Kriminalität in Mexiko: Es hilft niemandem, die Toten zu zählen

Grenzzaun zwischen Mexiko und Arizona. Mit dem Freihandelsabkommen NAFTA von 1994 fielen die Handelsbeschränkungen zwischen beiden Ländern. Seither hat der Schmuggel von Drogen, Menschen und Waffen enorm zugenommen. Foto: cobalt123, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

14. Juni 2011
Annette von Schönfeld
Edgardo Buscaglia, Sie verfolgen die Entwicklung des organisierten Verbrechens in Mexiko seit vielen Jahren; nicht erst, seit sich der Drogenkrieg im Land zuspitzt. Wie konnte es der organisierten Kriminalität gelingen, sich bis in den oberen Etagen der Politik zu etablieren?

Entscheidend war der Machtwechsel im Jahr 2000, als Präsident Zedillo und die PRI (1) die Regierungsführung an die PAN (2) unter Präsident Fox abtrat. In dieser Phase gewann die organisierte Kriminalität enormen Einfluss auf die verschiedenen Ebenen des mexikanischen Staates – auf die kommunale, die bundesstaatliche und die nationalstaatliche. Und zwar deshalb, weil mit diesem Wechsel die von der Einheitspartei aufgebaute Kommando- und Kontrollpyramide zu bröckeln begann. Diese Kontrollinstanz hat auch die organisierte Kriminalität verwaltet, den diversen Gruppen verboten, untereinander zu konkurrieren, und sie hat über die mexikanische Sicherheitsbehörde jeder kriminellen Gruppe ihre illegalen Märkte und ihre Territorien zugewiesen. Die kriminellen Gruppen haben natürlich viel Geld dafür bezahlt, dass das politische System ihnen ihr Treiben gestattete.

Warum fiel diese Kontrollinstanz so schnell in sich zusammen?

Die PRI überließ angesichts ihrer politischen Schwäche den anderen Parteien neuen Raum, es kam zu einem Ringen um Stimmen, das den demokratischen Übergang einleitete. Die kriminellen Gruppen standen jetzt einem Staat gegenüber, der begann, sich politisch zu teilen. Es gab Kommunalregierungen der PRD, der PRI, der PAN, der PT und anderer kleiner Parteien. Der Übergang zu einem System, das von politischer Konkurrenz um Wählerstimmen geprägt war, verlief ungeordnet und chaotisch, es gab keine Kontrollinstanzen. Der Staat unter der Herrschaft von Präsident Fox hatte auch gar nicht mehr den Anspruch, diese Gruppen zu kontrollieren. Und so nahmen die kriminellen Gruppen den mexikanischen Staat ins Visier – und machten sich gegenseitig Konkurrenz darin, ihn zu kooptieren.

Und heute, sagen Sie, sei der mexikanische Staat ein Puzzle, bei dem jeder Puzzlestein einer anderen kriminellen Gruppe gehöre.

Ja, denn um mit ihren illegalen Märkten arbeiten zu können, müssen die kriminellen Gruppen den Staat kontrollieren, sie brauchen seine Infrastruktur und die des Privatsektors, um ihre Geschäfte abwickeln zu können. Und Mexiko hat viele kriminelle Märkte: Menschenhandel, Schmuggel von Migranten, illegale Ausbeute von Rohstoffen, Waffen- und Drogenhandel.

Stimmt es, dass seit der Einführung des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA die Drogenproduktion in Mexiko angestiegen ist? Mit diesem Abkommen fielen ja auch die staatlichen Subventionen für Kleinbauern weg.

Das Freihandelsabkommen NAFTA hat viele positive Effekte gehabt – vor allem für große und mittlere Unternehmen. Sie konnten mehr produzieren und mehr exportieren. Aber alle Aspekte der Globalisierung haben auch ihre Schattenseiten. In Mexiko verloren viele Kleinbauern ihre Wettbewerbsfähigkeit und mussten aufgeben. Sie konnten bei dem Preissystem, das von den Subventionen der USA bestimmt wird, keinen Mais produzieren; tatsächlich haben sich viele von ihnen dem Anbau von illegalen Drogen zugewandt, vor allem Marihuana. Kriminelle Gruppen finden bei den Kleinbauern einen guten Nährboden, aus naheliegenden sozialen und ökonomischen Gründen. Das Freihandelsabkommen NAFTA hat für das zuvor bestehende mexikanische Agrarmodell, das vor allem den lokalen Markt bedient hat, keine Schutzmechanismen oder Übergangsszenarien vorgesehen – und so gesehen den Drogenanbau befördert.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Politik der harten Hand unter Präsident Calderón?

