Fußball in Russland: Das Spielfeld der Amateure

Momentaufnahme

Der russische Fotograf Sergej Nowikow fotografiert seit sechs Jahren russische Amateur-Fußballklubs. Sie erzählen viel über das Land und über die sozialen Geografien, in denen Hobby-Sportler dem Ball nachlaufen. In Moskau wird das Projekt „Grassroots“ in diesen Tagen mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung präsentiert.

Chusovoy, Perm region, 2014

Hochbezahlte Fußballstars, teuer errichtete Arenen, ausverkaufte Zuschauerränge und großer Andrang der internationalen Medien: Die noch bis 15. Juli in Russland stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft vermittelt ein Hochglanzbild des beliebten Ballsports. Auf einen ganz anderen Aspekt des Spiels lenkt der in Moskau lebende Fotograf Sergej Nowikow den Blick der Zuschauer. In seinem Fotoprojekt „Grassroots“ steht der russische Amateurfußball im Mittelpunkt.

Kurganinsk 2014
Er wolle die Geografie Russlands über das Thema des Amateursports vermitteln, erklärt Nowikow. „Mein Projekt handelt nicht nur vom Fußball, sondern darüber, wie unser Land und unsere Gegenwart gestaltet sind.“ Ein Ausschnitt des umfangreichen, im Jahr 2012 begonnenen Projekts wird derzeit in der Galerie Lumiere mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung gezeigt.

Machatschkala 2014

Nowikow ist durch Russland gereist auf der Suche nach den Hobbyfußballern des Landes. In vielen Regionen wurde er bereits fündig – rund um die Hauptstadt Moskau, im europäischen Norden, im Uralgebirge und im russischen Süden. „Nur in Sibirien, da war ich noch nicht“, fügt er an. Er selbst ist 1979 in der Wolgastadt Tscheboksary geboren – und kennt die russische Provinz daher gut aus eigener Erfahrung. Unterhalb der russischen Profiligen existieren etwa 1000 Mannschaften des unbekannten Fußballs. Auch eigene Amateur-Meisterschaften gibt es in dem Land mit 144 Millionen Einwohnern. Dutzende Vereine hat der Fotograf bereits dokumentiert – und will das Projekt auch nach dem Ende der Weltmeisterschaft weiterführen.

Tschusovoj 2014
Nowikows Fotografien geben weit mehr als nur Einblicke in einen populären Sport. Die Reportagebilder folgen nicht den Gesetzen der typischen Sportfotografie, die den einzelnen Spieler bei einem eleganten Pass oder spontanen Kopfball ins Zentrum rückt. Er nimmt die Totale in den Blick: Das Spielfeld und sein Umfeld. Im Vordergrund der Fotografien sind stets Fußballfelder und Stadien zum Zeitpunkt von Turnieren zu sehen. Aber eben noch mehr: Ein graues Feld in Sneschnogorsk vor karger Hügellandschaft, ein sattgrünes Fußballfeld in Waldaj vor einem Seenpanorama, Wohntürme hinter dem Stadion, ein unmarkiertes Spielfeld vor einem dampfenden Heizkraftwerk in Artjom im Fernen Osten, tausende Kilometer von Moskau entfernt. Es sind nicht nur Fußballfelder in einem riesigen Land mit unterschiedlichen Klima- und Zeitzonen, es ist eine soziale Geografie, die Nowikow freilegt. Sichtbar wird der Raum, in dem der Fußball von Nebenan stattfindet. Man wirft einen Blick in die russische Peripherie, in die Welt der Dörfer und Kleinstädte fernab der glitzernden WM-Metropolen.

Artem 2016
Für Nowikow ist der Zustand des Amateurfußballs ein Abbild der gesellschaftlichen Lage. In Städten, in denen es funktionierende Industriebetriebe gibt, sind auch viele Fußballklubs noch aktiv. Die Namen „Metallurg“ oder „Gornjak“ künden von der historischen Verzahnung zwischen Arbeitersport und Industrie. Dort, wo Fabriken zugesperrt haben, spielen in den Vereinen oft neue Leute, die nichts mit der Geschichte des Betriebsklubs zu tun haben. Reichen Regionen wie Moskau, Tatarstan und Krasnodar mit mehreren Ligen stehen Regionen gegenüber, in denen die Mannschaften schrumpfen. „In solchen Fällen bestehen die Teams aus Enthusiasten, die einfach den Fußball lieben. Im besten Fall werden sie von der örtlichen Verwaltung unterstützt.“ Anders als im Profifußball ist im Graswurzelfußball kein Geld zu verdienen. Was hier zählt, ist die Leidenschaft. Oder wie Nowikow sagt: „Es ist einfach eine Art, seine Zeit zu verbringen.“

Bologoe 2013
Gefragt nach den Besonderheiten des Amateurfußballs zieht der Fotograf eine Parallele zum Begriff des Karnevals, wie ihn der russische Literaturwissenschafter Michail Bachtin verwendet hat. Im Alltagsfußball lösen sich die starren Rollen zwischen Zusehern und Teilnehmern auf. Diejenigen, die auf den Tribünen sitzen, können selbst mitspielen – wenn sie wollen. In vielen Orten bildet der Fußballplatz eine soziale Arena, in der Menschen zusammenkommen, nicht nur um sich zu messen, sondern um zu reden und zu feiern. Das Turnier, eingebettet in die Gesellschaft. Einmal sei er selbst gefragt worden, ob er nicht für einen Spieler einspringen könne, der nicht erschienen sei, erzählt Nowikow. „Für Amateure ist das Spiel ein Fest. Arbeit ist es offensichtlich keine für sie, sie verdienen ja nichts mit dem Sport“, erklärt der Fotograf, der seine Reisen an weit entfernte Orte von den Spielkalendern lokaler Vereine abhängig macht. Auch ein Film mit dem Titel „Kick and Rush“ (2017) ist aus Nowikows Beschäftigung mit dem Amateurfußball entstanden: eine filmische Collage lokaler Graswurzelspiele, ein Fußballpanorama aus mehr als 200 Orten.

Lytkarino 2016
Dennoch hat das Amateurspiel auch seine ernsten Seiten: Wenn es etwa um die schwierige Sponsorensuche geht oder um die Frage der Unterstützung durch die lokale Verwaltung. Turniere werden für Wahlwerbung genutzt, lokale Politgrößen und Businessmen zeigen sich plötzlich am Platz, und manchmal werden sogar bei Hobbywettkämpfen Siege erkauft. Welche Auswirkungen wird die Weltmeisterschaft auf den Amateurfußball haben? Nowikow winkt ab. In den Städten tief in den Regionen, die er unter die Linse genommen hat, finden keine WM-Entscheidungen statt. „Es ist klar, dass die Amateure nicht in den neuen Stadien spielen werden“, sagt Nowikow. „Im besten Fall werden sie einmal Spiele in diesen Stadien als Zuschauer besuchen.“ Den Weltcup sieht er indes als Impulsgeber: Spieler könnten zu besseren Leistungen angespornt werden, die fußballerische Kreativität werde erweitert. Wenn sich das nächste Mal die Amateure auf dem Rasen versammeln, dann zählt vor allem eines: Die Freude am Spiel.

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