Transatlantische Konvergenz

Ralf Fücks, Foto: © Ludwig Rauch

Mit Barack Obama werden die USA amerikanischer und europäischer zugleich

10. November 2008
Von Ralf Fücks
Von Ralf Fücks

Bis vor Kurzem galt es als ausgemacht, dass Europa und Amerika sich immer fremder werden. Die Stichworte Unilateralismus, Guantanamo, Internationaler Strafgerichtshof, War on Terror oder Klimapolitik genügten als Beleg für die transatlantische Trift, und wer die tiefgreifenden außenpolitischen Differenzen noch untermauern wollte, verwies auf die Verlagerung der Wachstumsdynamik von der amerikanischen Ostküste gen Westen. Europa schien im gleichen Maß an Bedeutung für die USA zu verlieren, wie Asien an Gewicht gewann. 

Dieses Bild war schon vor der Neuwahl des amerikanischen Präsidenten schief. Umso weniger stimmt es jetzt, da Obama und sein Team die Übernahme der Macht vorbereiten. Gegenüber dem Iran verhandelte die Troika Frankreich, Großbritannien und Deutschland auch im Namen der USA. Während der Georgien-Krise war es der europäische Tausendsassa Sarkozy, der mit Russland ein Abkommen zur Beendigung des Krieges schloss, während das Weiße Haus im Hintergrund blieb. Und als die große Finanzkrise ausbrach, war die Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa entscheidend, um die Panik auf den Märkten einzudämmen. China, Indien und die anderen Schwellenländer sind nicht weniger wichtig geworden, aber Europa bleibt für die USA in vielen weltpolitischen Fragen der zentrale Partner.

Werte der US-Verfassung rehabilitiert

Mit Obamas Wahl werden die Vereinigten Staaten zugleich amerikanischer und europäischer. Sie werden amerikanischer, weil er die Werte der amerikanischen Verfassung rehabilitierte und das Selbstbewusstsein des Landes wieder aufgerichtet hat, weil er die ethnische Vielfalt Amerikas repräsentiert und gesellschaftliche Gruppen in die nationale Politik gezogen hat, die vorher abseits standen. Die Basis der amerikanischen Demokratie ist breiter geworden. 
Zugleich werden sich die USA sowohl gesellschaftspolitisch wie außenpolitisch stärker an europäische Muster annähern. 

Die neue US-Administration wird mehr Wert auf internationale Zusammenarbeit legen und das Völkerrecht nicht länger als lästigen Ballast betrachten. Das bedeutet keineswegs, dass sie im Konfliktfall nicht so handeln wird, wie sie es im nationalen Interesse Amerikas für geboten hält. Die USA werden sich auch weiterhin keinen internationalen Gremien unterordnen. Aber die Regierung Obama wird anderen zuhören und nach einem gemeinsamen Vorgehen streben. Wieder auf die Partner Amerikas zuzugehen, heißt allerdings auch, sie stärker in die Verantwortung zu nehmen. Das wird für die Europäer nicht bequem – aber es bietet große Chancen für einen offenen Dialog und konstruktive Zusammenarbeit. Das gilt für die internationale Klimapolitik ebenso wie für die Neuordnung der Finanzmärkte, für einen neuen Anlauf in Afghanistan und für die Wiederbelebung einer aktiven Abrüstungspolitik. Auch in die Nahost-Politik wird neue Bewegung kommen, wenn der Bann für Verhandlungen mit Damaskus fällt. Je eher die Europäer in diesen Fragen eigene Initiativen entwickeln und auf die neue Administration zugehen, statt abzuwarten, mit welchen Forderungen sie konfrontiert werden, desto besser.

