Odyssee ins Glück

Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien
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An der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien

Was erleben Geflüchtete auf ihrem Weg nach Europa? Der serbische Schriftsteller Vladimir Arsenijević hat sich auf die verschlungenen Pfade der Balkanroute gemacht und für uns Tagebuch geführt.

1. Prolog: Grenzübergang Šid-Tovarnik (25.09.2015, 17.20 Uhr)

Fünfzehn Zelte stehen verlassen kreuz und quer auf einem kleinen Flecken Niemandsland zwischen Serbien und Kroatien. Im zertrampelten, feuchten Erdreich lassen sich die Abdrücke verschiedener Schuhe zwischen den Haufen an aufgetürmten Zuckerrüben erkennen. Der Ort ist übersät von den unterschiedlichsten persönlichen Gegenständen – vergessene oder in Eile zurückgelassene Kleidungsstücke, hellrosa Matten mit dem Aufdruck UNHCR – THE UN REFUGEE AGENCY in großen blauen Buchstaben, von der Alliance Biblique Universelle herausgegebene Broschüren mit ausgewählten Suren aus dem Koran in arabischer Schrift, ebenfalls mit arabischen Schriftzeichen bedruckte schmutzige Handzettel mit Landkarten von Südosteuropa und Listen mit Flüchtlingslagern und Aufnahmezentren, Telefonnummern, E-Mail-Adressen und ähnlichen Angaben, Konservendosen noch halbvoll mit Bohnen, Einweggeschirr, Babywindeln, Bananenschalen, zerknüllte Zigarettenpackungen.

Die tiefe Stille zeugt noch von der unglaublichen Eile, in der dieses Behelfslager wieder verlassen wurde. Zurück bleibt eine geisterhafte Leere, nachdem die Bewohner in größter Hast aufgebrochen sind. Es ist kaum vorstellbar, dass es hier nur vor wenigen Minuten noch von Menschen wimmelte. Eines ist allerdings sicher: diesen Ort vermissen wird keiner.

Eine Woche ist es her, dass Kroatien die Grenzen zu Serbien dichtgemacht hat; ein Akt der schieren Verzweiflung angesichts des immer größer werdenden Flüchtlingsstroms, der hierhin umgelenkt wurde, nachdem sich Ungarn vollends abgeschottet hatte und Flüchtlingen sowohl die Ein- als auch die Durchreise strikt verweigerte. Seit jenem Tag harrten mehr als eintausend Flüchtlinge auf diesem gottverlassenen, harten Acker im Grenzbereich aus. Eine geschlagene Woche lang bestand ihre Welt nur aus diesem schmalen Streifen pannonischen Landes. Die ganze Hoffnung der Menschen bestand darin, dass über kurz oder lang etwas geschah, das es ihnen erlauben würde, ihre lange und beschwerliche Reise fortzusetzen.

Zwischen Serbien und Kroatien, auf dem Weg zur Grenze

Und dann trat es ein, dieses lang ersehnte "Etwas". Am Freitag, den 25. September um punkt 17 Uhr wurden die Grenzübergänge wieder geöffnet. Nur Minuten später standen kroatische Busse für die Weiterfahrt bereit. Binnen knapp fünfzehn Minuten waren die Flüchtlinge verladen und auf kroatisches Staatsgebiet gebracht worden. Ihr nächster Halt war das Flüchtlingslager in Opatovac, wo die Neuankömmlinge zunächst registriert und klassifiziert wurden und anschließend medizinische und hygienische Versorgung sowie etwas zu essen erhielten. Nicht viel später erfolgte die Aufteilung der großen in eine Vielzahl kleinerer Gruppen. Diese wurden in Züge gesetzt und weitergeschickt – wohin, wusste anscheinend niemand. Sicher war nur, dass es in Richtung kroatisch-ungarischer Grenze ging.

Und so ist der Ort bereits zwanzig Minuten nach fünf verwaist. Wir stehen völlig alleine da und können uns frei zwischen den Zelten bewegen. Niemand hindert uns daran, wahllos in den wilden Haufen zurückgelassener Objekte zu stochern, die sich bunt zwischen dem Tor zum Friedhof des kleinen kroatischen Grenzorts und den eintönigen, kahlen Zuckerrübenfeldern auf der serbischen Seite auftürmen.

2. Blinde Hoffnung

So kam es, dass nach sieben Tagen absoluten Stillstands die inoffizielle internationale Verbindungsroute durch diesen Teil Europas, der in früheren Zeiten als Jugoslawien bekannt war und heute meist mit politisch scheinbar neutralen Begriffen wie "der Südosten Europas" oder "Westlicher Balkan" bezeichnet wird, wieder in Bewegung kam. Scheinbar endlose Flüchtlingsströme ziehen auf ihr entlang, um in das Herz Europas zu gelangen, in der Hoffnung, dort endlich das zu finden, was jeder Mensch erhofft: ein kleines Stück persönlichen Glücks.

Wir, deren Alltag aus hoffnungsloser Hektik und einer chaotischen Vielfalt an zu ordnenden Medieninhalten besteht, übersehen in dem ganzen Wirrwarr nur zu leicht, dass diese Fluchtroute überhaupt existiert. Wer stur an seiner geplanten Reiseroute festhält, wird in völliger Unkenntnis der dramatischen Geschehnisse reisen. Felder und Wiesen, Hügel und Berge ziehen träge an einem vorüber. Tankstellen mit internationalen Namen, Restaurants am Straßenrand und schmutzige Schlagbäume wechseln sich in regelmäßigen Intervallen rechts und links des Weges ab. Buchstäblich nichts deutet auch nur für einen Augenblick darauf hin, dass sich gleich um die Ecke eines der größten Dramen der jüngeren europäischen Geschichte abspielt – eine der größten Massenbewegungen in der Geschichte der Menschheit.

Die Fluchtroute ins Glück verbindet die Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien mit Ungarn und Kroatien; verknüpft diese untrennbar mit den Wunschzielen Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien und Schweden.

Schaffen es die Flüchtlinge mit ihren winzigen Booten und Flößen über die nordwestliche Ägäis vom türkischen Hafen Izmir auf die nahegelegenen griechischen Inseln Lesbos und Kos, finden sie zweifellos auch einen Weg, um von dort auf einer der regulären Fähren auf das griechische Festland und in den Hafen von Piräus zu gelangen. In Bussen werden sie von dort in den Norden des Landes gebracht, zur mazedonischen Grenze, wo außerhalb des Grenzortes Eidomeni ein Flüchtlingslager eingerichtet wurde. Von dort aus geht es unter den wachsamen Augen der griechischen und mazedonischen Grenzschützer am Schlagbaum vorbei auf die andere Seite der Grenze, nach Gevgelija. Per Zug geht es weiter in das Dorf Tabanovce, wo sich Mazedonien und Serbien treffen.

