Deutschlands hohe Treppenstufen

Tamar Jacoby, Vorsitzende von ImmigrationWorks USA, während der Diskussion.
Foto: Stephan Röhl. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz. Weitere Bilder der Veranstaltung finden Sie in unserer Galerie.

21. Dezember 2010
Von Undine Zimmer
Während hierzulande nicht zuletzt durch Thilo Sarrazins Veröffentlichung „Deutschland schafft sich ab“ ein Integrationsproblem und das Scheitern von „Multikulti“ beschworen wird, verlassen immer mehr qualifizierte junge Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund Deutschland. So drängt sich angesichts des bestehenden Fachkräftemangels und der zunehmenden Abwanderung von Hochqualifizierten die Frage auf, was auf dem deutschen Arbeitsmarkt falsch läuft.

Gerade für Menschen mit Migrationshintergrund scheitert der soziale Aufstieg in Deutschland oft an allzu hohen Treppenstufen. Dagegen steht das Bild - das in den letzten Jahren gelitten hat - des zwar mühsamen aber doch möglichen kontinuierlichen sozialen Aufstiegs in den USA, wo sich Arbeitnehmer_innen scheinbar auch mit geringen Qualifikationen schneller und flexibler nach oben arbeiten können.

Was sind die Vor- und Nachteile der Arbeitsmarktsysteme beider Länder, und wo können sie voneinander lernen? Das war die Ausgangsfrage der Veranstaltung „Aufstieg durch Arbeit. Wie die Integration Zugewanderter in Deutschland und USA funktioniert“, die am 13. Dezember in der Reihe „Was ist der deutsche Traum“ in der Heinrich-Böll-Stiftung stattfand. Gäste waren Tamar Jacoby, Präsidentin von ImmigrationWorks (Washington, D.C.), Lutz Sager, der Ko-Autor der Studie „Migranten in Deutschland“ vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Özcan Mutlu, der Bildungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen im Abgeordnetenhaus von Berlin.  

Einleitend erinnerte Mekonnen Mesghena von der Heinrich-Böll-Stiftung daran, dass die Immigration bereits einen großen Einfluss sowohl auf die westeuropäische als auf die nordamerikanische Ökonomien seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges genommen hat. Während für Europa noch keine zuverlässigen Zahlen verfügbar sind, lässt sich für die USA belegen, dass dort bereits jeder vierte Arzt und jeder dritte Ingenieur im Ausland geboren wurde. Wie stark auch die europäischen Volkswirtschaften von Einwanderern profitieren, davon sprechen leider nur wenige. Es sind zuerst andere Effekte der Zuwanderung, die bei dem Stichwort Integration in den Köpfen präsent sind. „Über Integration wird nur in Defiziten gesprochen“, fügte Özcan Mutlu hinzu.


Zwei Dimensionen der Integration

Grundlegend, so Tamar Jacoby, seien zwei Dimensionen von Integration zu unterscheiden: subjektive und objektive Integration. Während die subjektive auf dem Gefühl der Zugehörigkeit und kulturellen Aspekten aufbaut, geht es bei objektiver Integration um Fragen des sozialen Status: Arbeitsplatz, Schulbildung, politische Aktivität. Diese zweite Dimension hält Tamar Jacoby für entscheidend. Am Arbeitsplatz finde der Kontakt zwischen den Zugewanderten und den Einheimischen statt, lokale Gepflogenheiten und Umgangsformen werden sichtbar. Beide Gruppen werden sich gegenseitig testen, auf Verlässlichkeit und Arbeitsweise. Vertrauen kann entstehen und auch die Sprache bekommt eine wichtige Funktion. Im Arbeitsalltag lernen die Zugewanderten sie schnell. Die Integration durch Arbeit sei  eine Stärke der USA: Das liege, laut Jacoby, zum einen daran, dass man schnell dazu gehören könne, gleichzeitig jedoch auch anders sein dürfe - eben die bereits oft erwähnte Bindestrich-Identität, die zwei Nationalitäten nebeneinander stellt.

In Deutschland dagegen, so Özcan Mutlu, akzeptiere man noch immer keine hybriden Identitäten. Als Zugewanderter werde man gezwungen, eine Identität zu wählen. Deutsche mit Migrationshintergrund, wie sein 20-jähriger Sohn, der in Deutschland geboren ist, würden noch immer gefragt, warum sie nach Deutschland gekommen seien. Selbst die 70.000 Türken mit eigenen Unternehmen, die ihre Steuern in Deutschland bezahlen und Arbeitsplätze schaffen, würden noch immer als Fremde behandelt. Wenn Jugendliche aus sozial schwachen Familien sehen, dass selbst hochqualifizierte Menschen arbeitslos sind oder auswandern, würden sie jede Motivation für Bildung und Arbeit verlieren. Man dürfe es nicht mehr dem Zufall überlassen, ob und wie sich die junge Migrantengeneration ihren Platz in unserer Gesellschaft finden. Statt Barrieren für eine deutsche Staatsbürgerschaft weiter zu erhöhen, sollte Deutschland sich mehr öffnen und den Eingewanderten die Möglichkeit geben, sich auch politisch einzumischen. Dann würden die Parteien auch auf die die Bedürfnisse und Belange von Migrantinnen und Migranten mehr Rücksicht nehmen.


