Kolumbiens Stimme der Suchenden: Fabiola Lalinde

33 Jahre hat Fabiola Lalinde nicht lockergelassen, insistiert und selbst nachgeforscht, um die Wahrheit über das Verschwinden ihres ältesten Sohnes, Luis Fernando Lalinde, herauszufinden. Erfolgreich, wie der Dokumentarfilm „Operación Cirirí“ zeigt, der in Kolumbien gerade der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Fabiola Lalinde
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Fabiola Lalinde, Mutter von Luis Fernando Lalinde und Initiatorin des Dokumentarfilmes „Operación Cirirí“

Für Fabiola Lalinde ist der Film ihr Beitrag, um das gewaltsame Verschwindenlassen in Kolumbien endlich zu ächten. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.

Fabiola Lalinde öffnet mit einem freudigen Lächeln die Wohnungstür. „Heute sind die DVDs vom Nationalen Zentrum für historisches Gedenken (CNMH) endlich gekommen. Ich bin so froh, dass das Vermächtnis von Luis Fernando nun in den Kinos, an den Universitäten oder im kleinen Kreis gesehen werden kann“, sagt die 80-jährige. Dafür hat die in Medellín lebende rüstige Rentnerin ein halbes Leben lang gekämpft.

Am 2. Oktober 1984 verließ ihr ältester Sohn Luis Fernando Lalinde das gemeinsame Haus im Stadtteil Laureles von Medellín, um die Friedensverhandlungen zwischen der Regierung von Präsident Belasario Betancur und der EPL-Guerilla als Beobachter im Südosten des Verwaltungsbezirks Antioquia zu begleiten. Als politischer Kommissar hatte Luis Fernando Lalinde von der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Kolumbiens - Marxistisch-Leninistisch (PCdeC-ML) den Auftrag erhalten, in die Region von Jardín, einer Kleinstadt rund 130 Kilometer südöstlich von Medellín, zu reisen und sich ein Bild über die Situation vor Ort zu machen. Die stellte sich allerdings deutlich anders dar als erwartet, denn das dortige Camp der EPL wurde von Regierungstruppen attackiert. „Die waren ohne Rangabzeichen unterwegs, und als wir einen toten Soldaten untersuchten, wussten wir auch warum“, erinnert sich Jon Restrepo,  der damals für die EPL in der Region von Jardín aktiv war. In der Brusttasche des Soldaten - der, wie sich herausstellte, den Rang eines Capitáns bekleidete - fanden sie neben dessen persönlichen Dokumenten den Angriffsbefehl und eine Karte mit den Koordinaten des Guerillacamps. „Die Einheit hatte den Befehl uns anzugreifen; das veränderte auch für Luis Fernando die Situation“, erinnert sich der Ex-Guerillero in „Operación Cirirí“.

Ein Film gegen das Vergessen

Operación Cirirí - persistente, insistente e incómoda (Operation Cirirí – beharrlich, insistierend, unbequem!) heißt der Dokumentarfilm mit vollem Titel und er zeichnet nicht nur die hartnäckige Suche einer Mutter nach ihrem Sohn nach, sondern auch die Geschichte des gewaltsamen Verschwindenlassens von linken Aktivistinnen und Aktivisten durch das Militär in Kolumbien. Luis Fernando Lalinde war nicht  das erste Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens in Kolumbien. Sein Fall trägt die Nummer 329, und damit steht Luis Fernando Lalinde weit am Anfang einer schier nicht enden wollenden Liste von gewaltsam Verschwundenen. Je nach Quelle sind in dem lateinamerikanischen Land im Zeitraum von 1970 bis 2015 zwischen 25.000 und 60.630 Menschen verschwunden- in aller Regel gewaltsam verschleppt von den Militärs, später auch von Paramilitärs, seltener von der Guerilla. Die jüngste und kompletteste Untersuchung mit den höchsten Zahlen hat das Nationale Zentrum für historisches Gedenken (CNMH) im November 2016 vorgelegt. „Doch genau weiß niemand, wie viele es sind, denn die drei staatlichen Stellen - Gerichtsmedizin, Staatsanwaltschaft und das Nationale Zentrum für historisches Gedenken - arbeiten unabhängig voneinander. Die von ihnen dokumentierten Fälle wurden noch nicht miteinander abgeglichen“, erklärt Andrea Torres von der Stiftung Nydia Érika Bautista. Die Stiftung ist nach einer gewaltsam verschwundenen Aktivistin des M-19, einer weiteren eher städtisch agierenden Guerilla, benannt worden, und vertritt rund 300 Fälle von Desaparecidos forzados, wie die gewaltsam Verschwundenen auf Spanisch heißen. „In 90% unserer Fälle sind die Militärs für das gewaltsame Verschwindenlassen verantwortlich. Doch in der Realität ist es kaum möglich, die intellektuell Verantwortlichen vor die Richter zu bringen – das ist überaus kompliziert“, erklärt Anwältin Torres.

