Brasilien: Gewalt in sozialen Netzwerken soll Frauen aus Politik fernhalten

Hintergrund

Frauen in der brasilianischen Politik erfahren massive Gewalt in den sozialen Netzwerken. Machismo und Frauenfeindlichkeit dienen der Rechten zum Machterhalt. Manuela D’Ávila berichtet von ihren Erfahrungen als Vizepräsidentschaftskandidatin bei den Wahlen 2018 sowie als Abgeordnete des brasilianischen Nationalkongresses.

Versammlung von Menschen in Brasilien unter dem Santa-Tereza-Viadukt in der Innenstadt von Belo Horizonte, um der vor einem Jahr ermordeten Marielle Franco und des Fahrers Anderson Gomes zu gedenken.

Wahluntersuchungen deuten darauf hin, dass sich die Wahlentscheidungen von Frauen und Männern seit 2018 verändert haben. Während im Juli 2018 22% der Männer angaben, für Bolsonaro stimmen zu wollen, taten dies nur 7 % der Frauen [1]. Im Oktober 2018 ergab eine weitere Studie, dass die Absicht, Bolsonaro zu wählen, unter der männlichen Wählerschaft bei 37% lag. Mit 21% lag diese Zahl unter den Frauen nur bei knapp der Hälfte, was für  Bolsonaro rechnerisch eine Stimmengleichheit mit der Liste ergab, auf der ich als Vizepräsidentschaftskandidatin von Fernando Haddad (von der Arbeiterpartei PT bei den Präsidentschaftswahlen 2018) stand, der in dieser Umfrage 22% erreichte [2]. Im Jahr 2022 wiederholt und verstärkt sich dieser Unterschied: Während bei den Männern Lula und Bolsonaro bei den Stimmen (in den Umfragen) gleichauf liegen, besteht bei den Frauen ein großer Unterschied in der Präferenz: 51 % der Frauen würden für Lula, 25 % für Bolsonaro stimmen [3].

Eine von BBC Brasil durchgeführte Erhebung zeigt, dass Fernando Henrique Cardoso nach den damaligen Prognosen von Datafolha die Wahlen von 1994 und 1998 bei den Wähler/innen beider Geschlechter gewinnen würde. Dies wiederholte sich nach Angaben desselben Instituts bei Luiz Inácio Lula da Silva in den Jahren 2002 und 2006 und nach Angaben von Ibope bei Dilma Rousseff in den Jahren 2010 und 2014.

Der Wahlprozess 2018 war zudem von der bis dahin größten gesellschaftlichen Mobilisierung in der Geschichte der Frauenbewegung geprägt, die unter dem Motto #elenão (Er nicht) über soziale Netzwerke organisiert und in über 100 brasilianischen Städten durchgeführt wurde. Diese Mobilisierung vereinte Wählerinnen aus allen politischen Spektren und wurde so zum ersten Versuch, eine breite politische Geschlossenheit gegen die vom damaligen Präsidentschaftskandidaten Jair Bolsonaro vertretene Ultrarechte herzustellen. Dieser Bewegung widerfuhr indes eine Art historische Löschung, was meiner Meinung nach neben dem strukturellen Machismo, der die gesellschaftlichen Beziehungen in Brasilien charakterisiert, auch auf die Unkenntnis über die Funktionsweise der sozialen Netzwerke zurückzuführen ist. Zum damaligen Zeitpunkt, Mitte 2018, wussten die Parteispitzen, die gegen die Kandidatur Bolsonaros Stellung bezogen, kaum etwas über Desinformation und Intoleranz im Internet. Dementsprechend wenig wurde beides thematisiert. Die Verantwortung für die wachsende Popularität Bolsonaros in der Endphase des Wahlprozesses wurde daher nicht den Fake News von ihm, sondern der Bewegung zugeschrieben.

Es stimmt, dass Bolsonaro 2018 in der Stichwahl zum Präsidenten Brasiliens gewählt wurde, richtig ist aber auch, dass bei dieser Wahl 77 Frauen in die Abgeordnetenkammer gewählt wurden, was einen Anstieg von 51% im Vergleich zur vorherigen Wahl bedeutet. Zudem wählte die Bevölkerung 161 weibliche Abgeordnete in die Gesetzgebenden Versammlungen/ Parlamente (der brasilianischen Bundesstaaten), ein Anstieg von 41,2 % im Vergleich zu 2014 (TSE). Auch wenn wir Frauen noch immer zu wenige sind: Wir waren nie so zahlreich.

