El Salvador und SARS-CoV-2: Umfassende Hilfsprogramme, eingeschränkte Verfassungsrechte

Interview

El Salvador reagierte zwar mit umfassenden Ausgangsbeschränkungen und einer Bonuszahlung für die Bevölkerung relativ schnell auf die drohende Gefahr des Virus. Doch Bukeles Regierung agiert immer anti-demokratischer, autoritärer und militarisiert mit der Pandemie zunehmend das öffentliche Leben. Mit der expliziten Verweigerung der Anordnung des Verfassungsgerichts am 17. April, die individuellen Grund- und Freiheitsrechte auch in Zeiten der Bekämpfung der Pandemie einzuhalten, scheint eine rote Linie überschritten. Ein Interview mit Hans-Georg Janze, Leiter unseres Büros in San Salvador.

Mitglieder der Streitkräfte und der Nationalen Zivilpolizei
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Mitglieder der Streitkräfte und der Nationalen Zivilpolizei besichtigen vor der Ankündigung des Präsidenten die Plaza Barrios im historischen Zentrum von San Salvador.

Knut Henkel: Anders als in Mexiko oder Brasilien wurden in Mittelamerika sehr schnell Notmaßnahmen gegen die Verbreitung von SARS-CoV-2 initiiert. Vorreiter war El Salvadors Präsident Nayib Bukele. Wie ist er vorgegangen?

Hans-Georg Janze: Richtig, Präsident Nayib Bukele war der erste, der nicht nur drastische Maßnahmen ergriff, sondern auch an seine Amtskollegen in den Nachbarländern appellierte, schnell zu agieren. El Salvador hat am 11. März die Quarantäne ausgerufen und die Grenzen geschlossen. 

Alle Menschen, die danach an den Grenzen aufgegriffen wurden oder mit den letzten Fliegern in San Salvador eintrafen, wurden in staatliche Quarantäne-Einrichtungen, Centros de Contención, geschickt. Nicht für zwei, sondern für vier Wochen. Derzeit sind in 100 Einrichtungen 4.400 Menschen untergebracht.

Die Regierung hat früh erkannt, welche Risiken mit SARS-CoV-2 auf El Salvador zukommen, umgehend reagiert und zugleich angekündigt, dass es auch Fehler geben werde. Die Notstandsgesetze, die auch den Einsatz des Militärs ermöglichen, passierten am 14. März das Parlament und wurden Anfang April bis zum 28.4. verlängert.

Wie wird die Quarantäne durchgesetzt?

Polizei und Militärs kontrollieren Autos wie Fußgänger. Landesweit sind rund 700 Menschen wegen Quarantäne-Verstößen sogar inhaftiert worden. Das schreckt ab. Vorschrift für alle El Salvadorianer/innen ist es so wenig wie möglich das Haus zu verlassen, es sei denn sie arbeiten in existentiell wichtigen Berufen. Der Gang zum Supermarkt, zur Bank, zur Apotheke ist erlaubt – aber eben nicht mehr. Wir leben in einer partiellen Vollzeit-Quarantäne.

Bukele ist seit Februar 2019 im Amt und zeigte im vergangenen Jahr immer wieder einen autoritären Politikstil und demonstrierte seine Nähe zum Militär. Zieht sich diese Linie in der Krise weiter?

Die Quarantäne hat de facto zur Militarisierung des öffentlichen Lebens geführt. Die Armee und die Polizei sind sowohl auf den Hauptstraßen El Salvadors, als auch auf den Überlandstraßen omnipräsent. Zudem riegeln sie die Zugänge zu den marginalisierten – oft von Banden kontrollierten – Siedlungen ab und bewachen Banken, Märkte und Supermärkte. Die Regierung agiert autoritär. Ihr zentrales Argument lautet, sie schränke Verfassungsrechte ein, um Menschenleben zu retten. 

