Vorwort zur E-Paper-Reihe "Stabilität ist eine Illusion"

Eine Einführung in unsere E-Paper-Reihe "Stabilität ist eine Illusion: Analysen zur Sicherheits-, Antiterror- und Wirtschaftspolitik sowie der Rolle des Militärs in Ägypten".

Nach der Euphorie des Jahres 2011 wird das Bild der Staaten südlich des Mittelmeers in der deutschen Öffentlichkeit vor allem von der Furcht vor  Terror und der Sorge um Flüchtlings“ströme“ bestimmt. „Stabilität“ hat Priorität vor demokratischer Entwicklung. Diese Politik war schon vor 2011 nicht erfolgreich: was wenn ein weiterer Bürgerkrieg  Millionen zur Flucht Richtung Europa zwingt (wie in Syrien) oder die Grenzsicherung zusammenbrechen lässt (wie in Libyen)? Demokratie und Demokratisierung erscheinen derzeit als gefährliche Luxusgüter, handlungs- und durchsetzungsfähige Regierungen hingegen als wertvolle Partner nach deren Methoden man besser nicht zu eindringlich fragt.

Solche Überlegungen bestimmen offensichtlich die deutsche und europäische Politik gegenüber Ägypten, ein Land mit mehr als 90 Millionen Einwohner/innen und einer strategischen Lage im Zentrum der südöstlichen Mittelmeerküste. Obwohl durch einen Militärputsch zur Macht gelangt und trotz andauernder schwerer Menschenrechtsverletzungen, hat das Regime von Abdelfattah El-Sisi international breite Akzeptanz erlangt. Im Frühjahr 2016 bezeichnete der jetzige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel den ägyptischen Herrscher gar als einen „beeindruckenden Präsidenten“.

Die in der Reihe "Stabilität ist eine Illusion" versammelten Papiere in englischer Sprache wurden von ägyptischen, arabischen und europäischen Expert/innen mit Verbindung zu anerkannten europäischen Think Tanks und Universitäten erstellt. Sie belegen, dass die behauptete „Stabilität“ des ägyptischen Regimes und seine angebliche Effizienz im Kampf gegen Terrorismus und (potentiell) illegale Migration viel Rhetorik und wenig Substanz beinhalten.

E-Paper 1: Ägyptens gescheiterter “Krieg gegen den Terror”

Das erste Paper zeigt, dass das hochgerüstete ägyptische Militär bereits an einer kleinen, geographisch begrenzten Aufstandsbewegung im Norden des Sinai scheitert, weil es einseitig auf Repression setzt und damit die einheimische Bevölkerung gegen sich einnimmt. Wie ein solcher Sicherheitsapparat wirksam und internationalen Standards entsprechend illegale Migration verhindern soll, bleibt fraglich. Ebenso hat bei der Terrorabwehr der einseitige Fokus auf die Muslimbuderschaft - eine ursprünglich auf Gewaltfreiheit und graduellen Wandel ausgerichtete Bewegung - deutlich radikaleren und gewaltbereiten dschihadistischen Gruppen ein weites Feld zur Rekrutierung geöffnet.

E-Paper 2: Politische Repression und Radikalisierung von Jugendlichen in Ägypten

Katastrophale Haftbedingungen und systematische Folter in den ägyptischen Gefängnissen tragen weiter zur Radikalisierung bei, wie Paper 2 belegt. Mit diesem Regime eine „Kooperation“ oder gar „Partnerschaft“ für Sicherheit einzugehen ist kontraproduktiv. Es ist darüber hinaus unvereinbar mit einer „werteorientierten“ Außenpolitik wie sie Deutschland für sich in Anspruch nimmt. Selbst wenn sich die Zusammenarbeit deutscher und ägyptischer Stellen im Rahmen der im Juli 2016 vereinbarten (bislang noch nicht implementierten) „Sicherheitskooperation“ auf unbedenkliche Bereiche beschränkt, wie etwa Trainings zur Entschärfung von Sprengsätzen, werden damit Institutionen legitimiert, denen schwerste Menschenrechtsverletzungen zur Last gelegt werden. Die Botschaft, gerade auch an die mutigen  Verteidiger von demokratischen Werten und Menschenrechten in Ägypten, ist verheerend.

E-Paper 3: Wie Ägyptens Politik wirtschaftlichen Abschwung begünstigt

Wie das dritte Paper zeigt, wirkt auch auf wirtschaftlichem Gebiet die derzeitige Regierungsführung Stabilität eher entgegen. Gewaltige Finanzhilfen aus den Golfstaaten wurden seit 2013 verschleudert, um die Popularität des Sisi-Regimes zu stützen und schmerzhaften aber notwendigen Reformen aus dem Weg zu gehen. Ob die Auflagen des Internationalen Währungsfonds für ein im Herbst 2016 bewilligtes neues Hilfspaket im Gesamtvolumen von 12 Milliarden Dollar eine Wende zum Besseren bringen können, erscheint zweifelhaft. Im Gegenteil drängt das Militär selbst in immer neue  Wirtschaftsbereiche und schreckt damit in- wie ausländische Investor/innen ab.