Serbia-Croatia border

Nur wenige Kilometer weiter auf serbischer Seite liegt die Ortschaft Miratovac mit ihrem provisorischen Flüchtlingslager. Nach einigen Kilometern auf einer staubigen Straße erreicht man die sogenannte Anlaufstelle in der nächstgrößeren Stadt Preševo. Sollte ein Flüchtling wunderbarerweise immer noch Geld in seinen Taschen finden, kann er nun von hier aus in die serbische Hauptstadt Belgrad reisen, oder sich direkt auf den Weg in die Grenzstadt Šid machen, dem Tor nach Kroatien und damit in die EU und das Schengen-Gebiet. Jetzt trennen sie nur noch wenige Schritte vom Ziel ihrer langen Reise, auf der sie nur die Hoffnung auf ein besseres Leben und der legendäre Ruf der west- und nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten aufrecht gehalten hat.

"Ich weiß, wie Menschen im Exil sich von der Hoffnung ernähren", legt Aischylos in "Agamemnon", dem ersten Teil seiner bedeutenden dreiteiligen Tragödie "Oresti", Aigisthos in den Mund, dem Sohn von Thyestes, dem Geliebten Klytemnestras und dem Mörder des Königs von Mykene. Seine Tragödien verfasste Aischylos im fünften vorchristlichen Jahrhundert und der Flüchtling oder Exilant ist ein immer wiederkehrendes Motiv.

Flüchtlinge und damit verbundene Dramen gibt es seit Anbeginn unserer unvollkommenen Zivilisation: Menschen werden durch Abspaltungen, Kriege, Sklaverei und natürlich Vertreibung in die Flucht getrieben.

Bereits in den frühesten schriftlichen Aufzeichnungen der Menschheitsgeschichte finden wir düstere Verse und Aussagen über Abtrünnigkeit, Wurzellosigkeit und Exil und die damit verbundenen Entbehrungen. Schmerz, Furcht und Ohnmacht reisen im Gepäck der Millionen Flüchtlinge, die seit Urzeiten über unseren Planeten ziehen. In ihrer Begleitung befindet sich auch blinde Hoffnung, wie jene, die der Titan Prometheus als Feuerbringer und Lehrmeister den Menschen brachte. Hoffnung – dies ist das einzige Gut, dass niemand einem Flüchtling nehmen oder rauben kann. Sie ist, kurz gesagt, alternativlos. Die Hoffnung verlieren kann man nur auf dem Weg, weshalb dieses Gut so unerbittlich verteidigt wird, mehr noch als alle anderen Besitztümer.

3. In und um das Flüchtlingslager Eidomeni

Endlos erstreckt sich die Schlange aus Bussen entlang der Schotterstraße, die zum Haupteingang des Flüchtlingslagers Eidomeni im hohen Norden Griechenlands führt. In die Staubschicht, die sämtliche Karosserien bedeckt, hat jemand die kryptische Nachricht "KOBANE" geschrieben.

Diese Stadt – Kobanî – befindet sich im westlichen Kurdistan, an der türkisch-syrischen Grenze. Zwischen 2012 und 2014 stand sie unter der Kontrolle der bewaffneten kurdischen Miliz YPG (Volksverteidigungseinheiten), den weithin bekannten Peschmerga-Kämpfern, "die dem Tod ins Auge sehen", um anschließend sechs Monate lang von den berüchtigten ISIL-Truppen belagert zu werden. In dieser kurzen Zeit wurde die Hälfte der Stadt vollständig zerstört.

Nach mehreren furchtbaren Massakern in den umliegenden Ortschaften, die sich in erste Linie gegen Kurden richteten, aber auch andere lokale Minderheiten trafen, wie Turkmenen und Armenier, flohen zahllose Zivilisten aus Angst vor weiteren Übergriffen in die Türkei, wo sie grenznah in Lagern untergebracht wurden. Das Gebiet, zu dem Kobanî gehört, befindet sich heute wieder unter der Kontrolle der Kurden. Langsam kehren einzelne Flüchtlinge aus der Türkei zurück nach Syrien und Westkurdistan. Viele von ihnen haben sich allerdings dafür entschieden, in die Gegenrichtung weiterzuziehen, nach Europa.

Ein Bus in Eidomeni, Griechenland

Im Gegensatz zu den anderen Anlaufstellen für Flüchtlinge, die wir im Rahmen unserer mehrtägigen Odyssee entlang der Straße ins Glück besucht haben, sieht das Lager Eidomeni fast ansprechend aus: relativ saubere Wege zwischen langen Reihen an weißen Zelten und säuberlich aufgereihte himmelblaue mobile Toiletten. Und im krassen Gegensatz zu vergleichbaren Örtlichkeiten in der Region wird dieses Lager weder bewacht noch abgeriegelt. Jedermann darf sich frei bewegen, ohne Passierschein oder Presseausweis.

Der Kopf brummt angesichts des allenthalben regierenden Chaos. Freiwillige Helfer aus allen Winkeln der Erde mit Wasserflaschen oder einem iPhone in der Hand und Rucksäcken auf dem Rücken führen ihre Freunde und Bekannten ungehindert durch das Lager; Journalisten stecken ihre Nase überall hinein, Reporter und Kameraleute fotografieren und filmen alles, das ihnen vor die Linse kommt; neugierige Reisende nutzen die Gelegenheit, eine ungewöhnliche touristische Attraktion abseits der ausgetretenen Pfade zu besuchen – alles wirkt lebendig, fast spielerisch angesichts der lauten und fröhlichen Unterhaltungen rund herum.

Und mitten drin treffen wir auf Vassilis Tsartsanis, einen lokalen Aktivisten. Er steht auf einer Erhebung nahe des Eingangs zum Lager und ruft einer Gruppe fast ausnahmslos schwarz gekleideter Vertreter der deutschen evangelischen Kirchen unter der Führung des aktuellen Präsidenten der Diakonie Deutschland (dem Wohlfahrtsverband der evangelischen Kirchen), dem Theologen Ulrich Lilie, lauthals etwas zu.

Man macht sich Notizen und nickt freundlich lächelnd in Tsartsanis‘ Richtung, während dieser versucht, die Menschen davon zu überzeugen, dass an der Spitze der Machtpyramide der EU nicht wie weithin angenommen die europäischen Regierungsvertreter in Brüssel stehen, sondern ganz im Gegenteil eine internationale Mafia, die aktuell mit internationalem Menschenschmuggel ihr Geld verdient. Laut Tsartsanis ist dies die Hauptursache für die nicht versiegen wollenden Flüchtlingsströme der Gegenwart.

