Mini-Boykott gegen Ukraine: Der politische Umgang mit der Europameisterschaft 2012

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7. Juni 2012
Wolfgang Templin
Als 2008 die Entscheidung bekannt wurde, Polen und der Ukraine gemeinsam die Ausrichtung der Fußballeuropameisterschaften 2012 zu übertragen, kannte die Begeisterung keine Grenzen. Polen sah sich in seiner Rolle als Brückenland in den europäischen Osten bestätigt und wollte über die sportliche Herausforderung hinaus, den proeuropäischen Kurs der Ukraine unterstützen. Die führenden Gestalten der orangen Revolution von 2004 hatten zwar bereits zu dieser Zeit bewiesen, dass sie zur Kooperation unfähig waren, dennoch gab es die Hoffnung das Land aus dem postsowjetischen Sumpf herauszuziehen. Julia Tymoschenko als Ministerpräsidentin und Viktor Juschtschenko als Staatspräsident - einst als Traumpaar gesehen - zerfleischten sich jedoch weiter gegenseitig und warfen ihrem gemeinsamen Gegenkandidaten Viktor Janukowytsch den Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2010 förmlich vor die Füße.

Absurde Anschuldigungen gegen Opposition

Bei seinem Amtsantritt gab sich der ehemalige Mafiaboss aus dem ostukrainischen Donezk geläutert und erklärte am proukrainischen Kurs seines Landes festhalten zu wollen. Polen solle in ihm einen guten Partnerbei der Vorbereitung und Ausgestaltung der Fußballeuropameisterschaft haben. Die Realität der letzten beiden Jahre übertrumpfte dann selbst die schwärzesten aller Befürchtungen . Statt der angekündigten soliden Reformschritte und eines fairen Umgangs mit dem politischen Gegner, läutete Janukowytsch die Stunde der großen Abrechnung ein. In den Ministerien, im Staatsapparat, in den Medien, auf regionaler und lokaler Ebene wurden Unterstützer der Oppositionsparteien oder unabhängige Experten gefeuert und durch Parteigänger des Staatspräsidenten und Mitglieder von Oligarchenclans besetzt. Clans die ihn unterstützt hatten, seine nächste Umgebung bildeten und nun ihren Anteil an der Beute forderten. Insider schwankten in ihren Einschätzungen, wie weit Janukowytsch dabei selbst die treibende Kraft war oder sich als Getriebener der untereinander rivalisierenden wichtigsten Oligarchen sah , die er zum eigenen Machterhalt brauchte. Hass und Rachebedürfnis auf alles gerichtet, was nach der orangen Revolution und ihren Folgen aussah, waren entscheidende Motive der Säuberungskampagne und der damit verbundenen politischen Verfolgungen. Mehrere Minister der Regierung Tymoschenko landeten unter teilweise absurden Anschuldigungen im Gefängnis, der nie wirklich reformierte Sicherheitsdienst griff auf Methoden der Einschüchterung und Kontrolle zurück, die man bereits überwunden glaubte. Julia Tymoschenko sah sich lange vor ihrer Inhaftierung als das prominenteste Opfer und sollte Recht behalten.

Ein weiteres Markenzeichen der Machtausübung von Viktor Janukowytsch und seinen Getreuen prägte in makabrer Weise die Vorbereitung des Sporthöhepunktes, den Bau der Stadien und die Infrastrukturprojekte. Gier und Bereicherungssucht führender Politiker, allen voran des Staatspräsidentes selbst, ließen Milliarden in dunkle Kanäle wandern. Von Ausschreibungen nach europäischen Standards konnte keine Rede sein, Korruption und Willkür bestimmten die Vergabe von Aufträgen und Dienstleistungen. Die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, ohnehin mit einer unfähigen, trägen Verwaltung und mit Milizionären konfrontiert, die eher Wegelagerern als Gesetzeshütern gleichen, sahen ohnmächtig einer kleptokratischen Orgie zu. Ihre Vorfreude auf die Spiele, ihre Gastfreundschaft, der Ruf ihres Landes wurden in Frage gestellt – was blieb war Bitterkeit.

Der Fall Tymoschenko


Je näher der Termin der Eröffnung der Spiele im Juni rückte, umso drängender wurde die Frage nach dem  Schicksal der ehemaligen Ministerpräsidentin, die in der Haft schwer erkrankte. An Julia Tymoschenko scheiden sich in der Ukraine die Geister und auch international sind die verschiedensten Urteile zu hören. Für die einen ist ihr Charisma längst erloschen, hat sie ihren Ruf als Politikerin, die das Land in eine europäische Zukunft führen wollte, unwiederbringlich verspielt. Andere verweisen auf ihre lange Geschichte, die Höhen und Tiefen kannte, die sie nach einer ersten Inhaftierung 2002 zur Volksheldin werden ließ und sagen ihr ein politisches Comeback voraus. Unstrittig ist die Absurdität der Vorwürfe, die zu ihrer Inhaftierung und Verurteilung in einem ersten Prozess führten. Sie solle in ihrer Zeit als Ministerpräsidentin finanzielle Schäden für die Ukraine in dreistelliger Millionenhöhe verursacht haben, weil sie auf das russische Preisdiktat bei Erdgaslieferungen einging. Kenner der Vorgänge wissen, dass Tymoschenko in den damaligen Moskauer Verhandlungen kämpfte bis zuletzt aber mit der russischen Drohung konfrontiert wurde, ansonsten den Gashahn zuzudrehen. Im Winter 2008-2009 auf den diese Verhandlungen fielen, zitterte halb Europa bei dieser Aussicht und die eiserne Julia musste zähneknirschend nachgeben.

