Diese sehr unterschiedlichen Sichtweisen sind eine Erklärung dafür, warum Zumas Führung in der breiteren Gesellschaft – insbesondere unter den Intellektuellen – als desaströs beurteilt wird, wohingegen er innerhalb des ANC mit großem Beifall im Dezember wieder gewählt werden wird.
Mit der Erlangung der Staatsmacht 1994 kamen gewaltige Veränderungen. Die Komplexität des Regierens brachte die korrumpierenden Einwirkungen von Geld und Macht mit sich. Die aufkommende Elite brachte sich in Stellung, um zu Wohlstand und Einfluss zu kommen; dazu nutze sie die Möglichkeiten des Staates.
Das sind zweifellos die großen historischen Trends, die den ANC prägen und seiner zukünftigen Entwicklung Gestalt geben, gleichzeitig aber drückte die Führung von Polokwane der Organisation ihren eigenen Stempel auf.
Machtverschiebung zugunsten des ANC
Im Wesentlichen hat die Polokwane-Führung in den vergangenen fünf Jahren den nach 1994 herrschenden Trend zur Modernisierung gestoppt und ist zu einer Weltsicht zurückgekehrt, in der die gesellschaftliche Entwicklung am besten dadurch gesteuert wird, dass der ANC das Kommando vorgibt – einer Welt, in der die Befreiungsbewegung und ihre Interessen über allem stehen.
Am deutlichsten wird dies in einem beachtlichen Schritt weg vom Konstitutionalismus. Dies geschah zumindest im ideologischen Sinne, aber auch in der Praxis, was insbesondere im Verhalten der Partei gegenüber der Justiz, dem Strafjustizsystem, der Tätigkeit der Polizei, dem staatlichen Informations- und Geheimdienst sowie neuerdings auch der Wirtschaft deutlich wurde. Viele dieser Entwicklungen wurden von Organisationen der Zivilgesellschaft, Intellektuellen und der Opposition kritisiert und im jeweils geeigneten Rahmen angefochten.
Weniger offensichtlich ist, dass es der Polokwane-Führung gelungen ist, die Beziehung zwischen der Partei und der Regierung so umzugestalten, dass sie selbst der bedeutendere und wichtigere Partner von beiden ist. Unter der Präsidentschaft von Nelson Mandela und der von Thabo Mbeki hat die Regierung die Richtlinien der Politik bestimmt und sich dabei auf die Expertise von Beamten, Beratern und Experten zu bestimmten Themen gestützt. Heute hat der ANC Vorrang, wenn es um die politischen Vorgaben geht.
In den Präsidentschaften vor der "Ära Zuma" folgte die Regierung in der Regel dem vom ANC gesetzten Rahmen; Abweichungen von einzelnen Beschlüssen des ANC konnten dabei aber sehr weitreichend sein. Beispiele hierfür sind die finanzpolitisch konservative Wirtschaftspolitik, die das Finanzministerium unter Minister Trevor Manuel unter schlichter Nichtbeachtung der Partei 1996 forcierte, und die überraschende Schließung des Ministeriums für Wiederaufbau und Entwicklung, die ohne Konsultation des ANC vollzogen wurde.
Das ging über zehn Jahre so - erst danach konnten der ANC und seine Verbündeten, die Südafrikanische Kommunistische Partei (SACP) und der Verband Südafrikanischer Gewerkschaften (COSATU), die Kontrolle wieder an sich reißen. Diese beiden Allianzpartner waren während der "Ära Mbeki" ebenfalls kalt gestellt worden und hatten allergrößtes Interesse daran, diesen Kampf zu gewinnen. Wo das neue Machtzentrum lag, zeigte nichts deutlicher als die Abberufung Mbekis aus dem Präsidentenamt– ein neuer Präzedenzfall für das Verhältnis zwischen der Partei und dem Staat, der keinen Zweifel daran ließ, wer von nun an das Sagen hatte.
Das Verhältnis zwischen Macht in der Partei und Macht im Staat ist nie eindeutig und einfach; dennoch kann man sagen, dass der ANC in der "Ära Zuma" das Zentrum der Macht geworden ist. Die Beschlüsse des ANC werden ernster genommen als je zuvor. Die Minister und ihre Generaldirektoren achten sehr genau darauf. In den vergangenen fünf Jahren pilgerten immer mehr Regierungsbeamte zum Luthuli House , um die ANC-Führung über die neusten Entwicklungen zu "unterrichten". Immer öfter wurde man auch Zeuge davon, dass Bürokraten Fachabteilungen des ANC zugeordnet wurden, um grundlegende Parteiarbeit zu leisten, sei es beim E-Tolling oder bei den Untersuchungen zu den Kandidatenaufstellungen des ANC bei Lokalwahlen.