"Die Mafia lenkt gezielt die Flüchtlingsmassen nach Europa“, donnert er den ehrfurchtsvoll lauschenden Zuhörern entgegen. „Sie öffnet und schließt die Grenzen und bestimmt, welche Routen von den Flüchtlingen wann genommen werden dürfen."

Die Vertreter der evangelischen Kirchen Deutschlands lauschen diesen Ausführungen gebannt aber gleichermaßen verständnislos. Wir müssen uns selbst überlegen, ob wir der einfachen Botschaft Vassilis Tsartsanis‘ Glauben schenken möchten oder nicht. Wir haben jedes Recht der Welt, ihm zuzustimmen oder eben nicht. Nichts ist leichter, als zu lächeln und weise mit dem Kopf zu nicken, wie es diese Gruppe Mitarbeiter einer evangelischen humanitären Organisation tun. Auf der anderen Seite ist es schwierig, um nicht zu sagen nahezu unmöglich – trotz der Fülle an Informationen oder vielleicht auch gerade deswegen – mit absoluter Sicherheit sagen zu können, was genau die Ursache für die aktuelle Flüchtlingswelle ist, die seit einigen Monaten über den Balkan nach West- und Mitteleuropa schwappt.

Navid Kermani, ein führender deutsch-iranischer Islamforscher und mehrfach ausgezeichneter Publizist und Schriftsteller, den wir auf dieser Reise begleiten durften, ist der Ansicht, dass die wahrscheinlichste Erklärung die jüngsten Positionsänderungen der EU hinsichtlich der Aufgaben der Frontex-Agentur ist. Seit Frühling diesen Jahres heißt die Mission ihrer Schiffe im Mittelmeer "Seenotrettungsprogramm Triton": Flüchtlingsboote auf dem Weg vom Mittleren Osten nach Italien, von der libyschen Küste in Richtung Lampedusa, werden nicht mehr abgefangen; dieses italienische Eiland erlangte in diesem Zusammenhang traurige Berühmtheit angesichts der hohen Zahl an Opfern, die Tag für Tag bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben kommen.

"Diese Änderung ist das Ergebnis eines deutlichen Umschwungs der öffentlichen Meinung in Europa und Drucks seitens der Zivilgesellschaft und des Europäischen Parlaments", erzählt uns Kermani. "Das ist allerdings nur einer der Gründe. Hinzu kommt der Krieg in Syrien, wo die Bevölkerung im Laufe des vergangenen Jahres nahezu alle Hoffnung verloren hat und zu der Erkenntnis kommen musste, dass sich der IS bereits etabliert hat, während Assad sich keinen Millimeter bewegt hat. Die einzige Konsequenz, welche er zieht, ist der Einsatz von noch mehr Bomben. Und schließlich war Deutschland im Sommer gezwungen, nach den unerträglichen Szenen, die sich auf dem Balkan und in Ungarn abspielten, seine Grenzen zu öffnen. Das war ein deutliches Zeichen für zahlreiche Flüchtlinge, insbesondere solche aus Afghanistan, sich auf den Weg zu machen. Nachdem Kundus fast nicht mehr zu halten ist, suchen immer mehr Afghanen ihr Heil in der Flucht nach Deutschland. Dort ist man auch bereit, die Gesamtzahl an einer Million Flüchtlingen aufzunehmen, allerdings ist dann auch Schluss."

 

Eine junge Mutter bittet um Hilfe. Rechts Navid Kermani. Preševo, South Serbia

Was immer diese Welle ausgelöst hat, eines ist sicher – sie schwillt mit jedem Tag mehr an. Sie hat sich schon fast zu einem Tsunami ausgewachsen. Während noch vor zwei Wochen etwa 1.500 Flüchtlinge jeden Tag diese Route passierten, betrug die Zahl Ende September bereits 5.000. Fünftausend Menschen jeden Tag. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Schwangere, Kranke, Behinderte. Kurz gesagt – Zivilisten.

5.000 – diese Zahl begegnet uns immer wieder in den zahlreichen Unterhaltungen, die wir entlang des Flüchtlingswegs, oder zumindest entlang des von uns bereisten Abschnitts, führen. Sie wird, verbunden mit viel Kopfnicken, von den Polizisten, Ärzten, Forensikern sowie Vertretern, Aktivisten und Freiwilligen der verschiedenen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen vor Ort wiederholt.

4. Auf der Straße nach Gevgelija

Griechisch-mazedonische Grenze: Grenzstein mit der Aufschrift SFRJ

Auf der anderen Seite der griechisch-mazedonischen Grenze markiert noch immer unverrückbar ein Stein mit der Inschrift SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) auch ein knappes Vierteljahrhundert nach dessen Niedergang die südlichste Grenze dieses ehemaligen Landes. Nach der temporären Wiedereinführung der ausschließlich für Flüchtlinge vorgesehenen Grenzkontrollen ist der Grenzstein derart von Stacheldraht umzäunt, dass er scheinbar auf griechischem Territorium steht.

Das scheint hier allerdings niemanden groß zu beschäftigen. Als wir einen jungen mazedonischen Militärpolizisten darauf aufmerksam machen, mit dem wir an diesem klaren, kalten Septembermorgen plaudern, zuckt er vage mit den Schultern, während er sich lässig auf sein Maschinengewehr stützt, das an seinem Hals baumelt. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf die neue Gruppe von Flüchtlingen, die in diesem Moment beladen mit persönlichen Habseligkeiten am Hinterausgang des etwa einhundert Meter von uns entfernten griechischen Lagers auftaucht.

In einer ordentlichen Reihe nähern sie sich langsam dem Grenzübergang, werden aber routinemäßig auf halber Strecke von griechischen Polizisten angehalten.

Dort müssen sie unter freiem Himmel, über den schwere schwarze Wolken wirbeln, im Niemandsland warten, bis sie grünes Licht von der anderen Seite bekommen und sich wieder in Bewegung setzen dürfen. Diese von uns mit unverhohlener Neugierde betrachtete Gruppe ist nur eine von vielen, die in Zwanzigminutenabständen am hinteren Ausgang des griechischen Flüchtlingslagers erscheinen.

Fünfzigpersonenweise machen sie sich auf die kurze Reise von Eidomeni in eine ähnliche Einrichtung im benachbarten Mazedonien. Unter ihnen erkennen wir Männer, Frauen, Familien mit Kindern, Alte und Junge. Sie sind überraschend gut gekleidet, in neue und modische, teilweise auch schicke Kleidung: Adidas-Jacken, Nike-Turnschuhe, robuste Rucksäcke auf dem Rücken. Gesellschaftsklasse, Bildungsstand und ethnische Herkunft lassen sich einfach ablesen. Die Mehrheit der Menschen sind Syrer und Kurden, doch befinden sich unter den Flüchtlingen auch zahlreiche Iraker, Afghanen und Afrikaner, meist aus Eritrea, Somalia, Nigeria und dem Sudan.