E-Paper 4: Nachdem Ägyptens Militär in die Politik vorgedrungen ist, wird die Politik in Ägyptens Militär vordringen?

Paradoxerweise könnte in diesen expansiven Tendenzen der Streitkräfte auch eine Chance liegen: wie Paper 4 zeigt, existieren innerhalb der „militärischen Institution“ konkurrierende Netzwerke und Fraktionen, deren Interessen sich um so weiter auseinander entwickeln werden je mehr gesellschaftliche Bereiche unter die Kontrolle des Militärs fallen. Früher oder später wird das Regime erkennen müssen, dass Wirtschaft und Gesellschaft nicht nach Befehl und Gehorsam funktionieren können und dass Plattformen für kollektive Interessenvertretung und -vermittlung notwendig sind.

Die mangelnde Bereitschaft Deutschlands und der EU

Offizielle Vertreter/innen der deutschen Politik verweisen neben dem Primat der Stabilisierung oft auf fehlende Einflussmöglichkeiten und rechtfertigen so ihre Zurückhaltung gegenüber der Menschenrechtsbilanz und dem autoritären Gebaren des Regimes in Ägypten. Solche Darstellungen zeugen vom Kleinmut der Demokrat/innen, die eine pluralistische Gesellschaftsordnung nur unter Bedingungen für möglich halten, wie sie in den hoch entwickelten Mitgliedsstaaten der OECD gegeben sind. Sie sind auch ein Ausdruck mangelnder Bereitschaft, das tatsächliche Gewicht Deutschlands als zentraler Pfeiler der Europäischen Union anzuerkennen und die damit verbundene Verantwortung anzunehmen.

Es ist fraglich ob der jüngste IWF-Kredit ohne die Unterstützung Berlins zustande gekommen wäre. Als größter Exportmarkt Ägyptens besitzt die EU zweifellos das Potential, Einfluss auszuüben; die dringend erforderliche Modernisierung der ägyptischen Wirtschaft ist ohne europäische Hilfen und erweiterten Zugang zu diesem Markt kaum vorstellbar. Es sollte daher in Deutschlands ureigenem langfristigen Interesse sein, sich für Rechtsstaatlichkeit und nachhaltige Reformen in Ägypten einzusetzen.

Das bedeutet nicht, dass Deutschland und die EU Ägypten auf einen Reformprozess wie er in Osteuropa stattgefunden hat verpflichten können oder sollten. Sondern dass normative Eckpfeiler und Grundsätze - Respekt für fundamentale Menschenrechte, rechtsstaatliche Prinzipien von Regierungsführung und -bildung - nicht kurzfristigen Stabilitäts- und Sicherheitserwägungen geopfert werden sollten. Zumal es fraglich ist, ob Ägypten unter al-Sisi tatsächlich Stabilität herstellen kann.

Eine Partnerschaft zum Schutz der Flüchtlinge und Migrant/innen

Außerdem sollte bei zukünftiger wirtschafts- und entwicklungspolitischer Zusammenarbeit mit Ägypten die Stärkung der Position und Autonomie gesellschaftlicher Akteure im Vordergrund stehen. Einige Vorschläge dazu sind in den Papern in dieser Sammlung enthalten; eine koordinierte Strategie und gemeinsame Bemühungen der verschiedenen in diesem Feld aktiven Institutionen könnten zweifellos weitere Ansatzpunkte finden - wenn der politische Wille vorhanden ist.

Politischer Wille ist schließlich auch gefordert, wenn Ägypten aus dem Blickwinkel von Flucht und Migration betrachtet wird, der die deutsche Außenpolitik in diesem Wahljahr maßgeblich bestimmt. Wie die Ausführungen des Direktors der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Kairo verdeutlichen, sind Vorstellungen, wonach Ägypten Teil eines der südlichen Mittelmeerküste vorgelagerten Abwehrsystems gegen Migration werden könnte, realitätsfremd. „Partnerschaft“ mit Ägypten (und anderen nordafrikanischen Ländern) in dieser Frage muss stattdessen bedeuten, mit diesen Länder Migration zum gemeinsamen Vorteil zu gestalten und den Schutz der Flüchtlinge und Migrant/innen in den Vordergrund zu stellen.

Hier, wie auch bei der „Stabilisierung“ Ägyptens sind langfristige Strategien gefordert, nicht kurzfristige „Lösungen“ oder an Wahlterminen orientierte „Deals“.

  • Zur E-Paper-Reihe "Stabilität ist eine Illusion: Analysen zur Sicherheits-, Antiterror- und Wirtschaftspolitik sowie der Rolle des Militärs in Ägypten"