Dinge zum Sprechen bringen

Bilder von Verschwundenen im Museum für Erinnerung und Menschenrechte, Santiago de Chile
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Desaparecidos – Verschwundene. Museum für Erinnerung und Menschenrechte, Santiago de Chile

Wie können Forensik, Anthropologie und Kunst zur Verarbeitung von extremer Gewalt beitragen? Die Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid und die Künstlerin Mariana Castillo Deball haben zu dieser Frage in Mexiko-Stadt die Konferenz „Dunkle Materie” ausgerichtet. Ein Interview.

Frau Huffschmid, Sie forschen seit einigen Jahren zur forensischen Anthropologie in Lateinamerika. Warum ist die Arbeit dieser sogenannten „Knochenleser“ dort so wichtig?

Anne Huffschmid: Weil das gewaltsame Verschwindenlassen hier während der Militärdiktaturen als Repressionstechnik gleichsam erfunden wurde. Es ist eine besonders perfide Form der Gewalt, durch die Menschen bewusst zu Untoten gemacht und betroffene Familien in einem schrecklichen Zustand der Unsicherheit zurückzulassen werden. Die forensischen Anthropolog/innen tun nun zweierlei: Sie suchen nach den Verschwundenen, also nach den Körpern zu den Namen derjenigen, die von ihren Familien gesucht werden. Zugleich versuchen sie, den aus geheimen Massengräbern geborgenen Körpern einen Namen zuzuordnen. Und sie sind dabei oft auch die einzigen, die ausführlich mit den Angehörigen sprechen. Lateinamerika wurde so zur Wiege einer regierungsunabhängigen Forensik. Sie leistet nicht nur hier, sondern zunehmend auch in anderen Teilen der Welt, eine Art Gespensteraustreibung, die den Familien der Opfer erst ermöglicht, mit der Trauerarbeit zu beginnen.

Mexiko ist allerdings ein Sonderfall. Hier reden wir nicht über die Vergangenheit, sondern über Gewalt, die weiter anhält.

Huffschmid: Das stimmt, und die Zahl der Verschwundenen übersteigt hier nach offiziellen Statistiken sogar alle registrierten „desaparecidos” der südamerikanischen Militärdiktaturen. Dazu kommt, dass es nicht mehr nur einen Akteur – den Staat – gibt, von dem die Gewalt ausgeht wie zu Zeiten der Militärdiktaturen. Mexiko ist ein Beispiel dafür, dass das Szenario heute diffuser und vielfältiger ist. Die Gewalt hat sich hier diversifiziert und – vor allem auch territorial – dezentralisiert. Es gibt eine strukturelle Verfilzung zwischen Polizei, Politik und krimineller Ökonomie.    

Auch im Falle der im September 2014 in Ayotzinapa unter weiterhin ungeklärten Umständen „verschwundenen“ 43 mexikanischen Lehramtsstudenten waren es  forensische Anthropologen, die wichtige Erkenntnisse lieferten.

Huffschmid: Das berühmte argentinische EAAF-Forensik-Team hat auf Bitten der Familien der Verschleppten in dem Fall als unabhängiger Gutachter ermittelt – und unschlagbare Indizien dafür gefunden, dass die offizielle Version, die die Beteiligung staatlicher Institutionen herunterspielt und vom mexikanischen Bundesstaatsanwalt als „historische Wahrheit” dargestellt wird, so nicht stimmen kann.

Im November haben Sie nun gemeinsam mit der Künstlerin Mariana Castillo Deball in Mexiko-Stadt die Konferenz „Dunkle Materie” kuratiert. In einem transdisziplinären Gespräch wurde der Frage nachgegangen, wie an extreme Gewalt erinnert werden kann. Dabei trafen unter anderem Forensik/innen auf Künstler/innen. Welche Verbindung besteht zwischen diesen zwei unterschiedlichen Disziplinen?  

Huffschmid: Das Graben der forensischen Anthropologie, das Unsichtbare sichtbar machen, war für uns eine Art Ausgangsmetapher. Denn was Kunst und Forensik machen, ist, Dinge zum Sprechen zu bringen – Gegenstände und Menschen, tote wie lebende Körper.

