sein, um direkt hingerichtet oder verschleppt zu werden.

Die Niederschlagung des Aufstands durch Hafez‘ Sohn und Nachfolger Bashar al-Assad, der 2011 begann, wiederholt die Geschichte, nur in einem weitaus größeren Maßstab.

Mit Beginn der Proteste sprach Bashar al-Assad den Aufständischen die Menschlichkeit ab: „Mikroben“ seien sie – ein Übel, das die syrische Gesellschaft befallen habe und ausgemerzt werden müsse. Wenig später wurden sie zu „Terroristen“ erklärt – einem Begriff, der auch in westlichen Gesellschaften dazu verleitet, rechtsstaatliches Denken auszusetzen und jedwedes Mittel zu rechtfertigen.

Zweifelsohne war die Mehrzahl der Aufständischen sunnitischen Glaubens – schlicht, weil auch die Mehrheit der syrischen Bevölkerung, rund 70 Prozent, sunnitischen Glaubens sind.

Die DemonstrantInnen in Syrien forderten nur, was was für uns in Deutschland selbstverständlich ist

Die Forderungen der Aufständischen waren jedoch weder religiös noch säkular. Sie waren menschlich.

Weder waren diejenigen, die zu Hunderttausenden den Mut fanden, auf die Straße zu gehen, von außen gesteuert, noch hatten sie eine religiöse Agenda. Sie forderten das, was für jeden von uns in Deutschland eine Selbstverständlichkeit ist: Würde, Freiheit und Gerechtigkeit.

Die DemonstrantInnen skandierten: „silmi, silmi“ – „friedlich, friedlich“, und erhoben dabei ihre Hände zum Himmel, um zu zeigen, dass sie keine Waffen trugen – und wurden vom Regime zusammengeschossen.

Bashar al-Assads verspottete die Opfer in seiner Rede vor dem Parlament Ende März 2011. Doch um die Botschaft: „legt euch nicht mit der Macht an“ zu vermitteln, fand das Regime schnell noch grausamere Methoden.

Eines der ersten Todesopfer war der 13-jährige Hamza al-Khatib. Der Geheimdienst verhaftete ihn aus einer Demonstration heraus und überstellte wenige Tage später den Eltern seine grausam zugerichtete Leiche. Ein Kind, zu Tode gequält vom Geheimdienst.

Damit kündigte das Regime den ungeschriebenen Pakt auf, dass zumindest diejenigen, die keine essentielle Bedrohung seiner Macht darstellten, verschont bleiben würden. Ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität, ein Minimum, für das viele SyrerInnen bereit waren, die autoritäre Herrschaft zu akzeptieren, war damit nicht mehr gegeben.

Das ist ein Lehrstück dafür, warum Autokraten keine Garanten der Stabilität, sondern ihr naturgegebener Feind sind: aufgrund ihrer mangelnden demokratischen Legitimation leben sie davon, Opposition zu ihrer Herrschaft in eine Bedrohung für die Gesellschaft umzumünzen – und bestenfalls einer Bedrohung, die in demokratischen Staaten einen Nerv trifft. Wie Terrorismus. Autokraten halten sich nicht an Regeln, sondern beugen sie. Ihre Ratio ist Willkür. Damit scheiden sie als verlässliche Partner rechtsstaatlicher Systeme aus.

Weil sich in den Reihen des syrischen Widerstands prominente Christen und Alawiten fanden, weil viele explizit gewaltfreie Aktivisten einen gewissen Ruhm innerhalb und außerhalb Syriens erlangten, war es für das Regime weitaus wichtiger, diese zum Schweigen zu bringen, als sich mit den Akteuren auseinander zu setzen, die sich nach einem halben Jahr zu bewaffnen begannen.

Auch ein Partner von uns, der Internetaktivist Bassel Khartabil, wurde verhaftet und zu Tode gefoltert

Vielleicht kennen sie Padre Paolo Dall’Oglio. Paolo war ein italienischer Jesuitenpater, der sich im Kloster Deir Mar Moussa niedergelassen hatte. Er gründete hier eine Gemeinschaft, die das Kloster aus dem 7. Jahrhundert restaurierte und zu einem Ort des interreligiösen Dialogs machte. Hier traf man junge SyrerInnen verschiedenster Konfessionen, die gemeinsam arbeiten und meditierten. Majästetisch über den kargen Bergen thronend, war Mar Moussa zu einem Sinnbild der syrischen Vielfalt und des gelebten Miteinanders worden, den das Regime gewähren ließ und zugleich misstrauisch beobachtete.

