Instrumentalisierungen der Wissenschaft in Ostmitteleuropa seit 1914

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Der „Krieg der Geister“ verlief nach einer besonderen Logik

Die Wissenschaften vom Menschen entwickelten sich in Ostmitteleuropa nicht nur parallel zu den nationalen Ideologien. Sie wurden ein Teil dieser Entwicklung, indem sie Argumente für ihre politische Praxis lieferten.

Eine Antwort auf die Frage, welche Rolle der Große Krieg in der kollektiven Erinnerung in Ostmitteleuropa einnimmt, muss mit einigen wenigen Ausnahmen ziemlich nüchtern klingeln. Diese Zeit hat sich ins kollektive Gedächtnis der Polen, Tschechen, Slowaken, Weißrussen, Litauer oder Ukrainer eigentlich nicht eingeprägt. Doch nicht nur die fehlende Erinnerung an das Leiden nach dem Jahre 1914 unterscheidet Ostmitteleuropa von den etablierten Gedächtniskulturen im Westen des Kontinents. Verloren ging auch eine durchaus transnationale, faszinierende Geschichte des politischen Engagements der ostmitteleuropäischen Intellektuellen, die, je nach Perspektive, entweder als patriotische Tat oder als nationalistische Pathologie der Kultur und Wissenschaft betrachtet werden kann.

In den ersten Kriegsmonaten waren die Erfahrungen im Osten und Westen ähnlich. Die Unterschiede zwischen den beiden Hauptfronten kamen erst zum Vorschein, nachdem sich der Bewegungskrieg in Frankreich und Belgien in einen Stellungskrieg verwandelt hatte. Während sich die „Lasten des Krieges“ im Westen jetzt auf einem großen, aber begrenzten Territorium konzentrierten, tobte die Gewalt im Osten nahezu unbegrenzt. Schon die Tatsache, dass sich sehr viele verschiedene Regionen unter einer oder mehreren Okkupationen befanden, erhöhte das Leiden der Zivilbevölkerung. Aber der Krieg im Osten war nicht nur territorial, sondern auch zeitlich vom westlichen Schauplatz abweichend. Er beginnt schon mit dem ersten Balkankrieg 1912 und dauert bis in die 1920er Jahre.

Vom literarischen Konflikt zum regulären Krieg

Demzufolge verliefen auch die intellektuellen Fronten im „Krieg der Geister“ nach einer besonderen Logik. Nicht immer, oder besser gesagt, äußerst selten, deckten sie sich mit den staatlichen Grenzen. In der Regel verliefen sie eher mitten durch die Territorien der Mächte und von den wahren Frontlinien ziemlich unabhängig. Polnische und ukrainische Aktivist/innen in Wien und in Berlin trennte eine tiefe Feindschaft, obwohl beide Gruppierungen die Zentralmächte unterstützten.

Schon während des Krieges kam es zu einem polnisch-litauischen Konflikt. Auch wenn die deutsche Zensur im Königreich Polen eine rege Aktivität entwickelte, gab es genügend Anzeichen von Animosität zwischen den beiden Nationen. In den Böhmischen Ländern verfolgten die Repräsentanten der tschechischen Nationalbewegung und der Deutschen ihre „inneren Kriegsziele“, die auf die Schwächung der jeweils anderen Nationalität hinausliefen.[1] Die mehrheitlich kroatischen Politiker des Pariser Jugoslawischen Komitees machten aus ihrer Feindschaft gegenüber dem formal verbündeten Italien keinen Hehl, das sich seinerseits mit großer Zurückhaltung gegenüber Serbien verhielt.[2] Auch in Ungarn war die Einstellung zum Krieg weit vom verordneten Enthusiasmus in Zisleithanien entfernt. Eigentlich war die Front zwischen Bulgarien und Serbien eine der wenigen im Osten, an der sich der intellektuelle und der wahre Krieg deckten.

Manche von diesen ursprünglich nur in Druckwerken geführten Konflikte entpuppten sich nach 1918 als reguläre Kriege. Manche fanden auch ihre Fortsetzung in der politischen Publizistik der neugegründeten Nationalstaaten. Insofern war die „Ostfront der Geister“ eine Ankündigung der Nachkriegsordnung.

Die Exklusion des Fremden

Ob Geschichtswissenschaften, Ethnographie, Geographie oder Anthropologie – die Wissenschaften vom Menschen in Ostmitteleuropa entwickelten sich nicht nur parallel zu den nationalen Ideologien. Sie wurden ein Teil dieser Entwicklung, indem sie Argumente für ihre politische Praxis lieferten. Im Allgemeinen ging es um ein paar Dinge, um die man kämpfen zu müssen glaubte und die man vielleicht unter dem Begriff „Inklusion“ subsumieren kann: das nationale Territorium, die Bevölkerung, die sich schon jetzt oder bald in bewusste und überzeugte Patrioten umformen lässt, das Prestige der nationalen Wissenschaft.

Die Kehrseite dieses Engagements war und ist aber eine Exklusion des Fremden. Im Ersten Weltkrieg manifestierte sich der tiefere Sinn solcher intellektuellen Konstruktionen in einem einzigen Begriff: „Mongolisierung“. Die Feststellung, dass eine Nation in rassenanthropologischer Hinsicht mongolische Züge aufweise, bedeutete zugleich, dass sie nur bedingt in den Reihen der europäischen Nationen geduldet werden konnte. Damit lieferte besonders die Rassenanthropologie eine elegante Methode, die im Krieg für die Stigmatisierung des Gegners zur Anwendung kam.

 

[1] Catherine Albrecht, “The Bohemian Question,” in The Last Years of Austria-Hungary: A Multi-National Experiment in Early Twentieth-Century Europe, ed. Mark Cornwall (Exeter: University of Exeter Press, 2002), 75–95, hier 91.

[2] Janko Pleterski, “The Southern Slav Question,” in The Last Years of Austria-Hungary, 119–148.