Es ist die Absurdität der Anschuldigungen, es sind Szenen aus Gerichtssälen der Ukraine, welche einen schaudern lassen und es ist die Krankheit Tymoschenkos, welche jetzt die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und zahlreicher Politiker auf ihre Person richtet. Übersehen wird dabei schnell, dass sie zwar das mit Abstand bekannteste aber bei weitem nicht einzige Opfer nicht zu stillender Rachebedürfnisse ihrer Gegner ist. Der ehemalige Innenminister der Regierung Tymoschenko, Juri Luzenko, wurde mit dem Vorwurf, er habe seinem Chauffeur zu einer unberechtigt hohen Rente verholfen und seinen Milizionären eine Feier zu üppig ausgerichtet, zu mehreren Jahren Straflager verurteilt. Auch er ist in der Haft erkrankt und wird nicht angemessen medizinisch behandelt. Zahlreiche weitere Beispiele sind jedem Ukrainer bekannt.

Empörung und Proteste, die in der Ukraine aufflammten aber nicht zu einem Flächenbrand wurden, auf den Julia und ihre Anhänger hofften, ergriffen zunehmend auch das Ausland. Nachdem alle Bemühungen fehlgeschlagen waren, Janukowytsch auf diplomatischem Wege, bei öffentlichen und vertraulichen Begegnungen zum Einlenken zu bewegen, wurde und wird der Ruf nach Sanktionen und einem politischen Boykott der Spiele immer lauter. Peinlich ist nur, wenn sich dabei Politikerinnen und Politiker am lautesten geben, die in der Vergangenheit nicht durch ihr Interesse für den demokratischen Weg der Ukraine auffielen, die sich nicht darum kümmerten oder immer schon wussten, dass die Ukraine eigentlich nicht zu Europa gehört. Oft sind es die gleichen Politikerinnen und europäischen Repräsentanten, die sich nicht im mindesten daran stören, dass Moskau bei der erneuten Amtseinführung Wladimir Putins wirkte, als sei es von einer Neutronenbombe heimgesucht wurden, dass dort Woche für Woche friedliche Demonstranten niedergeknüppelt, terrorisiert und inhaftiert werden.

Ukraine ist nicht Belarus

Angela Merkels Vergleich der Janukowytsch- Herrschaft mit Belarus zeugt von einer Ignoranz, die sich der komplizierteren Realität verweigert. Alle Rückwärtsbewegungen der neuen Führung ließen die Ukraine noch lange nicht zu einer Diktatur belarussischen Typs werden. Spätestens die orange Revolution von 2004 hat dem Land Veränderungen gebracht, die noch fortwirken und Janukowytsch um seinen Machterhalt zittern lassen. Legal agierende und im Parlament vertretene Oppositionsparteien, eine (noch) plurale Medienlandschaft, eine Zivilgesellschaft deren Selbstbewusstsein noch nicht gebrochen wurde und das vorhandene Demonstrationsrecht sind Realität. Im Herbst stehen Parlamentswahlen an, deren Ausgang noch offen ist - selbst wenn die gegenwärtigen Machthaber versucht haben, die Wahlordnung zu ihren Gunsten umzustricken. Es wird an der immer noch zerstrittenen politischen Opposition liegen, ob sie ihre Chancen auf einen erneuten politischen Wandel wahrnimmt.

Polen tut sich als Mitveranstalter der Spiele und erklärter Fürsprecher der Ukraine naturgemäß am schwersten mit vollmundigen Boykott -Erklärungen. Adam Michnik und andere polnische Intellektuelle fordern zur aktiven Solidarität mit der ukrainischen Opposition auf und verurteilen die politisch motivierten Verfolgungen. Sie machen aber auch klar, warum der Boykott für sie nicht in Frage kommt.

Alexander Tymoschenko, der in das Prager Exil ausgewichene Mann der Inhaftierten, sieht die Zweischneidigkeit von Boykottdrohungen und –maßnahmen, die auch den Stolz der normalen Ukrainer verletzen. Er spricht sich für scharfe und gezielte Sanktionen aus, gerichtet auf einen engen Kreis von politischen Verantwortungsträgern. Ihre westlichen Konten gehörten eingefroren, gegen sie sollten Einreisesperren verhängt werden. Das könnte ein wirksamer Weg sein, selbst wenn sich Tymoschenkos Optimismus, seine Frau werde die nächste ukrainische Präsidentin sein, nicht unbedingt bestätigen muss. Einig in der Forderung nach ihrer Freilassung, rufen jüngere Vertreter der ukrainischen Opposition und Zivilgesellschaft dazu auf, eine Erneuerung des politischen Lebens mit anderen Personen anzugehen und sich dabei auf einen langen Weg vorzubereiten. Ihr Appell an die europäischen Politiker und Fussballfans, sich die Gelegenheit der Spiele nicht entgehen zu lassen, dabei aber jede Gelegenheit zu nutzen, das Land und seine Zukunftschancen besser kennenzulernen und politisch aufzutreten, sollte nicht ungehört bleiben.  


Dossier

Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie

Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Trotz Reformen hat die Demokratie in der Ukraine immer noch große Defizite. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung beschleunigt, doch ist die Demokratie im Lande weiter instabil und die Zivilgesellschaft zu schwach, um Politiker und Politikerinnen kontrollieren zu können. Ein Schritt zurück zur Autokratie ist bei der andauernden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgeschlossen. Das Dossier begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Artikeln und Hintergrundberichten.