Wir haben von einigen unserer Gesprächspartner bereits gehört, welch verstörende Feindseligkeiten vereinzelt unter den Flüchtlingen ausgetragen werden. Wir haben erfahren, dass es eine organisierte Afghanengang geben soll, die mithilfe örtlicher Krimineller wohlhabende Syrer auf beiden Seiten der Grenze beraubt, und dass auch die Vertreter der griechischen und der mazedonischen Polizeikräfte korrupt sein sollen. Doch nichts davon können wir beobachten, während wir gemeinsam mit dieser bunt gemischten Gruppe auf das Lager in Mazedonien zumarschieren. Ein schlammiger Weg führt an endlosen Weinbergen entlang, zwischen denen nach den starken Regenfällen der letzten Nacht noch tiefe Pfützen stehen.

Allenthalben ist es friedlich und ruhig, unterbrochen nur von den Rufen der einheimischen Händler, die in dem Flüchtlingsstrom eine einmalige wirtschaftliche Gelegenheit erkennen, die sie nicht vorüberziehen lassen möchten. Während sie den Vorübergehenden Bananen, Wasserflaschen und Zigarettenpäckchen entgegenstrecken, rufen sie lauthals: "Turkish lira OK! Turkish lira OK!"

"Die gehören allesamt verhaftet!" Milena Berić, Organisatorin und Hauptkoordinatorin unserer Reise, knirscht mit den Zähnen, während sie gleichzeitig versucht, die Händler mit ihrem schmierigen Grinsen im Gesicht nicht anzusehen.

Auch die Flüchtlinge gehen schweigend und mit gesenkten Köpfen weiter. Nur vereinzelt kramt jemand Geld aus seinen Taschen, um ein oder zwei Dinge zu kaufen; meistens sind es Zigaretten. Im Stehen wird die Zigarette angezündet, dann geht es ruhigen Schrittes weiter, während der Zigarettenrauch bedächtig in den Himmel steigt.

Als wir uns dem Lager in Gevgelija nähern, erwartet man uns bereits. Mazedonische Polizisten haben sich in einer Reihe vor dem Haupttor aufgestellt. Bashar, ein junger Syrer mit grünen Augen, bleibt einen Moment stehen und erklärt uns, dass in dieser Gruppe niemand Zigaretten oder Bananen benötigt. "Nichts von alledem", sagt er höflich, Dankbarkeit ist aus seiner Stimmer herauszuhören, als wären die angebotenen Zigaretten nicht dreimal so teuer wie die am Kiosk und würden die Bananen nicht für die astronomische Summe von einem Euro pro Stück feilgeboten. "Wir sind dankbar für alles, was Sie für uns tun", ergänzt er in fließendem Englisch und verbeugt sich leicht, "aber wir haben nur den Wunsch, an einen sicheren Ort zu gelangen, und möchten dafür Ihr Land durchqueren."

Grenzüberquerung zwischen Griechenland und Mazedonien

Als wir ihn nach dem Ziel seiner Reise fragen, erklärt er – anders als viele andere Menschen vor ihm, mit ihm und nach ihm – dass es ihn nicht nach Deutschland zieht. Nein, sein Ziel ist Großbritannien. Er ist Englischdozent und vor einigen Monaten nach seiner Flucht aus Aleppo in der Türkei gestrandet, wo er mit privatem Sprachunterricht genug Geld verdienen wollte, um auf diese Reise gehen zu können. Vor zehn Tagen ist sein Freund aufgebrochen. Dessen Anruf aus Westeuropa war sein Startsignal und er machte sich auf den Weg. Seine grünen Augen leuchten, als wir ihm viel Glück für den Rest seiner Reise wünschen. "Danke", wiederholt er mit einem Lächeln und nimmt seinen energischen Schritt wieder auf, um "an einen sicheren Ort zu gelangen", geleitet von großen Plänen und unverwüstlicher, wenngleich blinder, Hoffnung.

5. Miratovac und weiter

"Wir brauchen dringend einen Krankentransporter", schreit eine junge Frau mit blonden Haaren und einer orangefarbenen Weste mit dem unübersehbaren weißen Aufdruck UNHCR in ihr Handy. "Sofort, korrekt – auf der Stelle! Welchen Teil davon verstehen Sie eigentlich nicht? Die Frau liegt bereits in den Wehen!" Sie nimmt das Telefon vom Ohr und blickt verzweifelt auf. "Es ist ihnen völlig egal", seufzt sie und man kann ihre Enttäuschung deutlich hören. Beständiger Nieselregen benetzt ihr Gesicht.

In einem Zelt ganz in unserer Nähe sehen wir, im grellen Licht einer nackten Glühbirne, eine schwangere Frau unbestimmbaren Alters sitzen, in einen Hijab gehüllt und eine Brille auf der Nase. Ihr Mann trägt eine Lederjacke und eine karierte Hose, ihre zwei Kinder – ein Junge, ein Mädchen – sitzen geduldig neben ihr.

Unser Panikgefühl steht in beinahe groteskem Kontrast zu der Ruhe und dem Frieden, der die Familie zu umgeben scheint. Gar ein Hauch von Glückseligkeit scheint auf dem blassen Gesicht der Frau auszumachen zu sein.

Hin und wieder zucken ihre Wangen unter den Wehen, das einzige Anzeichen für ihre Schmerzen, die sie weitgehend schweigend erträgt. Einmal blickt sie ihrem Mann direkt in die Augen und wendet den Blick so lange nicht ab, dass wir das Gefühl haben, sie teilt ihm tatsächlich etwas mit; etwas Wichtiges, das nur sie beide verstehen können.

Ein kaum erkennbares Leuchten erhellt wie von innen heraus ihr müdes Gesicht. Vielleicht ist es ein winziges Zeichen der Freude über dieses Kind, das sich in jener Zufluchtsstätte entschlossen auf den Weg in diese Welt macht und bereit ist, Wind und Wetter zu trotzen; das geboren werden möchte mitten in und trotz aller tragischen Widrigkeiten, in die das Schicksal diese kleine, hilflose Familie gestürzt hat. Unmittelbar darauf schießt uns ein anderer Gedanke durch den Kopf: Vielleicht ist es ein Zeichen der Hoffnung, dass – wenn es auf dieser Welt auch nur das kleinste bisschen Gerechtigkeit gibt – sie und ihr Mann ihrem noch ungeborenen Kind eine bessere Zukunft bieten können als das reale Elend, das ihnen zuteilwurde.

