„Selbst Sterben ist hier ein Problem“ - Zu Besuch in einem Flüchtlingscamp im Libanon

Flüchtlingscamp im Libanon
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Flüchtlingscamp im libanesischen Bar Elias im Osten des Landes.

Libanesische Bürokratie, traumatisierte Menschen, wenig internationale Hilfe: Die Alltagsprobleme in syrischen Flüchtlingscamps im Libanon sind groß. Menschen wie Majd Chourbaji helfen, sie zu lösen.

„Verhungern wird hier keiner, das kann man nicht sagen. Essen haben wir genug. Aber sonst fehlt es an allem“, beschreibt Majd Chourbaji die Situation vor Ort. Rund eine Million Flüchtlinge leben allein in der Bekaa-Ebene im Osten des Landes. Seitdem der Libanon im Januar 2015 die Einreisebedingungen für syrische Staatsbürger/innen verschärft hat und nicht mehr zulässt, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sie registriert, sind die Flüchtlinge mehr denn je auf die Unterstützung durch nicht-staatliche Strukturen angewiesen. Organisationen wie Women Now und Sawa for Syria bauen in Eigenregie Flüchtlingslager, Gemeindezentren und Schulen für die Betroffenen auf.

Endlich Schule

“If you’re happy and you know it, clap your hands!” ruft eine Lehrerin durch den Lautsprecher über den Schulhof. Rund 100 Kinder klatschen in die Hände. Sie stehen aufgereiht vor einem hellen Flachbau, den ein bunt bemaltes Dach schmückt. Ihre Gesichter strahlen. Angestrengt versuchen sie den englischen Text zu verstehen und den Anweisungen des Liedes zu folgen. Für die meisten von ihnen ist die Schule eine willkommene Abwechslung von dem ansonsten tristen Leben in den Zeltstätten. Hier finden sie etwas Normalität wieder.

Die Kinder der Schule in Taalabaya sind privilegiert, denn der Schulbesuch ist für die syrischen Flüchtlingskinder im Libanon keine Selbstverständlichkeit. Gerade einmal 30 Prozent der rund 400.000 syrischen Kinder besuchen hier eine Schule. Zum einen gelingt es den Behörden nicht, genügend Plätze anzubieten, zum anderen unterscheidet sich der libanesische Lehrplan stark vom syrischen. In Syrien ist die Unterrichtssprache ausschließlich Arabisch, wohingegen im Nachbarland auch auf Französisch und Englisch gelehrt wird. Viele syrische Kinder sind daher in den libanesischen Schulen überfordert.

Das Lied ist zu Ende, die Kinder gehen zurück in ihre Klassenzimmer. In der von Women Now gegründeten Schule lernen rund 700 Schüler täglich von aus Syrien geflohenen Lehrkräften. Es gibt einen kleinen Gemüse- und Obstgarten und eine Bäckerei, in der syrische Flüchtlingsfrauen Brot backen: „So haben die Kinder in der Mittagspause etwas zu essen und die Frauen können durch den Verkauf in anderen Camps etwas Geld verdienen.“

Kicken gegen den Frust und die Bilder von Bomben im Kopf

„Einmal haben wir ein Projekt gemacht zum Thema ‚Meine Erinnerungen an Syrien.‘ Viele der Kinder haben Bomben gemalt, die vom Himmel fallen. Das ist ihr letztes Bild von der Heimat. Dann war ihr Haus weg“, erzählt uns Majd. Eigentlich war die Idee des Projektes den Kindern eine Identität zu geben. Viele sind mittlerweile seit zwei oder drei Jahren hier. Zeit genug, um zu vergessen. „Wenn du sie fragst, woher sie kommen, antworten sie, dass sie von hier kommen, aus Bar Elias, dem libanesischen Zufluchtsort“, erzählt Rouba Mhaissen, Leiterin der syrischen Organisation Sawa for Syria. Die Einrichtungen der NGOs haben eine psychosoziale Bedeutung für die Kinder, aber auch für die Erwachsenen. Hier können sie ihre Kriegstraumata verarbeiten.