Padre Paolo war eine beeindruckende Persönlichkeit. Nach Jahrzehnten der Arbeit in Syrien sprach er fließend Arabisch – und nahm nie ein Blatt vor den Mund, wenn es Ungerechtigkeiten anzuprangern galt. So rief er zu Beginn der Revolution auf, eine gemeinsame Lösung zu suchen und sprach sich gegen die Gewalt aus.

Dafür wurde er vom syrischen Regime des Landes verwiesen. Syrische Mitglieder seiner Gemeinschaft wurden verhaftet.

AktivistInnen in Syrien sind von vielen Seiten bedroht. Wer vom Regime verfolgt wird, wird es genauso durch den sogenannten „Islamischen Staat“, ISIS. 2013 begab sich Padre Paolo nach Raqqa, um mit ISIS zu verhandeln, einer Macht, der nicht am Gespräch gelegen ist. Hier wurde er entführt. Bis heute fehlt jedes Lebenszeichen von ihm.

Im Jahr 2012 wurde unter anderem der gewaltlose Internet-Aktivist Bassel Khartabil, Partner unseres Büros, verhaftet und innerhalb von Monaten zu Tode gefoltert. Gleichzeitig entließ das Regime eine Reihe islamistischer Gefangener.

Ins Gefängnis gekommen waren diese überhaupt erst, weil das Regime sie eigens als Kämpfer für den Irak rekrutiert hatte, um dort Anschläge gegen die amerikanische Intervention 2003 zu verüben. Die meisten Menschen, die im Irak Opfer von Anschlägen wurden, waren keine ausländischen Soldaten, sondern irakische Männer, Frauen und Kinder.

Das Regime fürchtet den islamistischen Terrorismus nicht, Assad benutzt ihn

Wer von den Jihadisten aus dem Irak zurückkehrte, wurde vom syrischen Regime verhaftet. Im eigenen Lande war es dem Regime zu riskant, diese kampferfahrenen Extremisten frei herumlaufen zu lassen. In Zeiten der politischen Krise kamen sie ihm aber gerade Recht, um der Behauptung Nachdruck zu verleihen, es handele sich nicht um eine Revolution, sondern einen Umsturzversuch von Jihadisten.

Islamistischer Terrorismus ist nicht, was das Regime stets am meisten gefürchtet hat, sondern das, was es am brillantesten zu instrumentalisieren vermocht hat – bis heute.

Erst, als der sogenannte „Islamische Staat“ sein Kalifat ausgerufen hat, gab es überhaupt ein Pendant, neben dem das syrische Regime, das Millionen von Menschen zur Flucht gezwungen, Hunderttausende getötet und Zenthausende hat „verschwinden lassen“, als kleineres Übel erscheinen konnte.

Wer heute vor Kritik am syrischen Regime zurückschreckt, tut das nicht selten mit Verweis auf religiöse Minderheiten. Assad als Beschützer der Christen ist zu einem Topos geworden. Wie weit ist es mit unseren Standards gekommen, dass wir eine mafiöse Patenschaft fraglos akzeptieren?

Es sind verbriefte Rechte, die Minderheiten schützen. Was wir im heutigen Syrien sehen, ist genau das Gegenteil. Als bewaffnete Gruppen den christlichen Ort Maaloula, in dem noch heute Aramäisch – die Sprache Christi – gesprochen wird, ins Visier nahmen, schützte das Regime ihn nicht vor seinen Toren, sondern bezog Stellung zwischen Kirchen und Klöstern – um die Schlagzeile zu provozieren, die Opposition ziele auf christliche Einrichtungen.

Die Regimekräfte um das ismailitisch geprägte Salamiye wurden abgezogen, um den Ort unter Druck zu setzen, seine Söhne zum Militärdienst zu schicken. Minderheiten haben keine Rechte in Assads Syrien. Schutz wird als Gnade gewährt oder entzogen – je nach politischer Opportunität.

Soweit ich weiß, hat das syrische Regime sich nicht selbst als „säkular“ propagiert. Doch mit dem Auftreten von ISIS scheint es mir in westlichen Ländern immer stärker als solches gesehen zu werden. Die Schreckensstarre, die westliche Gesellschaften angesichts von ISIS befällt, führt zu diesem so naheliegenden wie problematischen Schluss.