Mariana Castillo Deball: Uns ging es um konkrete Verbindungen. So etwa ist die argentinische Forensikerin und Philosophin Celeste Perosino ausgebildete Archäologin. Und auch die Künstlerin Esther Shalev-Gerz hat eine archäologische Herangehensweise – wie beim Projekt „MenschenDinge“, in dem sie die Geschichten von im Boden des KZ Buchenwald aufgefundenen Alltagsgegenständen rekonstruiert hat. Bei beiden kommt neben der engen Arbeit am Material aber auch eine bestimmte Ethik zum Tragen: Während Shalev-Gerz die Gegenstände der Erinnerung „humanisieren” will, arbeitet Perosino eng mit den Angehörigen der Opfer zusammen.

Huffschmid: Celeste Perosino hat auch von ihrer neuen Nichtregierungsorganisation berichtet, die sich um weibliche Gewaltopfer in argentinischen Armenvierteln kümmert. Hier werden junge Frauen verschleppt und zwangsprostituiert. Manche tauchen dann aber später wieder auf. In anderen Fällen gibt es zu identifizierten Toten gar keine Familien, die sie aktiv gesucht hätten. Angesichts dieser neuen Gewalttypen müssen die Forensiker/innen und wir alle also umdenken.

Die Konferenz drehte sich nicht allein um die Gewaltkrise in Mexiko?

Castillo Deball: Nein, keinesfalls. Uns ging es gerade um die globale Erfahrung von Gewalt – darum kamen die Teilnehmenden auch aus aller Welt. Wichtig war uns zu sehen, wie Gewalt anderswo verarbeitet wird, was wir zum Beispiel aus den Erfahrungen des Holocaust und von den „Gegen-Monumenten“ in Deutschland lernen können, um daraus Strategien für den Umgang mit und den Widerstand gegen Gewalt zu entwickeln.

Huffschmid: Wir wollten eben nicht in den tendenziell folkloristischen Diskurs verfallen, dass es allein in Mexiko gefährlich und gewalttätig sei. Denn es gibt dieses Bild, nach dem Gewalt hier so etwas wie eine anthropologische Konstante sei. Und das ist natürlich Unsinn.

Das Beispiel Mexiko wirft allerdings die Frage auf, wie das `erinnert´ werden kann, was gegenwärtig geschieht?

Castillo Deball: Ich denke, die Konferenz hat verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt. Eine davon sind direkte Aktionen in enger Zusammenarbeit mit den Familien von Opfern. Hier werden Netzwerke gebildet, und es wird ziviler Widerstand geleistet.

Huffschmid: Die Künstlerin Laura Valencia Lozada hat zum Beispiel auf einem großen Boulevard von Mexiko-Stadt Statuen von Nationalhelden aus dem 19. Jahrhundert mit einer schwarzen Kordel umwickelt – und diese so gewissermaßen zum Verschwinden gebracht. Die bizarren Figuren lösten Irritationen bei den Passanten aus. Man musste schon näher kommen, um zu verstehen, worum es hier ging: Valencia hatte – mit Hilfe der Angehörigen – anhand von Größe und Umfang von konkreten „Verschwundenen“ die Länge der jeweiligen Kordel errechnet. Auf diese Weise wurde jedem Vermissten im einzelnen gedacht.

Castillo Deball: Auch bei den Performances mit militärisch ausgebildeten Jugendlichen, die der mexikanische Künstler Erick Meyenberg in Shopping Malls und anderen emblematischen Orten inszeniert hat, geht es darum, über die Verunsicherung, die sie beim Publikum erzeugen, zum Nachdenken anzuregen. Es sind Jugendliche, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie als Soldaten bald selbst Gewalt ausüben. Und doch erlebt man sie als menschliche Wesen, die Bedürfnisse und Wünsche haben. Es ist da schwer zu sagen, wer gut und wer böse ist. Es geht hier um Gewalt, die jeder von uns in sich trägt.

Huffschmid: Es ist eine Art künstlerische Forschung, die Meyenberg betreibt. Das kann Kunst eben auch: Aufzeigen, wie Disziplinierung funktioniert und auf die Körper wirkt. Aber eben auch das Gegenteil: Wie Körper sich dagegen wehren, diszipliniert zu werden. Denn diese jungen Militärs sind ja keine Maschinen. Und da kann man ansetzen. Solche Spannungen, Reibungen in künstlerischen Arbeiten haben uns interessiert. Auch, um die herkömmlichen Formate von klassischen Denkmälern, die es in Mexiko für Gewaltopfer ja heute schon gibt, zu überwinden.  

„Dunkle Materie”, der Titel der Konferenz, scheint ja auch auf das Unerklärliche von Gewalt zu verweisen.