Genauso gut ist es möglich, dass wir uns das alles nur eingebildet haben. Was in diesem Zelt passiert, war für uns kaum erkennbar angesichts des strömenden Regens und der Vielzahl an engagierten Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen, überarbeiteten Ärzten und bewaffneten Polizisten, die emsig herumeilten. Die Frau im Hijab jedenfalls wandte den Blick ab und vergrub mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Müdigkeit ihr Gesicht in ihren Händen. Ihr Mann schloss die Augen und rieb sich mit zitternden Fingern wieder und immer wieder die Schläfen. Ein Krankenwagen war weit und breit nicht in Sicht und der Regen strömte weiterhin unerbittlich herab.

Die Odyssee ins Glück folgt fraglos ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die erbarmungslose Strömung reißt die Flüchtlinge mit und erlaubt es ihnen kaum einmal, innerzuhalten und Atem zu schöpfen.

Alle Menschen, denen wir in Miratovac begegnet sind, haben sich bereits die drei Kilometer vom mazedonischen Dorf Tabanovce, wohin sie mit der Staatsbahn vom Lager Gevgelija gebracht wurden, durch Sturm und starken Regen nach Serbien gekämpft.

Von dort aus sind es noch einmal zweieinhalb Kilometer bis zum zentralen Flüchtlingslager in Preševo. Auch wenn zahlreiche Busse im Einsatz sind, die die Flüchtlinge von einer Einrichtung in die nächste fahren, so sind es immer noch zu wenige. Wie wir von den freundlichen Mitarbeitern der Internationalen Organisation für Migration (IOM) erfahren, werden Frauen und Kinder bevorzugt transportiert.

Auf unserem Weg nach Miratovac sind wir allerdings an einer langen Schlange von Menschen vorbeigekommen, die zu Fuß nach Preševo unterwegs waren, und mit einem kurzen Blick konnten wir erkennen, dass sich in der Gruppe nicht nur Männer befanden. In durchsichtigen bunten Regenmänteln nur notdürftig vor dem Regen geschützt versuchten viele Frauen und Kinder gemeinsam mit ihren Vätern, Brüdern und Männern die nächste Etappe auf ihrem Weg zu bezwingen.

Während wir aus der Wärme und Sicherheit unseres kleinen Fahrzeugs heraus die Gruppe beobachteten, die auf der schlammigen, unbefestigten Straße in die Gegenrichtung zog, versuchte der Photograph Moises Saman, der uns begleitete, diesen Exodus einzufangen, indem er die Migranten durch Autoscheiben voller Regentropfen fotografierte. Der schwarze Himmel vor uns und das erdrückende Schweigen, das nur durch das Prasseln des Regens und die unrhythmischen und abgehackten Klickgeräusche der Kamera unterbrochen wurde, verstärkten das scheußliche Gefühl, das sich im Wagen breit machte.

Als wir das im Gespräch mit den IOM-Mitarbeitern in Miratovac erwähnten, warf einer von ihnen rasch ein, dass die größte und allgegenwärtige Furcht der meisten Flüchtlinge naturgemäß darin besteht, dass sie von ihren Liebsten getrennt werden und diese nicht mehr wiederfinden. "Also bleiben sie stets eng zusammen, ganz egal, was sie dafür in Kauf nehmen müssen", sagte er und lachte hohl auf. "Alles hier ist höchst dramatisch", fügte er noch hinzu, bevor er uns verließ, um den Flüchtlingen in die Busse zu helfen, die endlich zurückgekommen waren, um eine weitere Fuhre einzuladen.

Kurz darauf taucht endlich auch der lang erwartete Krankenwagen auf. Mehrere Helfer unter der Führung einer blonden Frau in oranger UNHCR-Weste begleiten eine schwangere Frau, ihren Mann und die Kinder durch die rückwärtigen Türen in den Transporter. Die Fahrt geht nach Preševo, wo die werdende Mutter ihr Kind im Krankenhaus zur Welt bringen wird. Sollte es Komplikationen geben, werden sie nach Vranje überführt, wo es eine voll ausgestattete Entbindungs- und Mütterstation gibt. "Alle gemeinsam", wird der Familie mehrfach versichert.

Ein junger Mann liegt krank auf einer Decke des UNHCR

"Wir sorgen dafür, dass Familien stets zusammen bleiben", sagt uns die blonde Frau und blickt dem rasch abfahrenden Wagen nach. Die Blaulichter sind in der Dunkelheit bald nicht mehr zu erkennen. Auch wir blicken ihm nach, bis er verschwunden ist, und atmen einmal tief durch. Und wieder hören wir Kinderstimmen von irgendwoher. Die nächste Gruppe steht schon bereit und wird nass bis auf die Knochen, während alle geduldig auf die Rückkehr der Busse warten, die sie nach Preševo bringen sollen. Die Mitarbeiter von IOM und UNHCR sind weiterhin da, um ihnen zu helfen. Unermüdlich und ohne Pausen stapfen sie durch den strömenden Regen, der einfach nicht aufhören möchte, um ihre Aufgaben zu erledigen.

6. Anlaufstelle Preševo

Die gleiche Dramatik ist fühlbar, ja fast greifbar, in der sogenannten "Anlaufstelle", die vom Flüchtlingskommissariat der Republik Serbien in der nahegelegenen Stadt Preševo eingerichtet wurde. Chaos am Haupttor, die Flüchtlinge drängen sich in dem engen Durchgang mit Metallgittern, bewaffnete Wachen mit Mundschutzmasken im Gesicht, höchste Spannung unter den ohnehin schon erschöpften Reisenden, die so bald wie möglich weiterziehen möchten, Abfallhaufen allenthalben – ein trostloser Anblick für jeden Besucher.

In Begleitung einer offiziellen Vertreterin des serbischen Flüchtlingskommissariats beobachten wir, wie die Neuankömmlinge registriert werden: sie betreten ein langgestrecktes Zelt, an dessen anderem Ende sie einer nach dem anderen wieder herauskommen, fast wie auf einem Förderband. Beim Verlassen strahlen sie und halten Plastikkarten mit Nummern in der Hand. Eine junge Mutter kommt auf uns zu und sieht uns verwirrt an. Sie hält ein blondes Baby im Arm. Mühsam versucht sie, von uns Hilfe und Unterstützung zu erhalten, oder wenigstens ein bisschen Verständnis. Unter Einsatz von Händen und Füßen und vielen Worten erklärt sie mühsam, dass ihr Mann außerhalb des Lagers von einer Gruppe Afghanen angegriffen wurde. Im anschließenden Handgemenge wurde auch ihr Kind verletzt. Es ist nicht zu übersehen, dass das linke Auge des Babys rot und geschwollen ist. Als die Polizei eingriff, wurde sie gewaltsam von ihrem Mann getrennt; nun bittet sie uns nervös darum, ihr dabei zu helfen, ihn wiederzufinden.

