Wie der Eurovision Song Contest die kulturelle Vielfalt Europas spiegelt

Analyse

Die fast 70-jährige Geschichte des ESC liest sich auf vielen Ebenen wie ein Seismograph der kulturellen und gesellschaftspolitischen Situation in Europa.

Eine Frau steht, umringt von Fotografen, barfuß mit einem Blumenstrauß und einer Siegesmedaille vor einer Punktetafel
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Sandie Shaw trat barfuß auf und gewann 1967 als erste Britin den Eurovision Song.

Im Laufe seiner fast 70-jährigen Geschichte ist der Eurovision Song Contest bzw. Grand Prix d’Eurovision, wie er früher einmal hieß, zu einem Medienspektakel geworden, das aus der Öffentlichkeit hierzulande nicht mehr wegzudenken ist. Gleichwohl der Wettbewerb polarisiert, nicht nur Begeisterung unter eingefleischten Fans, sondern auch Kopfschütteln und Kritik hervorruft, kommt man jedes Jahr im Mai an der medialen Präsenz und Berichterstattung kaum vorbei. Mittlerweile gibt es Anhänger*innen in Australien und in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo die Show aufgrund ihres Unterhaltungswerts und ihrer Buntheit und Vielfalt soliden Anklang findet. Aus den sieben Ländern (Schweiz, Italien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Deutschland), die 1956 in Lugano zum ersten Mal gegeneinander antraten, ist die Zahl der jemals teilgenommenen Länder auf insgesamt 50 angestiegen. Die European Broadcasting Union berichtete von 162 Millionen Zuschauer*innen bei der Übertragung des Finales und der beiden Halbfinale 2023. Damit ist der Eurovision Song Contest der größte Musikwettbewerb weltweit.

Die Anfänge als Grand Prix

1956 sah die Sache allerdings noch ganz anders aus, und sie hörte sich auch anders an. Hauptsächlich als Radiosendung wurde der Grand Prix in den heimischen Wohnzimmern empfangen – und damit sollte das „Grand“ vielleicht eher qualitativ zu verstehen gewesen sein –, während im Konzertsaal das Publikum in Anzug und Abendgarderobe platznahm. Der Wettbewerb wurde von der European Broadcasting Union ins Leben gerufen, um zum einen den heimischen Musikmarkt anzutreiben, indem ausschließlich Originalkompositionen mit einer Länge von höchstens drei Minuten eingereicht werden konnten. Weder Länder noch Performer*innen traten also gegeneinander an, sondern Komponist*innen im Auftrag der jeweiligen nationalen Rundfunkanstalt. Dieser Aspekt ist in unserer heutigen Zeit verständlicherweise ein wenig in Vergessenheit geraten. Festzuhalten ist jedenfalls, dass bis heute weder die nationale Herkunft der Komponist*innen noch die Sprache der Texte vorgegeben ist (eine Sprachenregelung existierte allerdings zwischen 1966 und 1972 sowie zwischen 1977 und 1998). Zum anderen diente das Eurovisionsformat dazu, das junge Medium des Fernsehens mit unterhaltsamen Programminhalten zu füllen, die in den Mitgliedsländern der European Broadcasting Union trotz unterschiedlicher Sprachen zugänglich waren. Denn die Zahl der TV-Geräte in den Haushalten stieg in den 1950er und 1960er Jahren weiter an, sodass der Kompositionswettbewerb immer häufiger auch über das Fernsehen empfangen werden konnte.

Musik hat eine gemeinschaftsbildende und emotionale Wirkung.