Aufstiegschancen in den USA – Ein Szenario

Niemand würde wegen des Sozialsystems in die USA einwandern bzw. um dort arbeitslos zu sein, sagte Tamar Jacoby. In den USA sei das Arbeitspotential größer als in Deutschland, der Einstieg selbst für unqualifizierte Arbeitskräfte möglich, ohne dass sie große Barrieren zu überwinden hätten. Ein typisches Szenario, wie Integration in den Arbeitsmarkt in den USA funktionieren kann, demonstrierte sie am Beispiel des fiktiven mexikanischen Einwanderers José: Er kommt vom Land, hat maximal einen Hauptschulabschluss. José hat einen Bruder oder Cousin in New York. Der erzählt ihm, dass die Situation in New York zurzeit schlecht sei, aber in New Orleans gäbe es nach Katrina viel Arbeit. Also geht José nach New Orleans, um zu arbeiten.

Die nächste Frage ist, welche Art von Job er bekommt. Zunächst einen einfachen. Das der Lohn gering ist, kann der Arbeitgeber sich Josés unqualifizierte Arbeit ohne Risiko leisten. Müsste der Arbeitgeber mehr bezahlen, würde er ihn nicht einstellen. English lernt José „on the job“. Die Erfahrungen in den USA zeigen, dass Leute wie José mit sehr kleinem Gehalt anfangen. Diejenigen, die weiter kommen, verbessern ihre Situation sehr schnell. Selbst wenn José als illegaler Einwanderer in die USA gekommen ist, was sogar wahrscheinlich ist, hat er die Möglichkeit zu arbeiten. Diese Flexibilität des US-amerikanischen Arbeitsmarktes fehle dem hiesigen, so Tamar Jacoby.

Den nächsten Schritt der Entwicklung nennt Tamar Jacoby das „Coffee Shop Stadium“. Während vor 20 Jahren alle Coffee Shops in New York von Griechen betrieben wurden, sind die Eigentümer heute zu 90 Prozent Mexikaner. Diejenigen, die wie José als Tellerwäscher anfingen, haben die Geschäfte übernommen, als die ursprünglichen Eigentümer in den Ruhestand gegangen sind. Der Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, von der unqualifizierten Arbeitskraft zum selbstständigen Kleinunternehmer, so Jacoby, sei auch für die subjektive Integration von Bedeutung.


Ist der deutsche Arbeitsmarkt zu abgeschottet?
 
Erst seit zehn Jahren, so Tamar Jacoby, gäbe es in Deutschland Bestrebungen Zugewanderte zu integrieren. In den USA diskutiere man seit 200 Jahren über diese Frage. Das deutsche System funktioniere grundlegend anders als das amerikanische: Mindestlöhne, Kündigungsschutz, Rentensystem, duales Bildungssystem und der Wohlfahrtsstaat. Das seien Vorteile. Gleichzeitig ist der Arbeitsmarkt sehr stark reguliert und unflexibel. so dass Arbeitgeber selbst bei der Besetzung von gering qualifizierten Jobs, keine Risiken eingehen. Formale Kriterien spielen eine große Rolle, nicht zuletzt die Sprache. Für Migranten, die den formellen Kriterien nicht entsprechen können, sind die Chancen auf den Einstieg sehr gering.

Der These, dass das Auffangnetz des deutschen Wohlfahrtsstaates dem sozialen Aufstieg entgegen wirke oder gar der Druck, arbeiten zu müssen, fehle, widersprach Özcan Mutlu entschieden. Härtere Regeln würden nichts verbessern. Arbeit müsse besser und Ausbildung attraktiver werden, für jüngere und ältere Menschen. Es gäbe noch immer zu wenig Sprach- und Fortbildungskurse für Zugewanderte. Wolle man einen Zugewanderten einstellen, müsste man noch immer beweisen, dass kein anderer den Job machen wolle. 

Nach Tamar Jacobys Meinung sollten die Vorteile des deutschen Systems nicht aufgegeben werden, aber dennoch versucht werden, wie in USA die Barrieren für den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu senken.


Segregation und Aufstiegsanstrengungen

Neben den Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt gilt die räumliche Segregation von Migrantengruppen häufig  als Ausweis des mangelnden Willens der Zugewanderten zur Integration. Lutz Sager vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung konnte jedoch zeigen, dass die räumliche Segregation von mehreren strukturellen Faktoren abhängig ist: sprachliche Barrieren, Aufenthaltsgenehmigung und ein festes Einkommen sind die ersten Hürden, die ein Neuankömmling in Deutschland zu überwinden hat. Nach der DIW-Studie sind Ausbildung, Arbeit, Einkommen sowie die Größe des Haushalts wichtige Faktoren dafür, wo gewohnt wird. Defizite in diesen Bereichen fördern die Segregation.

In Sagers Studie wird vor allem bei Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Einkommen, wie zum Beispiel mit osteuropäischem oder türkischem Hintergrund, eine stärkere Segregation verzeichnet. Migranten aus westlichen Herkunftsregionen lebten weniger isoliert, weil sie von vornherein einen höheren Bildungsgrad und ein höheres Einkommen aufwiesen. Die Ursache für die räumliche Segregation sei also nicht in dem mangelnden Willen der  Zugewanderten zu suchen, sondern in den strukturellen Voraussetzungen. Gerade der Wohnort werde vom sozialen Status bestimmt -  unabhängig von Migrationshintergrund. Auch dass die zweite Generation noch von Segregation betroffen ist, zeige, dass die vorhandenen Strukturen hinterfragt und verbessert werden müssen. Der wesentliche Ansatzpunkt, so Lutz Sager, liege im Bereich der Bildung.

Galerie: Aufstieg durch Arbeit?

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