Assads Regime misshandelt und tötet wie ISIS - nur in viel größerem Stil

In vielerlei Hinsicht beinhaltet die Propaganda des syrischen Regimes religiöse Referenzen. Sei es der Slogan „Assad bis in die Ewigkeit“, später erweitert durch „Assad bis in die Ewigkeit und danach“ – das ist ein klarer Verweis ins Jenseits. Oder, wie Assad-Unterstützer skandieren: „Mit unserer Seele, unserem Blut verteidigen wir dich, Bashar“.

Ich habe mir nicht nur die perfekt inszenierten Hinrichtungsvideos von ISIS angeschaut, die für ein westliches Publikum gedreht wurden, um Furcht zu verbreiten, sondern auch Hunderte von Videos, in denen Schergen des Regimes ihre Misshandlungen von Gefangenen stolz filmen.

Ein immer wiederkehrendes Element ist, dass Gefangene während der Misshandlung angebrüllt werden: „Sag: ‚Es gibt keinen Gott außer Bashar‘“ – eine Abwandlung des muslimischen Glaubensbekenntnisses ‚Es gibt keinen Gott außer Allah‘. Man muss nicht muslimischen Glaubens sein, ja, noch nicht einmal ein besonders religiöser Mensch, um die Demütigung zu empfinden, die hier Wehrlosen entgegengeschleudert wird.

Barbarei ist es, wofür ISIS zu recht bekannt ist. Doch im Lichte all dessen, was ich nicht nur auf YouTube gesehen habe, sondern wovon ehemalige Gefangene aus syrischen Gefängnissen oder ehemalige Beschäftigte in syrischen Krankenhäusern – von denen manche Teil des Folterapparates sind – berichten, kann ich nur sagen: Es ist schwer, eine Art der Misshandlung oder des Tötens zu finden, die ISIS, nicht aber das Regime anwendet. Nur tut es letzteres in einem weitaus größerem Stil.

An Belegen für die Gräueltaten mangelt es nicht. Ein Militärfotograf, beauftragt vom Regime, die Foltertoten aus syrischen Gefängnissen zu fotografieren, schmuggelte 55.000 Fotos aus dem Lande, die über 6.700 Ermordete zeigen. Niemand sollte gezwungen sein, sich diese Bilder anzuschauen. Viel wichtiger jedoch wäre sich vor Augen zu halten: niemand sollte gezwungen sein, das zu durchleiden, was den Menschen auf den Fotos widerfahren ist.

Das syrische Regime hat 2004 die internationale Konvention gegen Folter unterzeichnet.

Das syrische Regime ist 2013 der internationalen Konvention gegen Chemiewaffen beigetreten.

Beide bricht es systematisch und regelmäßig. Das ist kein Kavaliersdelikt, und auch, wie ich meine, keine innersyrische Angelegenheit. Es ist ein schwerwiegender Bruch internationalen Rechts, über den wir zutiefst besorgt sein sollten.

Sobald die Luftangriffe pausieren, gehen die Menschen wieder mit ihren Forderungen auf die Straße: Würde, Freiheit, Gerechtigkeit.

Internationale Konvention hegen das Recht des Stärkeren ein. Sie schützen Schwächere. Wenn wir zulassen, dass sie bewusst und ständig gebrochen werden, geben wir damit nicht nur unsere Werte preis und stellen unsere moralische Integrität in Frage, sondern gefährden unsere Sicherheit und die vieler anderer.

Auch, wenn das, wofür ISIS zu stehen scheint und wovon andere islamistische Akteure in Syrien nicht weit entfernt scheinen, uns Angst einflößt: Wir sollten uns nicht verleiten lassen, die Situation als einen religiösen Konflikt zu begreifen, als einen Krieg, der sich aus religiösen Überzeugungen speist, die uns fern sind, die wir nicht verstehen können und in dem wir uns daher nicht für Menschlichkeit und Menschenrechte einsetzen können.

Es ist ein Konflikt, der über die Jahre mehr und mehr Merkmale eines Stellvertreterkonfliktes der international militärisch und politisch involvierten Akteure aufweist.

Es ist ein Konflikt, der religiös aufgeladen worden ist.

Aber es ist im Kern ein Konflikt, der auch in unserem Sinne nachvollziehbaren Interessen folgt: ein Konflikt um Macht und Beteiligung an ganz weltlichen Prozessen. Und mit Akteuren, die weiterhin fordern, was uns am nächsten ist: Würde, Freiheit, Gerechtigkeit. Das ist mit dem verstärkten Auftreten islamistischer Rebellengruppen nicht verschwunden.