Wichtiger akustischer wie auch visueller Bestandteil der damaligen Aufführungen war das Orchester mit Dirigent*in. Nicht nur die Klanggestalt und der Stil der damaligen Lieder (hauptsächlich Chansons und Schlager) wurde dadurch geprägt, auch eine Art kultureller Dialog wurde symbolisch zelebriert, indem der Baton feierlich von Dirgent*in zu Dirigent*in weitergegeben wurde. Generell ging es vor allem darum, mithilfe der Sprache der Musik über Sprachbarrieren der Länder hinweg den kulturellen Austausch zu fördern. Eine musikalische Unterhaltungssendung im Fernsehen schien ein adäquates Mittel dafür gewesen zu sein, mediale Gemeinschaften zu bilden. Was jedenfalls trotz des Wettbewerbsgedankens auf keinen Fall unterstützt werden sollte, war ein Konkurrieren auf politischer Ebene oder in Hinsicht einer nationalen Identität. Bis heute sind im Regelwerk des Eurovision Song Contest politische Inhalte in den Liedern und in den Aufführungen ausdrücklich verboten. Gute zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs scheint das Bedürfnis, sich in vermeintlich unpolitische Unterhaltungsmusik flüchten zu wollen, verständlich gewesen zu sein. Ist es aber allein dem Zufall geschuldet, dass (mit Ausnahme der Schweiz) die gleichen Länder, die im ersten Grand Prix partizipierten, zehn Monate später im März 1957 die Römischen Verträge unterschrieben und damit den Grundstein für die Europäische Union legten? Musik mag zwar keine politischen Entscheidungen provozieren können, doch hat sie eine gemeinschaftsbildende und emotionale Wirkung, die möglicherweise die Weichen für eine breitere Zustimmung stellen kann.

Eurovision als Spiegel der gesellschaftspolitischen Lage

Die fast 70-jährige Geschichte des Eurovision Song Contest liest sich auf vielen Ebenen wie ein Seismograph der gesellschaftspolitischen Situation in Europa und darüber hinaus. In den Präsentationen, in der Teilnahme und dem Fernbleiben der Länder, in den Gewinnertiteln, in den Kommentaren der Moderator*innen und in der Medienberichterstattung werden die europäische Nachkriegsgeschichte, die Prozesse von Teilung und Integration reflektiert. Wenn man genau hinhört, hallen Ereignisse wie der Prager Frühling, die Straßenunruhen in Belfast, die Nelkenrevolution in Portugal, das Ende der Franco-Diktatur, der Zypernkonflikt, die Osterweiterung der Europäischen Union, die Orangene Revolution und der Angriffskrieg in der Ukraine als Echo in manchen der Beitragslieder wider.

Wie nie zuvor ist die politische Dimension des Medienspektakels seit 2022 deutlich geworden.

Um nur zwei Beispiele zu nennen: Von Nicole 1982 auf vier Sprachen gesungen, fing das Lied „Ein bisschen Frieden“ den Zeitgeist und den Wunsch nach einem friedvollen Miteinander im Schatten des Nato-Doppelabkommens ein. Toto Cotugnos Hymne „Insieme – Unite, unite Europe“ traf 1990 die hoffnungs- und freudvolle Stimmung nach dem Fall der Berliner Mauer. Wie nie zuvor ist die politische Dimension des Medienspektakels seit 2022 deutlich geworden, als das Kalush Orchestra mit einem überwältigenden Erfolg zum Sieger des Wettbewerbs gewählt wurde und Großbritannien im darauffolgenden Jahr als Gastgeberland einsprang.

