Äthiopien nach Meles

Der verstorbene Premierminister Äthiopiens, Meles Zenawi, im Mai 2012; Bild: Lance Cheung (USDA)/flickr; Lizenz: CC-BY

30. August 2012
Patrick Berg
Tausende Menschen sammeln sich dieser Tage trotz Regens vor dem Amtssitz des Premierministers in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, um sich persönlich von Meles Zenawi zu verabschieden – dem Mann, der über 21 Jahre lang die Politik des Landes gestaltet hat. Viele gedenken dabei seiner Leistungen für die wirtschaftliche Entwicklung eines der ärmsten Länder der Welt oder seines Beitrags zum Fall des grausamen Vorgängerregimes. Doch nicht alle sind freiwillig gekommen, sondern weil sie von ihrer Bezirksverwaltung unmissverständlich dazu aufgefordert wurden – und befürchten, dass ihre Abwesenheit unangenehme Konsequenzen haben könnte. Wieder andere tragen sich gar nicht erst in die überall ausliegenden Kondolenzbücher ein, sondern erinnern sich an Freunde und Angehörige, die unter dem Regime der Ethiopian People‘s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) ihre politische Stimme verloren, Jahre im Gefängnis oder im Exil verbracht haben und von Folter gezeichnet sind.

Die äußere Ruhe trügt

Trotz seines zunehmend autokratischen Führungsstils und einer immer stärkeren Einschränkung politischer Rechte – insbesondere seit den Wahlen von 2005 – hielt sich die westliche Welt mit Kritik an Meles‘ Regime zurück. Teilweise mag dies einer Bewunderung für die ernsthaften und durchaus erfolgreichen Bemühungen um Fortschritte im Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie in der Wirtschaftspolitik geschuldet sein. Wichtiger jedoch dürften realpolitische Überlegungen gewesen sein, die Äthiopien als vermeintlich unverzichtbaren Partner zur Stabilisierung der Sicherheitslage am Horn von Afrika und zur Eindämmung fundamentalistischer Islamisten in der Region schätzten. Dabei wurde gerne übersehen, dass die vermeintliche Stabilität im Land der äußeren Ruhe eines Dampfdrucktopfs gleicht.

Eine ganze Reihe von Spannungslinien durchziehen die äthiopische Gesellschaft. Große Bevölkerungsgruppen sind vom Zentrum der Macht ausgeschlossen. Meles hatte das Gefahrenpotential dieser langen Geschichte der Unterdrückung klar erkannt und mit seiner Machtübernahme Anfang der 1990er Jahre den äthiopischen Einheitsstaat in eine Föderation ethnisch organisierter Regionen umgewandelt. Die Reformen blieben jedoch oberflächlich, die Regionen sind finanziell stark auf Transfers der Zentralregierung angewiesen und die Führungsspitzen der Regionalparteien sind meist von der Hauptstadt eingesetzte Vertraute ohne eigene Machtbasis.

Ein austariertes Machtsystem, für das Meles unersetzlich ist?

Meles nutzte den Mythos des erfolgreichen Rebellen, sein unbestreitbares Charisma und politisches Geschick, um sich im Zentrum eines fein austarierten Machtsystems als unersetzlich zu inszenieren. Seine Ankündigung, sich 2010 aus der aktiven Politik zurückziehen zu wollen, sandte Schockwellen durch die Partei – in der Befürchtung, dass niemand außer ihm in der Lage sein würde, die Rivalitäten innerhalb der Partei zu kontrollieren. Meles erklärte sich auf intensives Drängen schließlich bereit, noch einmal zur Wahl anzutreten. Mit seinem Tod sind diese Befürchtungen wieder aktuell geworden. Meles Nachfolge ist noch längst nicht geregelt. Zwar wird verlautbart, sein bisheriger Stellvertreter Hailemariam Desalegn solle den Posten des Premierministers dauerhaft übernehmen. Doch die für seine Vereidigung notwendige Parlamentssitzung wurde kurzfristig und ohne Angabe eines neuen Termins verschoben.

Hailemariam Desalegn besitzt keines der Merkmale der bisherigen Führungsclique. Er stammt aus einer vernachlässigten Region im Süden des Landes, gehört als Protestant keiner der beiden dominierenden Glaubensgemeinschaften an und war vor allem kein aktiver Kämpfer im Befreiungskampf gegen das von der EPRDF überworfene Derg-Regime. Als Zögling von Meles verfügt er über wenig eigenen Rückhalt, der ihn in der Auseinandersetzung mit den starken Fraktionen stützen könnte. Sollte er tatsächlich – wie angekündigt – zum Premierminister gewählt werden, wird er kaum eigene Akzente setzen können, sondern vielmehr das öffentliche Gesicht für mächtigere Hintermänner sein.