Calderón hat sein Amt in einer schwierigen Lage angetreten: Die kriminellen Gruppen kontrollierten bereits einen großen Teil des Staates, im Jahr 2006 waren es nach unseren Schätzungen etwa 37 Prozent der Kommunen – heute sind es bereits 73 Prozent.

Hinzu kommt, dass die kriminellen Gruppen den privaten Unternehmenssektor bereits stark infiltriert hatten. Sie waren in über 50 Prozent der unternehmerischen Sektoren präsent und unterhielten zum Teil eigene Firmen, Bau- und Transportunternehmen, Bergbaufirmen oder Warenlager. Über diese Firmen wurden schon 2006 sowohl Geld gewaschen als auch Wahlkampagnen finanziert. Die Politik der harten Hand, die Calderón anwendet, widerspricht allen internationalen «best practices», die bisher gegen das organisierte Verbrechen erfolgreich sind beziehungsweise es in Schach halten. Calderón setzt ausschließlich auf repressive Maßnahmen – und diese Medizin, die er da angeordnet hat, ist schlimmer als die Krankheit.

Wie sieht es mit der Justiz aus – was tut sie, um das organisierte Verbrechen zu bekämpfen?

Der mexikanische Justizapparat funktioniert schon lange nicht mehr, nicht erst seit jetzt, seit Calderón. Der Justizapparat ist hochgradig korrupt und extrem ineffizient. Die Strafverfahren selbst sind undurchsichtig, die Urteile werden nicht kontrolliert. Es ist also sehr leicht für die kriminellen Gruppen, Richter oder Justizangestellte zu kaufen. Und das bedeutet: Wenn Calderón auch Tausende von Personen festnimmt, wie er behauptet, kommen doch die meisten von ihnen wieder frei. Wir schätzen, von zehn Verhafteten etwa acht bis neun.

Wie könnte man den kriminellen Gruppen denn überhaupt das Handwerk legen?

Die internationalen Statistiken zeigen, dass es auf jeden Fall sinnlos ist, mehr Polizei, mehr Richter und Staatsanwälte einzusetzen und Personen zu verhaften – wenn man den kriminellen Gruppen nicht gleichzeitig ihren Besitz, ihre legalen Firmen, ihre Infrastruktur, ihre Transport- und Verteilungswege, ihre Lagermöglichkeiten nimmt. Ein Beispiel: An der Grenze zwischen Mexiko und den USA gibt es etwa 4.700 Warenlager, die von den mexikanischen kriminellen Gruppen genutzt werden. Auf beiden Seiten der Grenze, aber mehrheitlich auf der mexikanischen Seite. Diese Lager werden gebraucht, um Menschen, Drogen, Waffen oder Schmugglerware zu lagern. Alle diese Lager gehören legalen Firmen. Calderón stellt sich diesem Problem nicht, denn er weiß: Wenn du diese Firmen angreifst, greifst du diejenigen an, die die Wahlkampagnen finanzieren, und zwar die aller Parteien, nicht nur die der Parteien, die an der Macht sind.

Wir in Deutschland hören zurzeit meistens Nachrichten über den Drogenkrieg, über die Gewalt und die Morde. Aber wir erfahren wenig über die komplexe Situation organisierter Kriminalität. Was ist das Wichtigste, was wir im Fall Mexiko wissen müssen?

Es gibt zwei große Irrtümer, die ich gerne aufklären würde. Der erste: Die Europäer, allen voran auch die Journalisten, denken, die mexikanischen kriminellen Gruppen seien Drogenhändler. Das stimmt nicht. Es sind mafiöse Gruppen, die in mehr als zwanzig verschiedene Typen von Verbrechen verwickelt sind. Mich besorgt mehr, dass sie mit Menschen handeln und Migranten schmuggeln, als dass sie mit Drogen ihre Geschäfte machen.

Und der zweite große Irrtum?