Wie wir wissen, fing der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland allerdings schon viel früher an, sowohl in der gnadenlosen Realität als auch in der Utopie des Gemeinschaft feiernden und Grenzen überwindenden medialen Miteinanders. Denn als Russland 2014 die Krim annektierte, reagierte der Wettbewerb kaum darauf, sowohl die ukrainische als auch die russische Delegation lieferten ihre ja lange zuvor selektierten Beiträge ab. Nicht die ukrainische Sängerin, sondern die österreichische Gewinnerin Conchita Wurst wurde seitens russischer Konservativer angefeindet. Im darauffolgenden Jahr verhinderte schließlich der Krieg im Donbass eine Teilnahme der Ukraine. Doch ihr Fehlen beim Wettbewerb blieb weitgehend unbeachtet, was als symptomatisch für die Reaktion Europas auf Russlands Oppressionen gelten kann. 2016 wurde die ukrainische Stimme zumindest auf der Eurovisionsbühne dafür umso mehr erhört, als Jamala im Song „1944“ über ihre Familiengeschichte, über die Deportation der Krim-Tataren und über den Ruf nach mehr Menschlichkeit sang. Diesem Ruf folgten im darauffolgenden Jahr 42 Teilnehmer*innen, als der Wettbewerb zum zweiten Mal in Kiew stattfand – eine russische Delegation wurde nicht entsendet. Erst nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am 25. Februar 2022 entschied die Reference Group des Eurovision Song Contest, Russland auszuschließen, weil es die Werte des Wettbewerbs, das heißt, kulturelle Verständigung, Vielfalt und friedliches Miteinander, missachte.

Die Solidaritätsbekundungen für die ukrainische Delegation waren überwältigend, die Nummer „Stefania“ wurde unweigerlich als Protestsong rezipiert, wenngleich sie schon lange vor der Invasion komponiert wurde. Hat das Kalush Orchestra nun allein aufgrund von Empathie und Solidarität für die Ukraine gewonnen? Oder doch auch, weil es sich um eine gelungene Komposition und Performance handelte? Unterschiedliche kulturelle Elemente wurden darin miteinander verbunden: folkloristischer Gesang im Refrain, moderner Rap in den Versen und ein instrumentaler Hook auf der Telenka. Sechs divers aussehende, sowohl traditionell als auch modern gekleidete Männer, animierten mit ihrer Performance das Publikum zum Mittanzen, Mitklatschen und Mitsingen, auch wenn nur Wenige den Text verstanden haben.

Musikalische Diversität

Im Grunde ist es genau diese eklektische kulturelle Diversität, die den Wettbewerb und seine Beiträge so attraktiv macht. Allein beim Betrachten und Anhören der ukrainischen Beiträge seit ihrem Debüt 2003 fällt auf, wie musikalisch vielfältig die Songs sind: Ethnopop, Hip Hop, Techno, Disco, Folklore, Pop-Balladen, Trip Hop, Rock; und wie innovativ traditionell-musikalische Elemente wie folkloristische Flöteninstrumente, historische Gesangspraktiken und spezifische Harmonik integriert werden. Nimmt man die gesamte 70-jährige Geschichte mit den insgesamt mehr als 1.600 Liedern in den Blick und ins Ohr, so erhält man ein reichhaltiges und einzigartiges Archiv der jüngeren Musikgeschichte in Europa und darüber hinaus, das von musikalischer und kultureller Diversität geprägt ist. Angefangen mit Chanson und Schlager, decken die Nummern mittlerweile alle möglichen Spielarten der populären Musik ab. Neben den oben bereits erwähnten Musikrichtungen sind noch Jazz, Blues, Disco, Gospel, Latin, Balkan Pop, Reggae, Heavy Metal, EDM, Operngesang und Singer-Songwriter-Kompositionen zu ergänzen.

Es ist diese eklektische kulturelle Diversität, die den Wettbewerb und seine Beiträge so attraktiv macht.

Ein Durchstöbern des Archivs über die einzelnen Dekaden hinweg zeigt, dass sich die Musik des Wettbewerbs immer weiterentwickelt hat und dass sie im Laufe der Zeit immer neue Strömungen der populären Kultur aufgenommen hat. Von der eher seriösen Angelegenheit in den 50er und 60er Jahren begann sich Anfang der 70er Jahre die Jugendkultur auszubreiten. Während die 80er Jahre von modisch ausgefallen Styles geprägt waren, wurde Ende der 90er Jahre das Live-Orchester durch instrumentales Playback ersetzt, was sowohl visuell als auch aufführungstechnisch und musikalisch eine der einschneidendsten Veränderungen in der Geschichte des Komponist*innenwettstreits war. Diese Änderung ermöglichte aber auch eine größere musikalisch-kreative Freiheit und die Verwendung von moderneren Instrumenten und Synthesizer Sounds. Ebenso wurde die Bühnengestaltung von Jahr zu Jahr kreativer, elaborierter, aufwendiger und technifizierter, sodass das Art Design in einem nicht unerheblichen Ausmaß die Wirkung und Botschaft der Songs transportiert.

