Irina Scherbakowa
Historikerin und Bürgerrechtlerin, Russland

Irina Scherbakowa setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, über die Repressionspolitik der ehemaligen Sowjetunion aufzuklären. Sie war 1988 Gründungsmitglied der ersten sowjetischen Nichtregierungsorganisation: „Memorial" kämpft bis heute für den Schutz der Menschenrechte in Russland und steht dort seit 2016 auf der Liste der „ausländischen Agenten“. Sie hat zahlreiche Bücher zur Geschichte und zur aktuellen Politik Russlands veröffentlicht, zuletzt gemeinsam mit dem deutschen Osteuropa-Historiker Karl Schlögel „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ (2015). Als gefragte Gesprächspartnerin zu den deutsch-russischen Beziehungen wirkt sie maßgeblich mit an der Verständigung zwischen beiden Ländern.   

Die Historikerin Irina Scherbakowa, geboren 1949 in Moskau, ist Publizistin und Übersetzerin. Nach einem Studium der Germanistik und Geschichte an der Moskauer Staatlichen Universität wurde sie 1972 in Germanistik promoviert. In den folgenden Jahren arbeitete sie hauptsächlich als Übersetzerin deutscher Belletristik und als Journalistin. Ende der 1970er Jahre begann Irina Scherbakowa, Tonbandinterviews mit Opfern des Stalinismus zu sammeln, seit 1991 forscht sie in den Archiven des KGB.

Ihre universitäre Laufbahn begann sie 1992 als Dozentin an der Russischen Staatlichen Universität für Humanwissenschaften Moskau. Dort lehrte sie bis 2006 im Bereich Oral History und visuelle Anthropologie. Sie war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, in Wien und Freiburg, sowie Gastprofessorin an den Universitäten in Salzburg, Bremen und Jena. Irina Scherbakowas Forschungsgebiete umfassen Oral History, Totalitarismus, Stalinismus, Gulag und sowjetische Speziallager auf deutschem Boden nach 1945, kulturelles Gedächtnis in Russland und Erinnerungspolitik.   

Als Autorin und Herausgeberin hat Irina Scherbakowa zahlreiche Bücher zu den Themen Stalinismus und Erinnerungskultur veröffentlicht, viele davon sind in deutscher Sprache erschienen. Große Beachtung fand zuletzt das gemeinsam mit dem deutschen OsteuropaHistoriker Karl Schlögel verfasste Dialogbuch „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“ (2015).

Neben Irina Scherbakowas wissenschaftlicher und publizistischer Arbeit zeichnet sie ihr außerordentliches zivilgesellschaftliches Engagement aus. Seit 1988 ist sie Mitglied von „Memorial", damals die erste unabhängige, zivilgesellschaftliche Organisation der Sowjetunion. „Memorial" setzt sich für die Aufklärung der sowjetischen Repression und den Schutz der Menschenrechte im heutigen Russland ein. Irina Scherbakowa ist Leiterin der Jugend- und Bildungsprogramme, koordiniert Oral History-Projekte sowie den alljährlichen, landesweiten Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“. Im Oktober 2016 wurde „Memorial" durch das russische Justizministerium auf die Liste „ausländischer Agenten“ gesetzt.   

Ihre Verbindung zur deutschen Sprache und zu Deutschland ist eng mit ihrer Familiengeschichte verwoben. Bereits ihr Großvater sprach ausgezeichnet Deutsch. Irina Scherbakowas Vater, Literaturwissenschaftler, zählte bekannte deutsche Schriftsteller wie Heinrich Böll zu seinen Freunden.

Mit dem Goethe-Institut verbindet sie eine jahrelange Zusammenarbeit, unter anderem bei diversen Ausstellungen und Publikationen. Als gefragte Gesprächspartnerin zur russisch-deutschen Beziehung wirkt sie maßgeblich mit am Dialog und der Verständigung zwischen beiden Ländern.

Irina Scherbakowa ist Mitglied diverser Stiftungen, wie beispielsweise des Kuratoriums der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar. Sie sitzt im internationalen Beirat der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin. 2005 wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, 2014 mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik. Seit 2010 ist Irina Scherbakowa Ehrenmitglied des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin.  