Und auch riskant, wie der detailliert dokumentierte Fall von Luis Fernando Lalinde belegt. Der wurde am 3. Oktober 1984 morgens gegen halb sechs von einer Militärpatrouille aufgegriffen, als er den Rückweg nach Medellín antreten wollte. Die Soldaten nahmen den 26-jährigen Soziologiestudenten fest, schleppten ihn nach Vereda El Verdún, einem kleinen Dorf in der Nähe, wo sie ihn an einen Baum banden und folterten. Das belegen Interviews mit Zeugen, die Jorge Lalinde, einer der beiden jüngeren Brüder Luis‘ Fernandos, wenige Tage nach dessen Verschwinden auf Bitten seiner Mutter in dem Dorf durchführte. „Als sich Luis Fernando am Mittwoch, den 3. Oktober, nicht meldete, wurde ich unruhig; am Donnerstag nervös und am Freitag ängstlich. Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, denn mein Sohn war sehr zuverlässig, und er hatte mir versprochen sich zu melden. Genau das hat er nicht getan und so war ich alarmiert“, erinnert sich Fabiola Lalinde und reibt sich die Hände. Sie sitzt an dem kleinen Tisch in ihrem winzigen Apartment in Medellín. Nicht weit entfernt von dem Haus, dass die Familie einst bewohnte, befindet sich die mit Büchern und Akten vollgestopfte 50-Quadratmeter-Wohnung, die sie mit ihrer Tochter Adriana bewohnt. Mehr ist nicht drin, denn Fabiola Lalinde erhält nur die Mindestrente und die jahrelange Suche nach ihrem ältesten Sohn hat die Rücklagen der ehemaligen Sekretärin einer Supermarktkette schmelzen lassen wie Butter in der Sonne.
„Ich wollte ganz genau wissen, weshalb die Armee Menschen wie Luis Fernando verschwinden ließ“, erklärt die Rentnerin ein Motiv ihrer langjährigen Suche. „Heute weiß ich, dass die Militärs Angst hatten, dass sich so etwas wie die kubanische Revolution in Kolumbien wiederholen könnte“, sagt sie. Das hätte sie im Sommer 1984 noch für unmöglich gehalten. Damals war ihr Vertrauen in die älteste Demokratie Lateinamerikas noch intakt. „Erst als Luis Fernando mir angesichts der Bilder aus Argentinien von den Müttern der Plaza de Mayo in den Nachrichten erklärte, dass er Leute kennen würde, die in Kolumbien verschwunden sind, kam ich ins Nachdenken“, erinnert sich Fabiola Lalinde an einen Abend mit ihrem ältesten Sohn, wenige Monate vor dessen Verschwinden.

Verscharrt als N.N. Jacinto

Mit den Recherchen ging auch das Vertrauen in den kolumbianischen Staat und dessen Armee immer mehr verloren, denn letztere verneinte immer wieder irgendwelche Informationen zu Luis Fernando Lalinde zu haben. Das wiedersprach jedoch den Recherchen, die die jüngeren Brüder Jorge und Mauricio Lalinde in und um Vereda El Verdún vornahmen und die durch ein knappes Dutzend Zeugenaussagen belegt sind. So war es möglich, den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren und letztlich auch herauszubekommen, welche Einheit für die Verhaftung, die Folter und das Verschwinden von Luis Fernando Lalinde verantwortlich war und wo seine Leiche als „unbekannter Guerillero N.N. Jacinto“ verscharrt worden war.