Wie gut oder wie schlecht ist das Gesundheitssystem des Landes aufgestellt? Laut WHO-Statistik kommen 1,3 Krankenhausbetten und 1,92 Ärzte auf 1.000 Einwohner/innen – das ist deutlich unter den WHO-Empfehlungen. 

El Salvador ist eines der ärmsten Länder weltweit und das manifestiert sich auch in der Gesundheitsversorgung. Das Gesundheitssystem ist teilprivatisiert, das heißt den öffentlichen Kliniken stehen meist besser ausgestattete Privathospitäler gegenüber. Deren Angebot ist auf die Bedürfnisse der vermögenden Gesellschaftsschichten zugeschnitten. Mit anderen Worten: El Salvador ist auf eine Pandemie nicht vorbereitet und versucht nun nachzubessern.

Derzeit wird eine neue öffentliche Klinik mit 2.000 Betten, darunter 300 Intensivbetten, aus dem Boden gestampft. Ein ambitioniertes Projekt im Wettlauf mit der Zeit. Die Regierung versucht die Kapazitäten zu erweitern, um mehr Leute behandeln zu können. Doch vor allem in den ländlichen Regionen sind die Voraussetzungen besorgniserregend. 

In Ecuador greift der Staat auf Betten in Privatkliniken bisher nicht zu. Ist das in El Salvador anders?

Ja, die Dekrete aus dem Gesundheitsministerium verpflichten die Privatkliniken dazu, die Betten zur Verfügung zu stellen und ihre Türen für alle zu öffnen. 

Gibt es wie in anderen Ländern bestimmte Regionen, in denen sich die derzeit offiziell 164 (Stand Do. 16. April) Infizierten konzentrieren? 

In El Salvador sind Menschen bisher in vier der vierzehn Provinzen positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden. Der Virus hat sich noch nicht im ganzen Land verbreitet – das ist positiv. Allerdings sind die Testkapazitäten gering. Derzeit können 400 Tests pro Tag gemacht werden. Begonnen haben wir mit zehn Tests und Ziel ist nun, diese Zahl auf 1.000 Test pro Tag zu steigern. 

Bisher sind sechs Menschen an Covid-19 verstorben und das ist im regionalen Vergleich mit Honduras, Guatemala und Costa Rica ein guter Wert. Wie die Situation in Nicaragua aussieht, wissen wir nicht so genau. Offizielle Informationen über Infektionszahlen gibt es nicht, das Regime von Daniel Ortega und seiner Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo hat keine Quarantäne oder andere Schutzmaßnahmen angeordnet. 

Nachdem Ortega mehr als einen Monat von der Bildfläche verschwunden war, verkündete er auf einer Pressekonferenz, dass von den 1.237 – zwischen dem 11. März und dem 15. April  - verstorbenen Menschen in Nicaragua, angeblich nur eine Person am Coronavirus gestorben sei. Seine Abwesenheit erklärte er nicht.

Anders als in den Nachbarländern wurde die Quarantäne in El Salvador mit einem weitreichenden Hilfsprogramm abgefedert. Greift das?

Ja, mittlerweile schon. Im Zentrum des Hilfspakets steht die Auszahlung von 300 US-Dollar an alle Familien, die weniger als 250 Kilowattstunden Strom im Monat verbrauchen - also Kleinverbraucher. Das betrifft rund 1,5 Millionen Haushalte, rund 70 Prozent der 6,7 Millionen Einwohner/innen und soll ihnen über die ursprünglich für einen Monat verhängte Quarantäne helfen. Das ist beispiellos in der Region.

Aber die Auszahlung verlief chaotisch. Es gab einem Run auf die Banken – das System brach zusammen und der nötige Abstand, das social distancing, wurde nicht immer eingehalten. Mittlerweile läuft die Auszahlung geordnet ab. Generell gilt, dass die Regierung schnell agiert und dabei improvisiert. Dabei kam es zu Fehlern, die aber weitgehend korrigiert wurden.

Wie weit kommt eine Familie mit diesen 300 US-Dollar – deckt die Summe die Lebenshaltungskosten für einen Monat?