In den (wenigen) Momenten, in denen verhandelte Waffenruhen gelten, kann man es an Hunderten Orten beobachten: Sobald die Luftangriffe des Regimes und seiner Verbündeten pausieren, gehen die Menschen wieder mit eben diesen Forderungen auf die Straße - selbst in Gebieten, die seit Jahren ausgehungert und bombardiert werden.

Die meisten oppositionellen Gebiete in Syrien sind unter doppelter Bedrohung: Während ISIS und das syrische Regime, von denen man annehmen könnte, sie seien die Gegenpole, sich weitgehend in Frieden lassen, toben sie sich an der syrischen Opposition aus. Sobald diese eine Atempause hat, vertreibt sie die Islamisten, ob ISIS, oder wie unlängst in der Ortschaft Saraqeb: Hayat Tahrir al-Sham, den Nachfolger von der al-Qaida nahen Jabhat al-Nusra.

So komplex die Lage in Syrien scheint, die Grundkonstellation ist klar: Ein Regime, das sowohl die Lufthoheit und eine Luftwaffe als auch mächtige internationale Akteure an seiner Seite hat, führt einen Vernichtungskrieg gegen weite Teile der eigenen Bevölkerung.

Das Mindeste, was wir für die Menschen in Syrien tun können

Es mag schwer sein, sich ein anderes Syrien vorzustellen und noch schwieriger, aufzuzeigen, wie man dorthin kommt. Die Opposition ist zersplittert und kann nicht mit realistischen Alternativen aufwarten.

Das kann jedoch nicht heißen, kritiklos gegenüber den systematischen Vertreibungen und einem – wie es der Menschenrechtler Stephen Rapp formulierte: „Morden in industriellem Ausmaß“ des Regimes zu bleiben.

Das Mindeste, was wir für syrische ZivilistInnen tun können – die weiterhin mehr als 90 Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen – ist: die demokratischen, aktiven Kräfte nicht kleinzureden.

Wenn wir politisch nicht willens oder in der Lage sind, den Krieg zu beenden, sollten wir anerkennen, dass wir zumindest eine Verantwortung gegenüber den Geflüchteten haben. Doch unsere Politik ist es, die Menschen, die Schutz suchen, zu illegalen Handlungen zwingt: Wer Sicherheit finden will, ist oft genug gezwungen, Schmuggler zu bezahlen und sein Leben bei der unsicheren Reise über das Mittelmehr erneut in Gefahr zu bringen.

Unlängst wurde auch in Deutschland ein Fernsehauftritt eines Generals der syrischen Armee, Zahreddin gezeigt, in dem dieser begleitete vom hämischen Gelächter umstehender Soldaten sagte: „Ich warne die Geflüchteten, sich nicht wieder in unser Land zu wagen. Wir werden nie vergessen und ihnen nie verzeihen, was sie getan haben.“ Menschen „nicht verzeihen“, dass sie vor Krieg und Gewalt geflohen sind? Das ist ein klares Zeichen, dass Geflüchtete nicht sicher nach Syrien zurückkehren können.

Aus eigener Anschauung kann ich es für Afghanistan sagen, aus der Arbeit unseres Büros im Irak ebenfalls: der Wille der syrischen Bevölkerung, sich selbst zu verwalten, im Angesicht militärischer Übermacht nicht zu verzagen und alternative zivile Strukturen zu schaffen, ist außerordentlich. Dafür haben viele syrische AktivistInnen mit ihrem Leben bezahlt. Und dem haben wir weitgehend tatenlos zugesehen.

Die Verbleibenden verdienen es, dass man sie nicht als bedeutungslos oder gar nicht-existent abtut – und dass man nicht Ross und Reiter verwechselt.

Es ist nicht die syrische Revolution, die Tod und Verderben über das Land gebracht hat, sondern die brutale Antwort des syrischen Regimes.

Wer nach Syrien einreist, sieht als erstes das Plakat: „Willkommen in Assads Syrien.“ So betrachtet die Assad-Familie das Land: nicht eines, in dem ihnen temporär die Herrschaft anvertraut ist und in dem sie somit auch die Verantwortung zum Schutz aller Bürgerinnen und Bürger hätten, sondern als Privatbesitz. Ein Privatbesitz, den es lieber zerstört, als die Macht abzugeben. Das ist gefährlich.