Offenbar wird die Intensität und Gefährlichkeit der organisierten Kriminalität an der Zahl der Morde gemessen. Was glauben Sie, warum ich in der letzten Zeit so häufig interviewt werde? Weil es in den vergangenen Jahren in Mexiko mehr als 34.000 Tote gegeben hat. Wenn diese ermordeten Menschen nicht wären, wäre die Aufmerksamkeit Europas nicht auf Mexiko gerichtet. Das ist traurig. Denn die organisierte Kriminalität ist viel älter als die jetzige Regierung. Früher gab es sehr viel weniger Morde, aber der Menschenhandel in die USA betraf Hunderttausende, ohne dass die internationale Presse darüber berichtet hätte. Die Morde sind natürlich eine enorme soziale Tragödie. Aber zukünftig könnte sich eine einzige kriminelle Gruppe konsolidieren, eine große Allianz von Sinaloa (3) zum Beispiel, dann gehen die Morde wieder zurück – so wie in Russland. Und wir möchten nicht, dass die Presse den Fall Mexiko dann nicht mehr im Blick hat.

Was könnten Journalisten denn Ihrer Meinung nach tun?

Sie sollen nicht nur über Morde berichten, sondern auch darüber, wie es mit all den anderen Verbrechen aussieht, vor allem mit denen, die Menschenleben gefährden: Menschenhandel und -schmuggel oder Entführungen, die in Mexiko enorm zunehmen. Es ist das gesamte Spektrum der Kriminalität, das die Lebensqualität der Mexikaner und Mexikanerinnen beeinträchtigt. Wir haben Hunderttausende interne Flüchtlinge in Mexiko, die vor dem bewaffneten Konflikt fliehen und die sich auf verschiedene Regionen des Landes verteilen. Auch das Problem der Flüchtlinge wird von der Presse überhaupt nicht aufgegriffen. Sie zählt weiter Morde. Darum muss eine analytische Berichterstattung her. Das Spektrum mexikanischer organisierter Kriminalität wird immer noch unterschätzt oder einfach nicht gesehen: Mexikanische kriminelle Gruppen sind in 52 Ländern aktiv und gehen mehr als zwanzig verschiedenen Delikten nach.

Was könnte die Zivilgesellschaft von den verantwortlichen Politikern fordern?

Sie sollte fordern, dass die Regierung nicht nur die Morde zählt, sondern dass sie auch klare Indikatoren für die erfolgreiche Bekämpfung und Aufklärung dieser Verbrechen benennt, so wie es zum Beispiel die Europäische Union tut. Das würde das Land vielleicht nach vorne bringen.

Fußnoten

  1. PRI: Die Partido Revolucionario Institucionalizado entstand aus der mexikanischen Revolution (1910–1920). Sie wurde 1929 als Partei zunächst unter dem Namen Partido Nacional Revolucionario (PNR) gegründet und besteht seit 1946 als PRI. Sie hat Mexiko von 1929 an bis zum Jahr 2000 regiert.
  2. PAN: Partido Acción Nacional ist die am ehesten christdemokratisch konservativ zu nennende Partei Mexikos, die das Land seit 2000 regiert.
  3. Sinaloa: Bundestaat im Nordwesten Mexikos. Das Sinaloa-Kartell gehört aktuell zu den reichsten und einflussreichsten Kartellen, das einen wesentlichen Teil des Handels über die Nordgrenze betreibt.

Edgardo Buscaglia ist Direktor des International Law and Economic Development Center der University of Virginia, Vizepräsident der Inter American Law and Economics Association sowie zurzeit Gastprofessor am Instituto Tecnológico Autónomo de México. Der US-Uruguayer berät internationale und bilaterale Organisationen in Fragen von Korruption, organisierter Kriminalität, Schattenwirtschaft, Rechtsreformen und Regierungsführung.

Böll.Thema 3/2011

Grenzenlos Illegal – Transnationale organisierte Kriminalität

Organisierte Kriminalität kennt keine Grenzen. Sie hat in vielen Ländern der Welt die Politik und den Alltag infiltriert. Auch in Deutschland. Sie gehört deshalb in den öffentlichen Diskurs und auf die politische Agenda. Mit Beiträgen von: Florian Kühn, Arun Kumar, Carolyn Norstrom, Annette von Schönefeld, Regine Schönenberg u.a.

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