Ja durchaus, denn parallel wurde die Zahlung des Wasser-, Strom- und Telefon- bzw. Internetzugangs ausgesetzt und auf die Zeit nach SARS-CoV-2 verschoben. Der dreimonatige Aufschub gilt auch für die Bedienung von Krediten und die Zahlung der Mieten. Insgesamt ist das ein umsichtiges Hilfsprogramm, das die Voraussetzungen schafft, damit die Leute zuhause bleiben. 

Das entscheidet über den Erfolg der Quarantäne, weil in der gesamten Region das Gros der Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet, auf den Straßen und Märkten. Zwar gab es Proteste, aber auf niedrigem Niveau. Nun läuft alles auf Sparflamme.

Ein positiver Nebeneffekt der Maßnahmen ist das Sinken der Mordrate: früher wurden zehn Morde pro Tag registriert; heute vergehen zwei oder mehr Tage ohne einen einzigen Mord. 

Erreicht das Hilfsprogramm alle sozial Benachteiligten? 

Nicht alle, deshalb hat die Regierung parallel zur Verlängerung der Quarantäne am 6. April bekanntgegeben, dass nachgebessert wird. 100.000 Menschen, die im staatlichen Register nicht geführt waren, sollen den Bono über 300 US-Dollar ebenfalls erhalten. Ein Beispiel für das permanente Nachjustieren. 

Präsident Nayib Bukele hat dem Lebensmittelhandel im Fall von Preiswucher Verstaatlichung angedroht. Zeigt das Wirkung?

Ja, generell sind die Preise stabil. Zudem scheint es bisher keine Engpässe bei der Versorgung mit importierten Grundnahrungsmitteln aus den USA, Guatemala und Honduras zu geben. 

Woher kommen die 400 Millionen US-Dollar für die soziale Abfederung der Quarantäne und kann die Regierung parallel zur Verlängerung der Quarantäne noch einmal nachlegen?  

Das Geld stammt von der Interamerikanischen Entwicklungsbank, die Kreditaufnahme wurde vom Parlament abgesegnet und Präsident Bukele hat bereits signalisiert, dass weitere Zahlungen erwogen werden. Das erhöht die bereits astronomisch hohen Auslandsschulden El Salvadors, aber die guten Kontakte zur US-Administration dürften das absichern. 

Zeigen sich die Eliten des Landes solidarisch und spenden? Ist Schuldenerlass ein Thema?

Hier und da wird gespendet, Solidarität ist im Alltag durchaus zu beobachten, ein Schuldenerlass der hohen Staatsschulden (ca. 49 Prozent des Bruttonationaleinkommens) ist in San Salvador aber kein Thema. Hier prägt die Debatte über die Steuerreform das politische Geschehen. 

Realität ist, dass die Elite des Landes aufgrund von Steuerschlupflöchern und Sonderregelungen kaum Steuern zahlt und die Diskussion hat in den letzten Wochen an Fahrt aufgenommen. Ob das Thema allerdings auf Nayib Bukeles politischer Agenda steht, wage ich zu bezweifeln.

Gibt es Solidarität zwischen den Ländern der Region, werden Medikamente, Equipment und Schutzutensilien beispielsweise gemeinsam eingekauft?

Nein, leider nicht. Eine derartige Kooperation kann ich mir am ehesten zwischen El Salvador und Guatemala vorstellen, Nicaragua und auch Honduras stehen da eher im politischen Abseits. Costa Rica spielt hingegen ökonomisch und sozialpolitisch in einer anderen Liga. Mehr Kooperation wäre wünschenswert, ist aber utopisch. 

Haben die USA die Abschiebungen nach El Salvador aufgrund der Pandemie storniert?

Nein, mindestens ein vollbesetzter Flieger kommt pro Woche in San Salvador an. Das Infektionsrisiko fliegt mit und die Regierung Bukele versucht es zu reduzieren. Seit Mitte März landen alle Deportierten für vier Wochen in staatlichen Quarantäne-Einrichtungen. Das ist obligatorisch. 