Die Schule in Bar Elias legt dabei besonderen Wert auf die Einbeziehung  der ganzen Familie – deswegen ist vormittags normaler Schulbetrieb, am Nachmittag öffnet sie die Türen als Gemeindezentrum. „Die Familie ist die soziale Bezugsgruppe der Menschen hier. Die Beteiligung der Männer ist auch für die Frauen wichtig. Sie erlauben ihren Frauen eher an den Kursangeboten teilzunehmen, wenn sie selbst auch aktiv eingebunden sind,“ erklärt Rouba.

Deshalb gibt es hier eine Fußballgruppe, die sich fast täglich trifft. „Der Fußball  hilft den Männern, Aggression und Frustration abzubauen.“ Da innerfamiliäre Gewalt  besonders in Krisenzeiten ein bekanntes Problem darstellt, bieten die Organisationen auch spezielle Kurse zu geschlechtsspezifischer Gewalt an.

Die Kinder machen währenddessen in Musikgruppen Erfahrungen mit Rhythmus und Takt oder nehmen am Puppentheater teil. In einem der Räume sitzen etwa 15 Kinder im Alter zwischen sechs und acht auf dem Fußboden. Sie wollen uns zeigen, was sie gelernt haben. Von draußen schaut ein Junge neugierig zum Fenster rein. Hinter einem am Boden liegenden Tisch versteckt sich eine junge Frau und spielt mit den Kindern Kasperletheater. Sie bewegt eine kleine Handpuppendame. „Sabakhul kheir“, begrüßt sie die Kinder deren neugierige Blicke an diesem Nachmittag mehr an den Gästen hängen, als an den Puppen. „Sabakhul noor“ antworten sie dennoch im Sprechchor.

Für die Mütter bieten beide Zentren Sprach- und Nähkurse an, und bringen ihnen bei einen Computer zu benutzen. „Das ist sehr wichtig für die Frauen, auch damit sie mit ihren Familien in Syrien über die sozialen Medien wie Facebook und Skype in Kontakt sein können“, erklärt uns Majd. Ihre Organisation denkt sogar noch einen Schritt weiter - an das was kommt: den Wiederaufbau. Daher bietet Women Now auch Schulungen für AutoCAD an, einer Software, die von Architekten und Ingenieuren genutzt wird und deren Anwendung eines Tages für den Wiederaufbau der Infrastruktur Syriens nützlich sein wird.

Zurück nach Syrien?

Alltagsprobleme gibt es genug, denn die libanesischen Behörden bauen zunehmend bürokratische Hürden auf. „Alles ist ein Problem hier. Wenn du ein Kind bekommst, ist das ein Problem. Wenn du stirbst, ist das auch ein Problem,“ resümiert Majd, und erzählt von den Behörden, die sich weigern, neu geborene Kinder zu registrieren – und  von der Herausforderung, einen Friedhof zu finden, der Syrern erlaubt, ihre Toten zu begraben. Als eine Bekannte von ihr starb, musste die Familie zwei Tage lang suchen. „Allein dafür, dass wir sie in dieser Zeit noch im Kühlhaus der Leichenhalle lassen durften, sollten wir 100 Dollar pro Tag zahlen. Wir haben sie bekniet, dass wir wirklich kein Geld haben, da sind sie auf 50 Dollar runtergegangen.“

Mit ihren von Plastikplanen geschützten und mit Pappe oder Folie ausgelegten Verschlägen erinnern die Camps an Slums. Sie sind auch keine offiziellen Flüchtlingsunterkünfte, sondern werden von der Regierung lediglich geduldet. Bis zu 100 Dollar Miete pro Monat nehmen die Grundstücksbesitzer von einer Flüchtlingsfamilie. Dann darf sie ihr Zelt auf dem Privatgrundstück aufbauen. Für Menschen, die alles verloren haben, ist das eine große Summe.