Anlaufstelle, Serbia, Preševo

Wir sind tief berührt und bitten unsere offizielle Begleiterin, etwas für die Frau zu tun. Doch sie ist von ihren 16-Stunden-Arbeitagen und dem stetigen Kontakt mit den Flüchtlingen und deren Problemen körperlich und emotional ausgelaugt. "Es wird viel gelogen", sagt sie und klingt entnervt, "um zu bekommen, was man möchte. Die Menschen hier bringen es fertig, ihr eigenes Kind zu kneifen oder zu schlagen bis es weint, um außer der Reihe dranzukommen und medizinische Hilfe zu erhalten", sagt sie weiter und ist sich unserer ungläubigen Blicke wohl bewusst.

Die junge Mutter starrt uns erwartungsvoll an, während wir uns in einer Sprache unterhalten, die in ihren Ohren wie Kauderwelsch klingen muss. "Ich kann ihr nicht helfen", winkt unsere Begleiterin ab, "sie muss abwarten, wie alle anderen auch." Dann wendet sie sich an die Frau und teilt ihr auf Englisch mit, dass sie sich um ihren Mann keine Sorgen machen soll, er wird wiederkommen. "Your husband will arrive", sagt sie langsam und deutlich. "Do not worry."

Doch die Frau mit dem Kind schüttelt nur schwach den Kopf – sie scheint nicht verstanden zu haben. "Ich kann ihr nicht helfen", wiederholt unsere müde Begleiterin. "Am Anfang habe ich noch versucht zu helfen, aber das ist unmöglich geworden. Es sind inzwischen einfach zu viele."

Menschliche Güte und der Wunsch jedem zu helfen kollidieren häufig mit Erschöpfung und allgemeiner Nervosität, und niemand hier verfügt wirklich über die Zeit oder die Energie, besonders aufmerksam zu sein.

Buchstäblich jeder unserer Gesprächspartner, der auf die eine oder andere Weise mit den Flüchtlingen zu tun hat, schien gleichermaßen erschöpft, überarbeitet und auf äußerste angespannt zu sein. Auf der anderen Seite wurden wir immer und immer wieder Zeuge, wie sich Menschen selbstlos für andere einsetzen und so Hürden und Hindernisse aus dem Weg räumen; wie diese Güte durch das Netz des Elends sickert, das die Flüchtlinge auf ihrem Weg ins Glück gefangen hält.

Die Wache, die das Gepäck der Neuankömmlinge durchsucht, bevor diese das Lager betreten dürfen, nimmt sich die Zeit, einem kleinen Jungen ausgiebig die Hand zu schütteln; der lacht und jauchzt aus vollem Herzen, froh über wenigstens diese kleine Aufmerksamkeit und Freude, die er erfahren darf.

Ein älterer, grauhaariger Mann mit einem Rot-Kreuz-Aufnäher auf der Jacke hält ein Kind im Arm, das sich mit seinem kleinen Körper noch enger an ihn schmiegt, sobald seine Mutter versucht, es ihm abzunehmen. Trotz seines hohen Alters errötet er und versucht noch nicht einmal, das Lächeln zurückzuhalten, das sein Gesicht zum Strahlen bringt. "Sie weiß ganz genau, von wem sie diese neuen Schuhe bekommen hat", sagt er mit zitternder Stimme und er scheint den Tränen nahe zu sein, als er dem kleinen Mädchen zärtlich über die Haare streicht. Selbst ihre Mutter wirkt bewegt, als ihr kleines Mädchen ihren Kopf an seinen Hals legt.

Zwei junge Freunde, einer von ihnen aufgrund einer Beinverletzung an Krücken gehend, sind unzertrennlich.

Der Verletzte stützt sich unerlässlich auf seinen Freund, sie sind langsamer als die meisten, fallen immer weiter zurück. Schließlich tritt ein bewaffneter Polizist in Tarnanzug hinzu und begleitet die Männer an die Spitze der Menschenschlange. Die Dankbarkeit in ihren Augen lässt sich nicht in Worte fassen, doch der Ordnungshüter ist bereits mit etwas anderem beschäftigt.

Im einzigen Backsteingebäude dieses Lagers sind Forensiker damit beschäftigt, Fingerabdrücke von allen Flüchtlingen über achtzehn zu nehmen. Dann werden sie fotografiert und erhalten anschließend das erforderliche Dokument, um ihre Reise fortsetzen zu können. Wir betrachten gerade das Poster an der Wand, das eine Detailkarte dieses Teils von Serbien zeigt, auf der "durch Minen, Munitionslager und andere Blindgänger verursachte Gefahrenzonen" dargestellt sind, ein Überbleibsel der Bombardierung durch die NATO im Jahr 1999, als ein junger Afghane vorbeigeht. Er wirkt kaum älter als ein Kind. Wir machen ein Foto davon, wie er stolz ein gerade erhaltenes Dokument in die Luft hält. Unter dem Text in kyrillischen Buchstaben steht: "Bescheinigung über die Absicht, einen Asylantrag zu stellen" gefolgt von seinem Namen "Mujeeb Mouahed", dem Vermerk Geschlecht "Männlich" und dem Geburtsdatum "01.01.1995". In der nächsten Spalte, in der Angaben zur Art der vom Asylsuchenden mitgeführten Dokumente gemacht werden können, lesen wir nur einen kurzen Eintrag: "Ohne Reisepass".

Und trotzdem strahlt Mujeeb. Das Lächeln in seinem Gesicht ist ansteckend. Wir freuen uns mit ihm und klopfen ihm als Geste der Anerkennung auf die Schulter. Er hat kein Geld, er hat keinen Pass, aber hey – was soll‘s! Er hat das Dokument erhalten, mit dem er seine Reise fortsetzen kann.

7. Die überwältigende Güte der Menschen

Monatelang war die serbische Hauptstadt ein Ort, an dem der Flüchtlingszug auf der Balkanroute pausierte; ein Ort, an dem viele Flüchtlinge mehr oder weniger lange verweilten, um wieder zu Kräften zu kommen und auf Geldsendungen per Western Union von Freunden und Verwandten zu warten. In letzter Zeit, seit der Weg nicht mehr durch Ungarn sondern durch Kroatien führt, das seine Grenzen öffnete als sich die ungarischen schlossen, scheint Belgrad an Bedeutung verloren zu haben.