Zitate von Irina Scherbakowa  
„Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft interessiert sich für die individuellen Schicksale der Kriegs- und Nachkriegszeit. Es ist ein großer Widerspruch, denn wenn der Große Vaterländische Krieg solch eine Rolle spielt, müsste die Parole lauten: Lest, was Zeitzeugen hinterlassen haben, die Bücher, in denen sie schreiben, dass sie damals nur die Hälfte der Wahrheit hatten sagen können, schaut ihre Filme, die noch unter Zensurbedingungen entstanden sind. Aber das ist heute kaum möglich.“ (Irina Scherbakowa im Interview, Sonja Vogel, „Weil Utopien fehlen, wird der Krieg zum Kult“, die tageszeitung vom 08.07.2016)

„Mythen sind immer glänzend. Sie leuchten und sind einfach. Aber Wahrheit ist oft grau, unschön, und es gibt Momente in dieser Wahrheit, die man gar nicht wissen will. Nur wenn man sie versteckt, wird es noch schlimmer.“ (Irina Scherbakowa im Interview, Isabelle Daniel/Moskau, „Wir werden marginalisiert“, Neue Luzerner Zeitung vom 05.10.2016)

„Zu den wichtigsten Erfahrungen und Lehren meines Lebens gehört der Fall der Berliner Mauer. Ich habe dieses Ereignis als ein großes Wunder begriffen, als eine große Befreiung für meine Generation. Es ist eine sehr wichtige Erfahrung, dass – auch wenn eine Diktatur den Eindruck erweckt, sie existiere ewig – Menschen die Verhältnisse ändern können und Mauern fallen. Das haben wir in der DDR 1989 erlebt und auch in Russland, wo Hunderttausende auf die Straßen gegangen sind. Vielleicht kann man nachfolgenden Generationen versuchen zu vermitteln, dass ein solch großer Umbruch zu jedermanns Lebzeiten geschehen kann.“ (Irina Scherbakowa und Karl Schlögel im Gespräch, „Putins Fantasie-Russen“, DIE WELT vom 06.10.2015)  

Zitat über Irina Scherbakowa  
„Für Irina Scherbakowa ist Geschichte ihre Lebensaufgabe. Die Koordinatorin des russischen Geschichtswettbewerbs für Jugendliche, der von der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL seit 1999 jährlich ausgerichtet wird, hat in ihrer jüdischen Familie schon früh gelernt, welch tiefe Narben das Erleben von Zweitem Weltkrieg, Nationalsozialismus und Stalinismus bei den Menschen hinterlassen. Auch deshalb hört sie seit Jahrzehnten Zeitzeugen in Russland, anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Deutschland zu und zeichnet ihre 'erlebte Geschichte' auf.“ (www.koerber-stiftung.de, Porträt von Irina Scherbakowa aus der Reihe „Grenzgänger“)

 Publikationen (Auswahl)  

  • 1997 „Moskauer Küchengespräche“, mit Susanne Scholl, Verlag Styria, Graz.  
  • 2000 „Nur ein Wunder konnte uns retten: Leben und Überleben unter Stalins Terror“, Campus Verlag, Frankfurt am Main.  
  • 2003 „Russlands Gedächtnis - Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten“, Herausgeberin, Edition Körber-Stiftung, Hamburg.  
  • 2006 „Unruhige Zeiten: Lebensgeschichten aus Russland und Deutschland“, Herausgeberin, Edition Körber-Stiftung, Hamburg.  
  • 2010 „Zerrissene Erinnerung: Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland“, Wallstein Verlag (Reihe: Jena Center. Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien), Göttingen.  
  • 2012 „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“, Herausgeberin, mit Volkhard Knigge, Wallstein Verlag, Göttingen, Weimar.  
  • 2014 „Gulag – Texte und Dokumente 1929 – 1956“, Herausgeberin, mit Julia Landau, Wallstein Verlag, Göttingen, Weimar.  
  • 2015 „Der Russland-Reflex. Einsichten in eine Beziehungskrise“, mit Karl Schlögel, Edition Körber-Stiftung, Hamburg.  

Auszeichnungen (Auswahl)  

  • 1994 Katholischer Journalistenpreis für den Film „Alexander Men. Treibjagd auf das Sonnenlicht“ (WDR 1993)  
  • 2005 Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland  
  • 2013 Medaille der Menschenrechtbeauftragten der Russischen Föderation  
  • 2014 Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik 
  • 2017 Goethemedaille

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