Wer das sein wird, ist noch längst nicht entschieden. Die Regierungspartei EPRDF ist ein Zusammenschluss von vier Regionalparteien (Tigray People's Liberation Front, Oromo People's Democratic Organization, Amhara National Democratic Movement und Southern Ethiopian People's Democratic Movement). Meles TPLF hat die anderen Parteien ursprünglich mit aus der Taufe gehoben und die EPRDF lange dominiert. Jetzt wittern die bislang vernachlässigten Regionen ihre Chance. Auch die TPLF selbst durchzieht seit einem Machtkampf im Jahr 2001 ein tiefer Graben. Die damals unterlegene Fraktion hat sich hinter den Kulissen längst in Stellung gebracht. Sie vereint die Veteranen des tigrayischen Befreiungskampfs, denen ihre Region im äußersten Norden wichtiger ist als der Rest des Landes – und die im Grenzkrieg mit Eritrea (1998-2000) die militärische Überlegenheit Äthiopiens gerne zu einem Regimewechsel im Nachbarland genutzt hätten. Entsprechend gut sind ihre Kontakte zum tigrayisch dominierten Sicherheitsapparat.

Inflation und Einschränkungen der Pressefreiheit: Der Unmut in der Bevölkerung wächst

Auch die Unruhe in der Bevölkerung wächst. Das vielbeschworene zweistellige Wirtschaftswachstum hat für die wenigsten Menschen zu einer Verbesserung ihres Alltags geführt. Eine galoppierende Inflation mit Spitzenwerten von über 40 Prozent ließ die Realeinkommen der Ärmsten sinken, während die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft. Eine steigende Steuerlast und großangelegte Umsiedlungsprogramme haben in den vergangenen Monaten großen Unmut gegen die Regierung hergerufen. Die weitgehende Zerschlagung der politischen Opposition und die faktische Abschaffung der Pressefreiheit verbannten die Unzufriedenheit der Bevölkerung zwar aus der Öffentlichkeit, doch wächst sie dafür umso stärker. Da andere Kanäle des friedlichen Protests verbaut sind, gewinnen religiöse Identitäten zunehmend an Bedeutung – und die Regierung fürchtet um ihren Einfluss. Bereits seit Monaten gibt es Proteste der Muslime gegen eine Einmischung des Staats in die Wahl für den Islamischen Rat. Ähnliches ist auch bei der Neubesetzung des jüngst verstorbenen Oberhaupts der Orthodoxen Kirche Äthiopiens zu erwarten.

Eines ist sicher: Es gibt derzeit niemanden in Äthiopien, der die diversen Machtansprüche, Interessen und Emotionen des Landes mit der Autorität eines Meles Zenawi koordinieren könnte. Die neue Führung wird in jedem Fall aus einer schwächeren Position agieren und sich einer Vielzahl lange unterdrückter Forderungen – von innerhalb und außerhalb der Partei – stellen müssen. Zugleich besteht die reale Gefahr, dass diese Forderungen mit noch mehr Vehemenz als bisher unterdrückt werden.

Eine Chance für behutsame Reformen

Noch ist die neue Führung aber nicht gefunden - und die momentane Ungewissheit bietet auch die Chance für eine ganz andere Entwicklung: einen behutsamen Reformprozess, der sich der Vielseitigkeit des Landes öffnet, Raum für die Entwicklung politischer Alternativen schafft und auf einen Ausgleich durch Dialog setzt. Zivilgesellschaft und Opposition haben im Vorfeld der Wahlen von 2005 bewiesen, dass sie dazu bereit sind, doch die Erinnerung an das damals harte Vorgehen gegen friedliche Demonstrationen hält viele davon ab, sich jetzt öffentlich zu engagieren. Nötig ist die Schaffung eines geschützten Raums, in dem mit der Regierung über eine schrittweise Einführung wirklich demokratischer Partizipation gesprochen werden kann. Als erster Schritt müssten die repressiven Gesetze der letzten Jahre zurückgenommen oder grundlegend reformiert werden – insbesondere das die Meinungsfreiheit beschränkende Anti-Terror-Gesetz und das Gesetz zur Regelung zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Die internationale Gemeinschaft kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie schnell ihre Unterstützung für einen solchen Reformprozess deutlich macht und ihn gegenüber der neuen äthiopischen Führung einfordert. Verpasst sie diese Chance, werden sich die Fronten weiter verhärten und der Dampfdrucktopf der äthiopischen Gesellschaft auf noch größerer Hitze weiterkochen und in absehbarer Zeit explodieren. Die kurzfristig aufrecht erhaltene Fassade eines stabilen Äthiopiens wird dann in sich zusammenfallen und nicht nur das Land selber in eine tiefe Krise stürzen, sondern auch die fragilen Friedensprozesse in der Region – in Somalia und im Südsudan – schwer belasten.


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Weitere Informationen:


Patrick Berg
ist Leiter des Landesbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Addis Abeba, Äthiopien.