Wie wir während unseres kurzen Aufenthalts in Preševo beobachten konnten, ziehen die Flüchtlinge inzwischen in erster Linie direkt vom Süden Serbiens zur kroatischen Grenze nahe der Stadt Šid. Die meisten reisen per Bus, wer es sich leisten kann nimmt ein Taxi. Und der Preis? Nun, jede Fahrt wird zwischen Fahrgast und Fahrer individuell verhandelt, wobei es fast an ein Wunder grenzt, wie präzise die Chauffeure die finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Flüchtlinge einschätzen können. Die Busfahrt nach Šid kostet laut einem Vertreter des Flüchtlingskommissariats offiziell dreißig Euro. Der inoffizielle Preis, den uns die Fahrer der zahlreichen Busse anbieten, die vor der Anlaufstelle warten, liegt ein wenig darüber – bei fünfunddreißig Euro. Diese zusätzlich abgeschöpften fünf Euro vermitteln erneut, wie knallhart entlang der Route ins Glück Geschäfte gemacht werden.

Fußball spielen im Park, Serbia, Belgrade

Aber nicht alles ist derart schwarz. Überall entlang des Flüchtlingspfads haben wir zahllose selbstlose Gesten und Beispiele für menschliche Güte erlebt. Wir konnten dies in Gevgelija und Miratovac und Preševo beobachten, aber auch in Belgrad, wo wir uns einige Zeit aufhielten. Noch immer leben zahlreiche Migranten in den beiden heruntergekommenen Parks neben den Bahnhöfen, von denen Züge und Busse abfahren. "Es sind allerdings viel weniger geworden", sagt Vladimir Puača, ein Koordinator des Flüchtlings-Informationszentrums in der Nemanjina-Straße. "Jetzt sind es vielleicht nur ein paar hundert." Doch auch mit diesen Menschen sind die Parks voll belegt. Sie bewegen sich an diesem grauen Vormittag nach einer regnerischen Nacht ungehindert zwischen den üblichen Zelten, UNHCR-Decken und Abfall sind überall verteilt.

Auch vor dem Club Miksalište, der angesagtesten Konzert-Location der Stadt, haben wir größere Menschengruppen gesehen. Dank der schnellen Reaktion der Kulturinstitution Mikser House wurde der Club in den vergangenen Monaten als Flüchtlingszentrum genutzt. In dieser inoffiziellen Einrichtung engagieren sich etwa fünfzig Freiwillige aus siebzehn Ländern und bieten für alle Notleidenden eine heiße Dusche, Stillzimmer, Waschmaschinen, neue Kleider und Schuhe, Flaschen mit Wasser, Lebensmittel und andere potenziell wichtige Vorräte sowie medizinische Versorgung und wichtige Informationen.

Nach einem kurzen Besuch des Miksalište kehren wir in den Park zurück und beobachten dort eine Weile mehrere Jungen, die in einer Ecke glücklich vor sich hin kicken. Wir fragen, ob wir Fotos machen dürfen, und nur allzu bereitwillig kommen sie unserer Bitte nach. Sie legen die Arme umeinander und stehen dicht gedrängt, um alle auf das Bild zu passen. Mit leuchtenden Augen und breitem Grinsen strahlen sie in die Kamera. Die meisten Kinder, denen wir auf unserer Reise begegnet sind, schienen fröhlich und munter zu sein. Möglicherweise betrachten sie die beschwerliche Reise an ein unbekanntes Ziel, das ihren Eltern wie die Hölle auf Erden erscheinen muss, als ein aufregendes Abenteuer.

Während wir ihnen Fotos zeigen und ihre Freude und das Gelächter genießen, fragen wir uns, an welche Einzelheiten ihrer Reise sie sich als Erwachsene erinnern und aus welcher Warte sie auf ihre Odyssee ins Glück zurückblicken werden.

Auch im sogenannten Info-Park, der von der B92 Foundation im Park (der Name ist Programm) betrieben wird, erhalten Flüchtlinge Informationen. Allzeit aufmerksame Aktivisten, meist Einwohner mit arabischen Wurzeln, die Serbisch und Arabisch gleichermaßen fließend sprechen, sind jederzeit bereit, den Flüchtlingen mit Informationen und Unterstützung zu helfen. Nur eine Gruppe Afghanen, die keine der beiden Sprachen beherrschen, haben praktisch niemanden, an den sie sich wenden können. Rücken an Rücken stehen sie eng zusammen, eine Gruppe Fremder unter Fremden. Navid Kermani spricht sie in seiner Muttersprache Persisch an. Sie werden hellhörig und sie antworten ihm in Paschtu, dankbar dafür, dass wenigstens eine Person sie versteht und mit ihnen kommunizieren kann. Ihre Gesichter nehmen konzentrierte Züge an. Sie drängen sich um ihn und hören den Erklärungen, Empfehlungen und Ratschlägen interessiert und aufmerksam zu.

Der Eindruck, den wir bei unserem unmittelbaren Kontakt mit den Afghanen gewonnen haben, entspricht so gar nicht den Geschichten, die uns über diese Menschen erzählt wurden. Uns erscheinen sie freundlich, ruhig und verwirrt, vor allem aber bettelarm zu sein. Es scheint ihnen merklich schwerer zu fallen als ihren kosmopolitischeren und zweifellos reicheren syrischen Mitflüchtlingen, mit neuen und unbekannten Situationen fertig zu werden. Wir erfahren von dieser Gruppe, dass sie aus abgelegenen ländlichen Regionen Afghanistans hierhergekommen sind. Anscheinend sind sie inzwischen völlig mittellos.

Und noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass sie außerdem nicht wissen, wo sie sich aktuell befinden und wohin sie als nächstes gehen sollen. Mit der freundlichen Hilfe der Info-Park-Aktivisten kauft ihnen Navid Kermani zehn Busfahrkarten nach Šid. Die afghanischen Flüchtlinge legen in einer Geste des tiefempfundenen Danks die Hand auf ihre Brust. Dann besprechen sie in aller Ruhe untereinander, wer von den über zwanzig Mitgliedern ihrer Gruppe die Weiterreise antreten soll, und wer bleibt und auf die nächste Chance wartet. Alles geht sehr schnell und es hat nicht den Anschein, als würde einer der Zurückgebliebenen den Ausgewählten ihr Glück nicht gönnen.

Wir winken der Gruppe zum Abschied zu und machen uns auch auf den Weg. Wir fühlen uns ungeduldig und rastlos, als wären auch wir in den Sog dieser Strömung geraten, die uns fort und immer weiter fort zieht. Kurz bevor wir den Park verlassen, fällt uns eine bemitleidenswerte Figur auf, die auf einer hellrosa UNHCR-Matte zusammengerollt ist, die Decke bis über den Kopf gezogen, sodass nur zwei schmutzige und beängstigend weiße Füße zu sehen sind. Es ist, wie wir schnell feststellen, ein sehr junger Mann. Schlaftrunken und mit angsterfüllten, trüben Augen blickt er aus einem tränenverschmierten, schmutzigen Gesicht zu uns auf.