Redistributor in Chief

Die Fixierung auf die amerikanische Weltpolitik verstellt leicht den Blick auf den Paradigmenwechsel in der Gesellschaftspolitik, der sich jetzt anbahnt. In der Außenpolitik ist der Spielraum für Richtungswechsel deutlich geringer als auf den Feldern, in denen das Obama-Team jetzt antritt, um die Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu korrigieren. Mit Obama ist die neoliberale Revolution, die in den 1980er Jahren einsetzte, definitiv an ihr Ende gekommen. Seit Roosevelts New Deal ist noch nie ein amerikanischer Präsident mit einer so dezidiert sozialstaatlichen Agenda angetreten: Chancengleichheit, allgemeine Gesundheitsversicherung, gute und bezahlbare Bildung für alle, Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Selbst vor dem Tabu einer „Umverteilung des Reichtums“ schreckte Obama nicht zurück, und es half den Republikanern nichts, ihn als „Wealth Spreader“ und „Redistributor in Chief“ zu brandmarken. In früheren Zeiten hätte das einen demokratischen Präsidentschaftskandidaten vermutlich den Sieg gekostet, dieses Mal nicht. 

Schon die Reaktion der Bush-Administration auf den drohenden Banken-Kollaps hatte gezeigt, dass sich der Wind auch in den USA dreht: Ende der Privatisierungswelle und der Deregulierungsorgie, Anerkennung der Notwendigkeit, dem Markt politisch-rechtliche Regeln aufzuerlegen. Das Verhältnis von Markt und Staat wird auch im Kernland des Kapitalismus neu justiert. Das bedeutet nicht, dass die Amerikaner den europäischen Wohlfahrtsstaat alter Schule kopieren werden. Die USA werden immer ein Land bleiben, in dem Eigeninitiative,  Selbstverantwortung und Unternehmergeist eine große Rolle spielen. In dieser Hinsicht können sich die Europäer eine Scheibe von Amerika abschneiden. Aber das Ausbluten der öffentlichen Infrastruktur, die scharfe soziale Polarisierung und die um sich greifende ökonomische Unsicherheit haben inzwischen einen Punkt erreicht, an dem sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie die wirtschaftliche Zukunft des Landes bedrohen. Das war eine zentrale Botschaft von Obamas Kampagne, und sie fiel auf fruchtbaren Boden bis in die Oberschicht.

Grüne Welle im Weißen Haus

Auch auf dem Feld der Klima- und Energiepolitik bahnt sich eine transatlantische Konvergenz an. Sie wurde schon in den letzten Jahren vorbereitet, als Städte, Bundesstaaten und Unternehmen vorpreschten, die im Klimaschutz nicht nur eine unausweichliche Notwendigkeit, sondern eine ökonomische Chance sahen. Jetzt ist diese grüne Welle im Weißen Haus angekommen. Wenige Tage vor der Wahl Obamas sprach der Leiter seines „Transmission Teams“, John Podesta, auf einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington. Er kündigte an, dass der neue Präsident Klimaschutz zu einem „Thema Nr. 1“ machen werde, zog einen Bogen zwischen Abhängigkeit vom Erdöl, Klimawandel und zunehmenden Konflikten um knappe Ressourcen, kündigte die Einführung eines nationalen CO2-Emissionshandels (cap & trade) an und hielt ein Plädoyer für mehr Energieeffizienz. Bemerkenswert auch die Verknüpfung, die er zwischen Abwendung einer drohenden Rezession und „grünen Investitionen“ herstellte. Es gehe jetzt nicht um eine kurzatmige Ankurbelung des Konsums, sondern um Investitionen in Bildung, Wissenschaft und in die ökologische Modernisierung der Wirtschaft, um ein nachhaltiges Wachstum zu stimulieren. Man kann nur hoffen, dass diese Botschaft auch in Europa Gehör findet.

Washingtons Erwartungen an eine erneuerte transatlantische Zusammenarbeit sind groß. Podesta kleidete das in die Formel, dass Europa nicht die Vergangenheit als Ausrede benutzen sollte, um sich einer künftigen Zusammenarbeit zu entziehen. Das gilt nicht nur für Afghanistan und den Irak. Die Tür für transatlantische Initiativen steht offen, und der Mut zum Wandel sollte nicht nur Amerikas Sache bleiben.

Dieser Artikel ist am 10.11.2008 auf SpiegelOnline erschienen.