Treffen von Entscheidungen ohne ausreichende Informationen
Nach den Maßstäben des ANC wird die Vorrangstellung der Partei beim kommenden Parteitag als eine bedeutende Errungenschaft von Zumas Führungsriege gewertet werden; ihre Auswirkung auf die Gestaltung der Politik ist jedoch eher ungünstig. Es steht zu erwarten, dass Parteimitglieder aus den Untergliederungen des ANC auch zu so komplexen und vielschichtigen Fragen wie der staatlichen Intervention in den Bergbau oder der Führung von Telkom politische Vorgaben machen werden. Da man von einem durchschnittlichen Parteimitglied kein Expertenwissen über Bergbau oder Telekommunikation erwarten kann, läuft es darauf hinaus, darauf hat Manuel hingewiesen, dass Leute ohne ausreichende Informationen wichtige Entscheidungen treffen werden.
In einem Interview mit dem Business Day, sagte Manuel dieses Jahr folgendes über den Prozess politischer Entscheidungen: „Das System, so wie es existiert, funktioniert nicht, da es eine Beziehung zwischen Menschen in der Regierung und Menschen im ANC aufbaut, zwischen denen eine tief greifende Informations-Asymmetrie besteht. So werden wir zum Beispiel Personen in der Regierung haben, die einen Antrag über nukleare Energie formulieren werden und gewöhnliche Parteimitglieder, die keine Ahnung haben von was gesprochen wird.“
Anstatt sich in die Details der Regierungsarbeit einzumischen, so Manuel, solle die Partei die politischen Rahmenbedingungen setzen und sich dann auf den wichtigen Teil fokussieren – die Überwachung ihrer Implementierung.
Doch statt diese Warnungen ernst zu nehmen, gehen die jeweiligen Interessengruppen in die entgegen gesetzte Richtung und drängen die Parteigliederungen dazu, sich in den detaillierten Prozess der Politikgestaltung einzumischen und sich somit Handlungszusagen der Politik für die Zukunft zu sichern. Mit Blick auf den Bergbausektor tritt die SACP zum Beispiel dafür ein, nicht nur die allgemeine Stoßrichtung der ANC-Überlegungen für diesen Wirtschaftssektor zu verabschieden, sondern jeden einzelnen der 12 Punkte mit sehr detaillierten Vorschlägen.
Zu dieser von Zuma und seinen Mitstreitern erfolgreich betriebenen Positionierung des ANC im Verhältnis zur Regierung passt freilich der derzeitige Zustand der Partei überhaupt nicht. Sie ist schwächer denn je, wenn es um Parteiangelegenheiten geht, franst sie überall aus.
Gwede Mantashe, der Generalsekretär, hat zwar sehr viel entschiedener versucht, den ANC in seinen Strukturen zu lenken, als es seine Vorgänger getan haben, dennoch ist es dem Luthuli House nicht gelungen, die Organisation hinter Zuma zu vereinen. Schon nach wenigen Monaten begann die Koalition, die Zuma an die Macht gebracht hatte, auseinander zu brechen. Die Kommunisten wurden von den Nationalisten attackiert, und die übermäßig ehrgeizige ANC Youth League schoss sich auf einzelne Personen ein, die ausgewechselt werden sollten. Selbst als Kommunist angegriffen und zur Auswechslung frei gegeben, wurde Mantashe in Richtungskämpfe hineingezogen, was es ihm unmöglich machte, Einheit herzustellen.
Das schwache Zentrum hat die negativen Entwicklungen, die in der Übernahme der Staatsmacht ihren Ursprung haben, noch beschleunigt, was letztendlich zum Niedergang des ANC führen wird: Fraktionsbildung, der Wettstreit um staatliche Ressourcen, Patronage und sogar Gewalt und kriminelles Vorgehen.
Das schwache Zentrum hat zudem Auswirkungen auf die Regierung und die Gesellschaft: Eigentlich hätte der ANC eine bestimmte Richtung einschlagen müssen, stattdessen wurde die Politik der Regierung immer wieder angefochten.
Die intellektuellen Anstöße kommen aus sich stark widersprechenden Ecken, der SACP auf der einen und Finanzminister Pravin Gordhan und seinem Ministerium auf der anderen Seite. Dazwischen gerät die Regierung regelmäßig ins Schwimmen: Von E-tolling bis hin zu illegalen Streiks, in allen Fragen gibt es einen Zick-Zack-Kurs zwischen Politik-Optionen und Politik-Implementierung.
.....
Carol Paton ist erfahrene Beobachterin der südafrikanischen Politik und schreibt regelmäßig in der Tageszeitung Business Day, wo dieser Artikel am 12.12.2012 erschienen ist.
Dossier
100 Jahre ANC
Der Afrikanische Nationalkongress ANC wurde am 8. Januar 100 Jahre alt. Die Bewegung, die sich bis heute nicht als Partei versteht, besiegte das weiße Minderheitsregime, das Südafrika 350 Jahre lang beherrschte - und hält seit 1994 die politische Macht inne. In unserem Dossier finden Sie Hintergrundtexte, Bildmaterial und zeitgeschichtliche Dokumente und mehr...