Das Wetter vor 25 Jahren und heute

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Gemeinsame Pressekonferenz der Bürgerbewegungen und der Grünen Ost und West am 15. Oktober 1990 in Berlin. Von rechts: Christina Schenk (UFV), Friedrich Heilmann (Grüne Ost), Kathrin Menge (Initiative Frieden und Menschenrechte), Konrad Weiß (Demokratie Jetzt), Klaus Wolfram (Neues Forum), Christian Ströbele (Grüne West)

Mit dem Slogan "Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter" ziehen die westdeutschen Grünen 1990 in den Wahlkampf und fliegen aus dem Bundestag. Aber nicht nur sie sind Verlierer des Einheitstaumels, auch die Bürgerbewegungen und bürgerbewegten Parteien - das Wahlbündnis Bündnis 90 - schafft den Einzug in den Bundestag nur knapp. Der Göttinger Politikwissenschaftler Michael Lühmann über Fehler und Chancen.

Das Wetter vor 25 Jahren, es war katastrophal schlecht. So schlecht, dass Der Spiegel nur wenige Tage vor den ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR, neben dem aus heutiger Sicht interessanten Titel „Wozu noch Soldaten? Armee ohne Feindbild“, ein weiteres Thema auf den Titel hob: „Orkane, Sturmfluten, Temperaturstürze. Signale des Klimaschocks?“ In einem großen Leitartikel zum Thema wähnte Der Spiegel Klimasorgen, die unter der Parole "Der Globus ist angenagt" an den „Stammtischen der Republik“ diskutiert würden. Währenddessen lavierte der große Europäer Helmut Kohl in der Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze noch immer und die Strategieabteilung der Union überzog den Osten mit einer Diffamierungskampagne, in der die Ost-SPD wider besseren Wissens in die Nähe der SED gerückt wurde – während die tatsächlich in der Nähe der SED befindliche Ost-CDU hofiert wurde. Schließlich fürchtete man im Adenauer-Haus nichts mehr als einen Sieg der Sozialdemokratie im Osten als Ausgangspunkt eines dauerhaften, strukturellen Machtverlustes der Union.

Die vermeintliche Stärke der SPD vor allem in Sachsen und Thüringen, die Offenheit der Grenzfrage, die „SPDPDSPDS“-Schriftzüge, sie haben sich – im Gegensatz zur grünen Klimadiagnose – als teils boshafte, geschichtsvergessene, anachronistische Irrtümer erwiesen. Anders die Sorge ums Wetter, respektive das Klima. Und dennoch, im Blick zurück wird das grüne Reden vom Wetter, trotz aller inzwischen weitgehend nachvollzogenen Berechtigung, heute als der größte Irrtum grüner Wahlkampfstrategie angesehen. Als Ergebnis von grüner „Schlafmützigkeit“, einem rapiden Wechsel der politischen Agenda und einer vermeintlichen Apathie der grünen Wählerschaft, wie Hubert Kleinert 1992 resümierte, wurden die Grünen, so das Lamento, ein „Opfer der deutschen Wiedervereinigung.“

Auch auf der anderen Seite der durchbrochenen Mauer hielt sich in, wenn man so will, grün bzw. bürgerbewegten Kreisen die Euphorie bezüglich der anstehenden Einheit in Grenzen. Wortreich hatte man in den späten achtziger Jahren, analog zu den westdeutschen Grünen, die Zweistaatlichkeit innerhalb Europas verteidigt, über die Reformfähigkeit des Sozialismus sinniert – und diesen dennoch bereits de facto suspendiert. Aber, wie Bärbel Bohley einmal so schön sagte, man konnte nur bis zur Mauer gucken. Das Dahinter tat sich für manchen Bürgerrechtler und manche Bürgerrechtlerin viel zu schnell auf. Mühevoll hatte man überhaupt erst lernen müssen in der Wahrheit zu leben, beharrlich eine Gegenöffentlichkeit aufgebaut, Grenzen des Sag- und Diskutierbaren verschoben, erst im Samisdat, dann in öffentlichen Manifesten, schließlich in den turbulenten Monaten der Revolution, als Minister oder Ministerin ohne Geschäftsbereich in einer Übergangsregierung. Und auch die ostdeutschen Bürgerbewegungen redeten über das Wetter, anders als im Westen angesichts der real existierenden Umweltkatastrophe DDR mehr über konkrete Umweltprobleme.

Michael Beleites im Samisdat publizierte Studie „Pechblende“, den Pleißemarsch in Leipzig, die Etablierung der Berliner Umweltbibliothek als Ausgangspunkte einer Aufklärung über die brisante Umweltsituation in der DDR nehmend, konstituiert sich in der DDR nicht nur eine grüne Partei. Vielmehr war das ökologische Thema längst thematischer Bestandteil vieler Gruppierungen der Bürgerbewegung. Den ökologischen und sozialen Umbau forderten nahezu alle politischen Gruppierungen in den Jahren 1989 und 1990 ein, bis hin zum Demokratischen Aufbruch und der SDP beziehungsweise der SPD-Ost.