Huffschmid: Interessant war, dass viele unserer Gäste diese Metapher aus der Astrophysik aufgegriffen haben: Sie bezieht sich ja auf jene Materie, die man nicht direkt messen kann, die aber dennoch wirkmächtig ist. Das gilt eben auch für dieses Undurchsichtige, Zähe, Schwere des Themas Gewalt. Gewalt ist kein Schicksal, keine Naturkatastrophe, die über einen hereinbricht. Aber um sie zu verstehen, muss man sie in ihrem jeweiligen Kontext erst einmal analysieren und in ihre Einzelteilezerlegen. Ein Beispiel war das Projekt der mexikanischen Anthropologin Sandra Rozental. Diese hat sich ursprünglich mit der Geschichte des Wassers in Mexiko-Stadt beschäftigt. Daraus hat sie dann eine Geschichte der Gewalt rekonstruiert, die zunächst vor allem in der kolonialen Eroberung der Stadt bestand und sich in der Kanalisierung und Trockenlegung der Wasserwege niederschlug. Im 20. Jahrhundert kamen die extrem verschmutzten Abwässer und ihre Entsorgung dazu – und schließlich noch in jüngerer Zeit getötete Körper, die dort zunehmend gefunden werden.

Zum Thema „Architekturen der Gewalt” war auch die Kuratorin Clémentine Deliss geladen. Am Museum Weltkulturen in Frankfurt a. M. ist sie vor kurzem aufgrund vieler – institutioneller – Widerstände daran gescheitert, neue Wege einzuschlagen.

Castillo Deball: Dabei ist ihr Ansatz durchaus bedenkenswert. Deliss will einen neuen Umgang mit den oft unter Verschluss gehaltenen Objekten ethnologischer Sammlungen, die ja während der Kolonialzeit entstanden sind. Diese Sammlungen sollen dem Publikum zugänglich gemacht werden, auch indem man sie als Material versteht, mit dem nicht nur Ethnolog/innen, sondern auch Künstler/innen arbeiten können statt sie weiter in den Archiven zu horten.

Huffschmid: Deliss hat die völlige Dekontextualisierung und damit Fetischisierung der Objekte kritisiert. Sie sucht neue, an der Gegenwart orientierte Zugänge – keine ethnizistischen, denen es allein um Authentizität und Originalität geht. Und das ist meines Erachtens auch für Museen in Mexiko und anderen nichteuropäischen Ländern interessant, wo es häufig einen unglaublich hegemonialen Diskurs um das „Patrimonio”, um das kulturelle und geschichtliche Erbe, gibt. Ein Beispiel ist die extrem ethnisierende Inszenierung heutiger indigener Kulturen im weltbekannten Nationalmuseum für Anthropologie in Mexiko-Stadt. Diese  wird seit langem auch in Mexiko selbst stark kritisiert.

Wie können zeitgenössische Formen der Erinnerung an Gewalt und ihrer künstlerischen Verarbeitung aussehen? Welche Erkenntnisse hat die Konferenz dazu geliefert?

Castillo Deball: Für wichtig halte ich die Idee, den Gegenständen, den toten Körpern, sowie den Angehörigen der Opfer eine Stimme zu geben. Es geht also um eine Humanisierung der Erinnerung.

Huffschmid: Zentral scheint uns das geduldige Zuhören zu sein. Dabei geht es oft um ganz leise Dinge, und manchmal auch um gänzlich Ungesagtes, für das es ein besonderes Gespür und Gehör zu entwickelt gilt.

Anne Huffschmid ist Kulturwissenschaftlerin, Kuratorin und Autorin. Zum Thema Gewalt und Erinnerung veröffentlichte sie die Studie „Risse im Raum” (Springer, 2015). Derzeit forscht sie zu forenischer Anthropologie in Mexiko und Lateinamerika. Sie lebt in Berlin.

Mariana Castillo Deball ist mexikanische Künstlerin. Unter anderem stellte sie 2012 bei der Documenta in Kassel und 2014/15 im Hamburger Bahnhof, Berlin, aus. Seit 2015 ist sie Professorin für Bildhauerei an der Kunstakademie Münster.

Die Konferenz „Dunkle Materie. Spuren und Gewalt, Kunst und Aktion. Eine Begegnung zur Dringlichkeit von Erinnerung“ fand am 3. und 4. November 2016 im Rahmen des Deutschlandjahres in Mexiko, unterstützt vom Goethe-Institut und der Heinrich-Böll-Stiftung, im Museo Nacional de Arte in Mexiko-Stadt statt.