Trügt das Bild, dass alle Entscheidungen über Präsident Nayib Bukele laufen?

Die Teleconferencias erwecken genau den Eindruck. Da sitzen die Minister an Tischen, die schräg auf den Präsidenten zulaufen und Nayib Bukele ist der einzige, der spricht. Er inszeniert sich als der Kopf, als zentrale Instanz und es gibt bisher keine wissenschaftlichen Beiräte oder Kommissionen, die dort auftreten. Die Entscheidungsprozesse sind vollkommen intransparent. Immerhin wurde am 7. April die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirats angekündigt. 

Präsident Nayib Bukele regiert bisher ohne eigene parteipolitische Basis. Könnte ihm die Pandemie politischen Rückenwind bescheren?

Ich denke, dass er die Kongresswahlen im Frühjahr 2021 im Blick hat. Da wird er mit seiner Partei Nuevas Ideas, die bisher nicht im Parlament vertreten ist, antreten. Die Wahlen könnten die politische Landschaft nachhaltig verändern. Bisher ist er von der Zustimmung der beiden großen Parteien – Arena und FMLN – abhängig, die Regierung versucht oft, seine Politik über Präsidialdekrete durchzusetzen. Eine eigene parlamentarische Mehrheit wäre Wasser auf die Mühlen seines autoritären Politikstils. 

Bisher bildet das Parlament ein Gegengewicht und hat nach harten parlamentarischen Debatten den Ausnahmezustand abgemildert, zahlreiche Korrekturen durchgesetzt. Noch hat El Salvador also ein irgendwie funktionales System von „Checks und Balances“, welches Bukeles weitergehende Ambitionen de facto bislang beschränkt. Das könnte sich mit den Wahlen radikal ändern.

Die Beschneidung von Verfassungsrechten im Kontext des Ausnahmezustandes wird von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch zunehmend kritisiert. Anfangs gehörten auch Journalisten und Journalistinnen nicht zu den Berufsgruppen mit Passierschein. Nayib Bukele hat darauf nur mit einer zynischen Bemerkung reagiert. Sind das Indizien für diese Tendenz zum Autoritären?

Ja, das geht absolut in diese Richtung; jedwede Kritik an Bukeles Entscheidungen wird insbesondere in den sozialen Medien verspottet und herabgewürdigt. Ein weiteres Beispiel zur Unterdrückung von Kritik: Anfang April hat das kritische Online-Magazin „Factum“ versucht Interviews in einem Krankenhaus zu führen, wo das Personal das Fehlen von Schutzmaterial beklagte und die Regierung um Abhilfe und bessere Ausrüstung des medizinischen Personals bat. Die Polizei unterband umgehend die Weiterführung dieser Interviews – das ist ein eindeutiger Eingriff in die Pressefreiheit und kein Einzelfall.

Grundsätzlich ist Kritik an den Verantwortlichen in El Salvador zum Risiko geworden. Dokumentierte Fälle, bei denen der Staatsschutz nach kritischen Worten an die Adresse der Regierung vor der Haustür steht, sind in El Salvador heute Teil der Realität. Bukele scheint aber zum wiederholten Male entschlossen, sich über Begrenzungen durch die Verfassung und geltende Menschenrechte hinwegzusetzen. 

Erst Ende der vergangenen Woche hat er eine entscheidende rote Linie überschritten: Das Verfassungsgericht ordnete die Einstellung mehrerer Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 an, die der Präsident diktiert hatte.

Es wies die Regierung zudem explizit an, die individuellen Grund- und Freiheitsrechte auch in Zeiten der Bekämpfung der Pandemie einzuhalten. Bukele verkündete am 16. April per Twitter, sich der Anordnung zu verweigern. Das sind keine guten Aussichten für die demokratische Weiterentwicklung des Landes nach dem eventuellen Überwinden der Pandemie.