Enstehung der Grünen in Ost und West

Überhaupt spielte das Wetter vor 25 Jahren und davor eine entscheidende Rolle. Nicht zufällig jedenfalls, so könnte man argumentieren, gingen die Menschen in und um Leipzig auf die Straße, einer jener Städte, die auch aufgrund geografischer Gegebenheiten ganz besonders unter der DDR-Umweltpolitik litt, die ihre Ursachen und Auswirkungen ausgerechnet in jener Zeit hatte, in der auch die Grünen West entstanden – am Übergang der siebziger zu den achtziger Jahren: Im Zuge der Zweiten Ölpreiskrise, im Umfeld von Fortschrittskrise, der Krise der Neuen Linken und wirtschaftlichen Krisen bei gleichzeitiger Beschleunigung des sozialen Wandels und einem neuen Unsicherheits- und Angstgefühls, entlang eines Erstarkens von Wachstumskritik, neuer ökologischer Sensibilität und gesellschaftlichen Emanzipationsbestrebungen.

Gleichzeitig ging in der DDR das letzte, vielleicht das einzige goldene Jahrzehnt, in dem die Systemzustimmung nachweislich am höchsten war, zu Ende. Die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik ruinierte unter den Bedingungen der Zweiten Ölpreiskrise die Finanzen. Die folgenschwere Rückkehr vom Öl zur Braunkohle in der Energieversorgung – das sowjetische Öl wurde nun in noch größerem Maße, aber zu erheblich schlechteren finanziellen Bedingungen zu Benzin raffiniert und in Devisen umgesetzt – ruinierte am offensichtlichsten die DDR-Umwelt und kann so, wenn man der These folgen mag, über den Leipziger Smog direkt in die Revolution 1989 verlängert werden. Dennoch, auch im Osten trug die ökologische Problemlage am Wahltag keine jener Parteien in die Nähe eigener Mehrheiten, die das Thema zumindest mit auf dem Tableau hatten.

Auch hier, wie in der alten Bundesrepublik, stieß das Nicht-Reden, mindestens aber das kritische, das mahnende, das reformorientierte Reden von der Einheit an der Wahlurne auf nur wenig Zustimmung. Und so wurden auch die Bürgerbewegungen – durchaus auch unter Einschluss bürgerbewegter Parteien wie jener der Grünen, des Demokratischen Aufbruchs oder der ostdeutschen Sozialdemokratie – zu den großen Verlierern einer Einheitseuphorie, zu der indes auch Helmut Kohl anfänglich mehr getragen werden musste, als dass er diese selbst anführte. Erst bei seinem berühmt gewordenen Auftritt vor der Dresdner Frauenkirche begriff Kohl, dass der Zug der Geschichte, den er überall zu erkennen glaubte, unumkehrbar in Richtung Einheit rollte. Erst jetzt verweigerte er die Zusammenarbeit mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow und mutierte über Nacht zum Einheitskanzler; weil er, berauscht von den jubelnden Massen begriff, dass ihm das Reden von Deutschland die noch vor Monaten unwahrscheinliche, nächste Kanzlerschaft sichern dürfte.

Die Grünen in Ost und West, das Bündnis 90, sie alle ahnten, dass es am Ende immer unaufhaltsamer Richtung Einheit ging und doch verweigerten sie auf beiden Seiten, trotz aller Schattierungen, trotz manch gegenteilig geäußerter öffentlicher Stimmen, die generelle Zustimmung zur Einheit und so scheiterte die Grüne Partei West, jene erfolgreichste Partei des vorangegangenen Jahrzehnts, an der 5-Prozent Hürde, die das östliche Bündnis aus Grünen und Bündnis 90 knapp übersprang.

Die Bundestagswahlen 1998

Dennoch wurden sie, zugespitzt, nur Statthalter für die im Nachgang des Wahldebakels siegreichen Regierungsbefürworter in den Reihen der West-Grünen, die mit Joschka Fischer an der (so nicht benannten) Spitze 1998 endlich und verspätet in Regierungsverantwortung kamen. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt als das Projekt des postmateriellen Wertewandels, wie Elisabeth Noelle-Neumann in den späten neunziger Jahren konstatierte, kippte und die Weichen im Angesicht von hohen Arbeitslosenzahlen, ausgerufenem Reformstau bei gleichzeitigem Börsenboom gerade nicht in Richtung einer sozial-ökologischen Reprogrammierung der Bundesrepublik gestellt waren, sondern Richtung Liberalisierung im gesellschaftlichen Bereich, aber eben auch, im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, was manche Verwerfungen von heute erklären hilft.