Diese drei Faktoren deuten darauf hin, dass die Meinungen von Frauen und Männern über die Richtung, in die sich das Land entwickeln soll, auseinanderklaffen. Einerseits gab es noch nie eine derartig starke Beteiligung der Frauen, andererseits, so die Anthropologin Rosana Pinheiro Machado, „ist es unmöglich, die ‚Krise des Machos‘ von der Krise der Wirtschaft zu trennen. Die Wirtschaftskrise bringt die Rolle des Mannes als Versorger ins Wanken, die auch durch den Aufstieg der Frauen bedroht ist“. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, dass sich immer mehr brasilianische Männer mit einem Präsidenten identifizieren, der sich explizit frauenfeindlich äußert.

Geschlechtsspezifische Gewalt als Methode zur Festigung der Macht

Es ist denkbar, dass die Wahl eines offen frauenfeindlichen Präsidenten im Jahr 2018 eine der Folgen jenes Prozesses ist, der zwischen 2014 und 2016 mit der Nichtanerkennung des Sieges von Dilma Rousseff und ihrer Amtsenthebung ohne Verstoß gegen ihre Amtspflichten seinen Anfang genommen hat. Wir haben damals erlebt, wie Machismo und Frauenfeindlichkeit als Elemente der Mobilisierung und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zur Legitimierung eines rechtsgerichteten politischen Projekts dienten. Danach haben wir den schlimmsten und symbolträchtigsten Gewaltakt in der aktuellen brasilianischen Politik miterlebt: die Hinrichtung der Stadträtin Marielle Franco am 14. März 2018. Vier Jahre später wissen wir noch immer nicht, wer den Mord an Marielle Franco in Auftrag gegeben hat, aber wir wissen, dass ihre Ermordung eine Art Gespenst ist, das uns alle, die wir weiterkämpfen, umschleicht. Die Erinnerung an Marielle Franco wird auch über ihren Tod hinaus permanent geschändet: In den sozialen Netzwerken, auf den Straßen und in den Parlamenten lösen die Ultrarechten einander mit Beleidigungen und Angriffen ab.

Die Gewalt wird als eine Methode derer, die sich vom politischen Aufstieg sowie der Wahl- und Politikentscheidungen der Frauen, bedroht fühlen, eingesetzt. In einem Artikel, der in dem von mir herausgegebenen Buch „Sempre foi sobre nós – relatos de violência política de gênero“ („Immer ging es gegen uns – Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik") [4] veröffentlicht wurde, erwähnt Dilma Rousseff eine Passage von Kate Manne. Genauso naiv sei die Vorstellung, Misogynie als Hass und Abneigung gegen alle Frauen zu interpretieren. Denn in Wirklichkeit richtet sie sich nur gegen jene Frauen, die es wagen, gegen die herrschenden Normen (z.B. das Macht nur von Männern ausgeübt werden darf) aufzubegehren. Die Philosophin Marcia Tiburi sagt: „Mit Machismo zu werben ist die Form des Machismo im Zeitalter der auf Werbung reduzierten Politik (...) In der üblichen Macho-Politik mussten die Männer nur untereinander streiten. Wenn Frauen auf den Plan treten, die ihre Positionen bedrohen oder mit einer anderen Art von Politik drohen, gehen die Männer zu jener Gewalttätigkeit über, die Teil ihrer Geschichte und wesentlich für die politische Performativität des Augenblicks ist. (...) Charakteristisch für den grenzwertigen Macho ist sein frauenfeindliches Gebrüll, das ihn ins Scheinwerferlicht rückt.“ Dieses frauenfeindliche Gebrüll bezeichnen wir als geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik. Sie geschieht in den Parlamenten, auf den Straßen und vor allem in den sozialen Netzwerken. Es gibt keine Möglichkeit, sie davon trennen. Der Tod von Marielle Franco ist Futter für die Monster im Internet, und die Monster im Internet sind Futter für die Aggressoren auf der Straße.