Es ist nahezu unmöglich, ein vernünftiges Wort mit ihm zu wechseln. Er ist ganz eindeutig in einem Fieberdelirium und benötigt dringend Hilfe.

Aber keiner der anderen Flüchtlinge in unmittelbarer Nähe scheint etwas über ihn zu wissen und er gehört wohl auch zu keiner der Gruppen, die sich in dem Park aufhalten. Trotzdem ist er bald von zahlreichen Leuten umringt, die sich in den verschiedensten Sprachen um eine Kommunikation bemühen und herauszufinden versuchen, wer er ist und woher er kommt.

Einer reicht ihm eine Flasche mit Wasser, ein anderer eine Schachtel mit Keksen. Dankbar nimmt er beides entgegen und klammert sich daran fest, seine Augen noch immer voller Angst und Verständnislosigkeit. Er versucht etwas zu sagen, aber es kommt kein Wort heraus. Medizinische Hilfe ist bereits unterwegs, als ihn eine der jungen Frauen, die im Info-Park arbeitet, erkennt. Es stellt sich heraus, dass es sich um einen jungen Roma handelt, einen der vielen Obdachlosen, die ohne Alternative oder Zukunft in dieser heruntergekommenen aber trotzdem belebten Gegend in der Nähe der Belgrader Bus- und Bahnhöfe leben. Die Flüchtlinge lächeln ihm dennoch verständnisvoll zu, während die Sanitäter bereits mit der ersten Hilfe begonnen haben. Denn Hilfe und Mitgefühl benötigt er in diesem Moment so dringend wie alle anderen, vielleicht sogar noch dringender.

Wir sind noch nicht viel weiter gekommen, als wir ein weiteres Beispiel dafür miterleben, wie selbst unter derart elenden Umständen menschliche Wärme und Großzügigkeit ein fast übermenschliches Ausmaß annehmen können. Am Rande des Parks treffen wir auf eine schwangere Bettlerin, die versucht, von einigen syrischen Familien, die sich auf den Bänken in der Nähe niedergelassen haben, etwas zum Essen zu erbetteln. Die verschleierten Frauen sehen die Bettlerin eine Zeitlang mitleidsvoll an. Dann sammeln sie schnell einige Waffeln, mehrere Äpfel und einen Fruchtsaftkarton zusammen, die sie selbst von einer Hilfsorganisation erhalten haben. Dieses einfache und in aller Eile geschnürte Lunchpaket wird in eine Plastiktüte gepackt und der Frau mit unverständlichen aber von Herzen kommenden Worten des Mitgefühls überreicht.

Als wir den Park endlich verlassen, fühlen wir tief im Inneren einen Funken Hoffnung, der uns davon überzeugt, dass das Gute im Menschen unauslöschlich ist.

Zelte im Stadtzentrum von Belgrad, Serbia

8. Epilog: Der Grenzübergang Berkasovo-Bapska (01.10.2015, 19.00 Uhr)

Wir sind am Ende unserer mehrtägigen Reise angekommen und wieder auf dem Weg nach Šid. Seit unserem Aufbruch ist viel geschehen und wir können dem Drang nicht widerstehen, noch einmal den Ort aufzusuchen, von dem aus wir zu unserer Reise aufgebrochen sind, welche uns zahllose neue Eindrücke beschert hat. Wir möchten noch einmal diesen schmalen Streifen pannonischen Landes zwischen Serbien und Kroatien sehen, wo wir unseren ersten Eindruck gewonnen haben.

Doch bevor wir Šid erreichen, kreuzt unseren Weg ein Bus, der Flüchtlinge den ganzen Weg von Preševo an einen anderen Grenzübergang nach Kroatien bringt – Berkasovo-Bapska. Also werfen wir kurzerhand unseren Plan über Bord und folgen dem Bus. Es ist wenige Minuten vor sieben und es wird schnell dunkel über der weiten Ebene. Die Fahrt zum Grenzübergang ist nur kurz, doch als wir ihn erreichen, ist es stockfinstere Nacht geworden.

Im unbeleuchteten Dunkel entlang der holprigen Straße erkennen wir die üblichen Zelte der humanitären und medizinischen Hilfseinrichtungen, die den Flüchtigen an allen Checkpoints und Lagern ihre Unterstützung anbieten. ROTES KREUZ, UNHCR, HCIT, WAHA – dies sind nur einige der internationalen Organisationen, die hier an der kroatischen Grenze die Flüchtlinge mit allen versorgen, was sie benötigen, um ihre Reise fortsetzen zu können. Wir folgen schweigend einer Gruppe von etwa sechzig Männern, Frauen und Kindern, die mit Essens- und Wasserrationen in der Hand auf eine Rampe zugehen.

Vor dieser steht ein einfacher Karton, auf den mit einem blauen, dicken Filzstift folgende Worte geschrieben wurden: "CROATIA – 250 M".

Wie auf Kommando bleiben sie – nur 250 Meter von Kroatien entfernt – stehen. Sie starren wortlos in die Ferne, als wollten sie versuchen, einen Blick auf das zu erhaschen, was da vor ihnen liegt, auf der anderen Seite auf sie wartet. Aber nichts ist zu sehen, absolut nichts, so undurchdringlich ist die Schwärze. Also wenden sie die Köpfe und blicken nach hinten, als wollten sie noch einmal alles in sich aufnehmen, was hinter ihnen liegt, die gesamte Reise, die sie aus ihrer Heimat hierher in die Fremde geführt hat.

Aber auch das ist ihnen nicht vergönnt, denn auch hier starren sie ins schwarze Nichts. Also beißen sie die Zähne zusammen, zurren ihr Gepäck noch einmal auf dem Rücken fest, schlingen ihre Taschen um die nimmermüden Schultern, packen ihre Koffer mit starken Händen, setzen sich ihre Kinder auf die Schultern oder ergreifen deren hoffnungsvoll ausgestreckte Hände und marschieren erst dann weiter – bewaffnet mit der blinden Hoffnung, dem trügerischen Geschenk, das Prometheus der Menschheit brachte.

An der Grenze zu Kroatien

Wir blicken ihnen noch lange nach, wie sie mutig, ruhig und stetigen Schrittes, wie alle Flüchtlinge vor ihnen, die seit Menschengedenken durch die Welt ziehen, in der Dunkelheit verschwinden, auf der nächsten Etappe ihrer langen und ungewissen Odyssee ins Glück.

Dieser Text ist erstmals in englischer Sprache auf der Webseite des Belgrader Büros der Heinrich-Böll-Stiftung erschienen.