Doch, die meisten werden sich erinnern, auch diese Wahl hätte für die Grünen zur Katastrophe werden können, statt vom Wetter redeten die Grünen in Magdeburg nun vom Benzin, konkret von einem Benzinpreis von 5 D-Mark. Auch wenn dies nie Beschlusslage der Partei werden sollte, wieder drohte die ökologische Zuspitzung die Grünen zu überrollen – auch wenn die zu Grunde liegende Überlegung, die Wirtschaft und den privaten Konsum zu dekarbonisieren, wie es heute wissenschaftlich benannt, zugleich immer wieder eingefordert wird, retrospektiv ebenso richtig war wie das notwendige (aber eben nicht alleinige) Reden vom Wetter 1990.

Ein ernsthaftes Auseinandersetzen mit dem Wetter blieb denn auch – trotz einiger konkreter Maßnahmen wie dem Atomausstieg – eine der großen Leerstellen grüner Politik, die erst nach dem Abgang Fischers wieder ein großes Thema werden sollte. Und dies gehört eben auch zur grünen Geschichte der Nuller Jahre, die Wiederentdeckung des Wetters befriedete die orientierungslose Partei nicht nur, sondern sie trug sie bis zum Beginn der Zehner Jahre wieder gestärkt in die Parlamente. Nicht erst nach Fukushima, wie immer wieder zu lesen ist, sondern schon 2010 begann der grüne Aufstieg zur vermeintlichen Partei eines grünen Wertewandels, der 2013 in einer jähen Enttäuschung endete. Pädophilie-Debatte, Steuerpolitik und die „Veggie-Day“-Medien-Kampagne – die Wetter-Diagnose in ihrer 2013er Variante – versagte den Grünen einen noch ein Jahr zuvor erhofften und nicht unrealistischen Stimmenzuwachs.

Lehren für die Zukunft

Die Vermutung liegt auf der Hand, dass die Lehre aus dem Reden vom Wetter nur die sein kann, nicht mehr ganz so laut von diesem zu reden. Und doch wäre dies vollkommen falsch. Denn das Reden vom Wetter, vom Klima, vom ökologischen Umbau der Gesellschaft ist in den Zehner Jahren – die grünen Wahlerfolge von 2010 und in den folgenden Jahren , aber auch die konkreten klimatischen Veränderungen zeugen davon – nicht nur politisch notwendig, sondern sichert auch künftige Zustimmung.

War die Distanz zur Einheit und manch Radikalität in der Umweltdebatte das Projekt der grünen Gründergeneration und des generationell ähnlich gelagerten Milieus, das diese trug. So hat sich in den vergangenen Jahren in Anbetracht der multiplen Krisen gerade in den jungen Generationen ein unverkrampfteres, zugleich aber einem ökologischen Fernziel verbundenes Denken breit gemacht. Urbane Gärtner/innen, transition towns, Commons, De-Growth, Repair-und DIY-Initiativen – die New School der grünen Utopie, die Debatte um das konvivialistische Manifest mag dies anzeigen, gibt der grünen Bewegung ein neues, junges Fundament. Hier kann und sollte eine grüne Partei angstbefreit und offen anknüpfen. Statt aus Angst vor Verbotsentwürfen Freiheitsdebatten anzustrengen, sollte die Partei die pragmatischen und zugleich suchenden Impulse aus der Bewegung aufnehmen und übersetzen, ohne – und dies ist vielleicht eine wichtige Lehre aus 1990, 1998 und 2013 – sogleich alle Antworten zu kennen, sogleich einfache, plakative Lösungen zu präsentieren. Sondern, anders als in den genannten Fällen, stärker in Rückkopplung mit Gesellschaft und Bewegung wieder Resonanzraum werden für eine grüne Utopie, die im Ökologismus, von dem Grüne so ungern reden, angelegt ist und die in Zeiten der Krise als Gegenerzählung so wirkmächtig sein kann.

Kurzum, das Reden vom Wetter sollte kurz vor der wichtigen Klimakonferenz von Paris und im Erstarken einer neuen weltweiten klimasensiblen Bürgerbewegung, nicht nur, aber eben auch, wieder stärker an Bedeutung gewinnen: als politische Zielvorstellung, als Friedensangebot in eine noch immer mit der Niederlage von 2013 beschäftigten Partei hinein. Und nicht zuletzt, und diese historische Anlehnung sei in der Zuspitzung erlaubt, als ein Diskurs globaler Solidarität und Verantwortung in unruhigen Zeiten, in denen gerade alle wieder von Deutschland reden, von seiner „Wettbewerbsfähigkeit“ und von seinen „besorgten Bürgern“, die sich im Angesicht weltweiter Fluchtbewegungen um den „deutschen Wohlstand“ und das „Abendland“ sorgen.

 

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