Die Armee wollte davon nichts wissen und so sorgte Fabiola Lalinde mit Hilfe des Vorsitzenden des Menschenrechtskomitees von Antioquia, Héctor Abad Gómez, dafür, dass der Fall vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission landete und der kolumbianische Staat wegen gewaltsamen Verschwindenlassens angeklagt wurde. Das hatte Folgen für Fabiola Lalinde: „Am 23. Oktober 1988 führte ein Polizeikommando eine Hausdurchsuchung bei uns durch, bei der Bargeld und zwei Kilo in Plastikfolie verpacktes Kokain gefunden wurden. Das kannte ich bis dahin nur aus dem Fernsehen“, erinnert sich Fabiola Lalinde. Sie hat alles niedergeschrieben, die Ereignisse dokumentiert und jeden Zeitungsschnipsel gesammelt. Das hatte sie sich bei ihrer Arbeit als Sekretärin einer großen Supermarktkette angewöhnt, wo sie sich alles von den Lieferanten quittieren lassen musste. So entstand das Archiv ihrer Operación Cirirí, welches heute mehr als 2.500 Seiten umfasst. Das sind rund 25 Kilogramm Akten.

Darunter natürlich auch die Artikel über ihren Aufenthalt im Frauengefängnis Buen Pastor von Medellín, wo sie dreizehn Tage auf Staatskosten verbrachte. „Am 3. November 1988 wurde ich ohne Auflagen entlassen. Das habe ich dem Druck der Organisation amerikanischer Staaten, dem Besuch von UN-Expert/innen im Gefängnis und einem Richter zu verdanken, der erkannt hatte, dass alles mit dem Verschwinden von Luis Fernando zusammenhing“, erinnert sich Fabiola Lalinde lachend. Kleine Erfolge, die schließlich dazu führten, dass im April 1992 das Grab des unbekannten Guerilleros Jacinto geöffnet und die Knochen untersucht wurden. Erst bei einer zweiten Exhumierung im Mai 1992 fand man dann in Anwesenheit der Familie Lalinde auch den Schädel des gewaltsam Verschwundenen. Doch aufgrund der Blockadestrategie der Armee sollte es noch vier Jahre dauern, bis US-amerikanische Forensiker auch den letzten Zweifel beseitigten, dass der unbekannte Guerillero niemand anders als Luis Fernando Lalinde war.

Ein Ergebnis akribischer Recherche, die bis heute in Kolumbien Vorbildcharakter hat. Aufgrund der ausbleibenden Ermittlungserfolge haben in vielen Fällen die Familienangehörigen von gewaltsam Verschwundenen die Arbeit der Ermittlungsbehörden übernommen. „Sie klopfen an Türen, machen Zeugen ausfindig, suchen nach geheimen Gräbern. Sie widmen ihr Leben dem Kampf gegen die Straflosigkeit“, erklärt Andrea Torres die kolumbianischen Realitäten. Daran könnte sich alsbald etwas ändern. Mit der Implementierung des Friedensabkommens mit der FARC-Guerilla ist es Ende September 2017 auch zur Gründung der Einheit zur Suche von gewaltsam Verschwundenen, Unidad de Búsqueda de Personas Desaparecidas, gekommen, der Luz Marina Monzón, eine erfahrene Juristin, als Direktorin vorsteht. Für Fabiola Lalinde und für Andrea Torres ein positives Signal.

Doch vieles hängt davon ab, ob es gelingt, die Militärs zu mehr Kooperation zu bewegen. Fabiola Lalinde hat auf Wiedergutmachung gegen den kolumbianischen Staat geklagt. Zwölf Jahre hat es gedauert, bis Armee und Verteidigungsministerium schließlich dazu verurteilt wurden, den Dokumentarfilm „Operación Cirirí“ zu finanzieren und in dem Dorf, wo Luis Fernando Lalinde gefoltert wurde, eine kleine Bibliothek zu bezahlen. Eine persönliche Genugtuung für Fabiola Lalinde. „Solange an Luis Fernando gedacht, über ihn gesprochen wird, lebt er weiter“, betont die hagere Frau. Hinter ihr an der Wohnungstür klebt ein Plakat mit dem Konterfei ihres Sohnes. Dessen Porträt ist auch auf die DVD gedruckt, die vor ihr auf dem kleinen Tisch liegt und auf der auch die Silhouette des kleinen Vogels, des Cirirí, aufgedruckt ist. „Dieser kleine Kolibri ist so flink, hartnäckig und mutig, dass er sich sogar mit Raubvögeln anlegt“, lacht Fabiola Lalinde. Ihr Vater hat sie oft mit dem Vogel verglichen und genau deshalb hat sie ihre Suche nach Luis Fernando Operación Cirirí getauft. Ein Beispiel, das vielen Angehörigen in Kolumbien Mut gemacht hat, weiter nach ihren Verschwundenen zu suchen.


Lesetipp:

» UN-Konvention gegen gewaltsames Verschwindenlassen