Konkrete Angriffe auf mich

Laut einer Erhebung von MonitorA, einem Projekt von AzMina Magazine und InternetLab, die zwischen dem 15. und 18. November (2018) 347.400 Tweets ausgewertet haben, in denen 58 Kandidat/innen der zweiten Wahlrunde erwähnt wurden, waren 90% der Angriffe gegen mich gerichtet, und das allein auf Twitter. Facebook wurde von der Studie nicht erfasst. Dank einer Gerichtsentscheidung wurden 2018 73 Posts entfernt, allerdings nachdem sie zuvor bereits mehr als 12 Millionen Menschen erreicht hatten. Aufgrund einer weiteren Gerichtsentscheidung mussten 2020 Fake-Posts auf Facebook gelöscht werden. Diese wurden jedoch bereits von 500.000 Menschen angesehen. Dabei hat die Justiz im Falle von Facebook lediglich die Entfernung komplett falscher Nachrichten angeordnet, nicht aber anderer frauenfeindlicher Inhalte, die sich auf meinen Körper, meine Haare und mein Privatleben bezogen. Ich glaube daher, dass zwischen den Jahren 2018 und 2020 die geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik zugenommen hat. Wir können sagen, dass das Bild der Zielpersonen, gegen die sich die Gewalt in der Politik insbesondere über Fake News richtet, permanent und immer radikaler, zerstört wird. Das bedeutet, dass sie, als sie mich 2020 anzugreifen begannen, bereits von einem negativen, durch Hunderte von früheren Angriffen aufgebauten Bild von mir ausgingen.

Darüber hinaus fühlen sich unsere Aggressoren jedes Mal, wenn geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik gesellschaftlich legitimiert wird, wenn sie also mit einem Mandat belohnt oder nicht bestraft werden, bestätigt, und sie werden dadurch noch gewalttätiger. Nach der Wahl 2020 dachte ich beispielsweise, dass es lange dauern würde, bis eine in der Öffentlichkeit stehende Frau vergleichbare Gewaltsituationen wie ich erleben würde und zumindest nicht im institutionellen Umfeld. Nur wenige Tage später wurde jedoch die Abgeordnete Isa Penna (PCdoB-SP) von dem Abgeordneten Fernando Cury (UB-SP) im Plenum der Gesetzgebenden Versammlung von São Paulo an den Brüsten begrapscht. Als sie dies denunzierte, musste sie vor dem Plenum um Ruhe bitten, dass der von ihr erlittenen und hinlänglich dokumentierten Gewalt gegenüber gleichgültig war. Cury wurde sein Abgeordnetenmandat nicht entzogen. Stattdessen war mit der Gewalt gegen Isa Penna innerhalb des Parlaments eine neue Grenze überschritten worden.

Natürlich haben die feministischen Bewegungen und die Frauenorganisationen ihre Instrumente zur Denunzierung ausgebaut und ihre Mobilisierungen intensiviert. Heute werden die Begriffe „geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik“ und „Fake News“ häufig verwendet, während sie bis 2018 ignoriert wurden. Im Jahr 2021 hat der Nationalkongress ein Gesetz verabschiedet, das geschlechtsspezifische Gewalt unter Strafe stellt und das sich auf die Wahlen im Jahr 2022 auswirken könnte. Allerdings ist bisher noch nie jemand für die an uns begangenen Verbrechen bestraft worden. Wie also sollen wir daran glauben können, dass wir in einem Land, in dem der Auftraggeber der Ermordung von Marielle Franco noch immer auf freiem Fuß ist, die Mechanismen zur Eindämmung der geschlechtsspezifischen Gewalt in der Politik stärken werden?

Meiner Ansicht nach ist ein Verständnis dafür vonnöten, dass ein echter Wandel in der Politik (nur) über eine massive politische Beteiligung von Frauen erfolgen kann und dass geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik, in den sozialen Netzwerken und auf der Straße ein Instrument ist, um uns (aus der Politik) fernzuhalten und so diesen Wandel zu verhindern. Wenn nicht breitere Teile der Gesellschaft fordern, dass Frauen als Bürgerinnen angesehen werden, ist ein anderes virtuelles Umfeld als das heute existierende kaum vorstellbar.

Aus dem Portugiesischen von Barbara Leß-Correia Mesquita. 


[1] Ideia Big Data. Studie, durchgeführt zwischen dem 20. und 23. Juli 2018. Die Studie wurde beim Obersten Wahlgericht (TSE) unter der Kennnummer BR-04178/2018 registriert.

[2] DataFolha. Studie, durchgeführt zwischen 26. und 28. Juli 2018, registriert beim Obersten Wahlgericht (TSE) unter der Nummer BR-08687/2018.

[3] FSB Studie, durchgeführt zwischen dem 27. und 29. Mai 2022. Registriert beim Obersten Wahlgericht (TSE) unter der Nummer BR - 03196/2022

[4] Sempre foi sobre nós – relatos de violência política de gênero (Immer ging es gegen uns – Berichte über geschlechtsspezifische Gewalt in der Politik). Herausgegeben von Manuela d'Ávila. 2. Auflage - Rio de Janeiro: Rosa dos Tempos, 2022.