Auch das UNHCR ist da keine Hilfe. Eine Frau mit Kindern, die ohne ein männliches Familienoberhaupt im Libanon lebt, bekommt vom World Food Program gerade einmal 13 Dollar pro Monat. Im vergangenen Jahr waren es noch 27 Dollar, seither ist die Hilfe aufgrund des finanziellen Engpasses der UN in der Syrien-Krise ständig gesunken. Eine mehr symbolische Summe als tatsächliche Unterstützung. „Einige Frauen treibt das in die Prostitution“, erzählt uns Majd. Doch das sei hier ein absolutes Tabuthema, über das die Frauen schweigen. Oft würden auch die Kinder losgeschickt, um die Familie zu unterstützen. „Einige gehen zurück nach Syrien. ‚Lieber Bomben als das hier‘, sagen sie.“

Weitermachen, für die, die für die Revolution gestorben sind

Majd weiß wovon sie spricht. Sie selbst träumte 2011 von einem besseren Syrien, ist aktiv in Antikorruptionskampagnen in ihrem Geburtsort Daraya, einem Außenbezirk von Damaskus, der für sein kreatives und explizit friedfertiges Aufbegehren bekannt ist. Wegen ihrer politischen Aktivitäten und dem Besitz eines suspekt erscheinenden Buches wird sie im Dezember 2013 an einem Checkpoint von Sicherheitskräften des Assad-Regimes verhaftet. Als ihr Ehemann sich an dem gleichen Checkpoint nach ihrem Verbleib erkundigt, wird auch er inhaftiert. Beide kommen sie in die Verhörzentren des Luftwaffengeheimdienstes. „Sie verlegten mich in das Gefängnis von Adra. Meine Mutter kümmerte sich währenddessen um unsere drei kleinen Kinder“, erzählt Majd. Ein Gerichtsverfahren gibt es nicht. Nach sieben Monaten kommt sie im Rahmen eines Gefangenenaustausches frei. Ihr Mann bleibt in Assads Foltergefängnissen. Immer wieder versucht sie herauszufinden, wo er ist. Besteht darauf, Informationen zu bekommen. Im August 2014 erhält Majd dann ein Schreiben mit den Wertsachen ihres Mannes. Am 28. Januar sei er im Verhörzentrum der Luftwaffe unter Folter gestorben. „Sie bringen einen Menschen um, und das Einzige was sie mir schicken, ist sein Ehering. Und dann wollen sie auch noch eine Eingangsbestätigung“ sagt Majd ruhig. Sprachlosigkeit ist das einzige, was bleibt.

Seit einiger Zeit wird Majd massiv von Unbekannten bedroht. Das hält sie nicht von ihrer Arbeit ab, aber sie hat Angst um ihre Kinder. Sie überlegt sogar, sie ins Ausland zu schicken. „Das fällt mir nicht leicht, aber es ist sicherer für sie und sie können dort die Schule besuchen.“ Das älteste ist gerade mal 11 Jahre alt. „Ich hoffe, dass sie mir meine Entscheidung nicht eines Tages vorwerfen, wenn alles in Asche liegt und es so aussieht, als ob es die syrische Revolution nie gegeben hätte und sie dann fragen: Mama, wo warst du?“

Majds Blick wandert hinüber zu den Bergen, hinter denen ihr Heimatland liegt. „Wir haben keine Träume mehr. Wir empfinden weder Freude noch Traurigkeit“, sagt sie dann. Viele Hilfsorganisationen verlassen den Libanon und gehen in die Türkei, um dort zu helfen, weil es dort für sie leichter ist, sich zu registrieren und zu arbeiten. „Aber wir können nicht alle weggehen und die Menschen hier alleine lassen.“

Majd bleibt. „Ich werde weitermachen, für alle die, die für ein freies und demokratisches Syrien gestorben sind.“