Neben den musikalisch-performativen Entwicklungen dienen die Aufnahmen aus der Geschichte des Wettbewerbs als Zeuginnen für die technischen Innovationen der letzten sieben Dekaden. Die Kameraführung und -technik hat sich verändert, die Qualität der Live-Übertragung hat sich verbessert und ihre Reichweite ist gewachsen. Das Archiv der konservierten Beiträge macht diese Entwicklungen unüberhörbar und unübersehbar. Heute ist der Eurovision Song Contest ein audiovisuell immersives Medienspektakel, das die neusten digitalen Technologien nutzt.

In Vielfalt vereint

Je mehr Länder teilnahmen, desto vielfältiger und bunter wurde es auf der Bühne des Eurovision Song Contest, auf der innerhalb von drei Minuten eigentlich alles Verrückte und Schräge seinen Platz finden konnte. Seither konvergieren globale Trends und lokale Stilrichtungen in den Performances und sorgen für mancherlei Überraschungen. Immer wieder werden sowohl visuell als auch musikalisch Elemente integriert, die auf spezifische kulturelle Traditionen in den jeweiligen Ländern verweisen. Nicht die Echtheit dieser Elemente ist für das Gelingen verantwortlich, sondern vielmehr die Art, wie das für Außenstehende exotisch klingende und ausschauende Material mit bekanntem Material kombiniert wird. Insgesamt kann diese breite musikalische Diversität als akustischer Spiegel gelesen werden für eine kulturelle Diversität, die in den unterschiedlichen Ländern Europas und darüber hinaus besteht, sowie für die Diversität auch innerhalb der unterschiedlichen Generationen, die sich über die Dekaden hinweg als Publikum zu einer medialen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben.

Generell geht es bei diesem Medienspektakel darum, das Publikum mitzureißen, es mit der Musik emotional zu berühren, es zu überraschen und vielleicht auch zum Lachen (oder zum Kopfschütteln) zu bringen. Die Teilnehmer*innen wollen mit ihren Auftritten einen bleibenden Eindruck hinterlassen und das Publikum davon überzeugen, dass sie Teil dieser Eurovisionsgemeinschaft sind. Musik ist das Mittel, das den Hörer*innen ein Gefühl des Dazugehörens gibt. Die Zuschauer*innen vor den Fernsehgeräten und mittlerweile den mobilen Endgeräten werden Teil dieser Gemeinschaft, die ihren Mittelpunkt in Europa hat, aber in verschiedenste Teile der Welt ausstrahlt. Sie fühlen sich miteinander verbunden und können durch Televoting an diesem Live-Event partizipieren. Interessant ist, welch unterschiedlichen Stellenwert die Show in den einzelnen Ländern hat und wieviel Aufmerksamkeit ihr in den unterschiedlichen Jahren zugetragen wurde. Dies mit empirischen Daten zu untersuchen, steht aus, aber die Langlebigkeit des Wettbewerbs zeigt doch ein beständiges Interesse daran, das sich sowohl in Begeisterung als auch in Kritik äußert. Jede*r scheint eine Meinung dazu zu haben, und jede Meinung sollte erlaubt sein, sofern sie bei allem persönlichen Geschmack nicht mit den Werten von kultureller Vielfalt, Offenheit, Toleranz und Integration kollidiert. Ein Auftritt muss einem nicht gefallen, aber die Leistung, die Kreativität und der Aufwand der Komponist*innen und Performer*innen sollte wertgeschätzt werden.

Manche Auftritte mögen sogar extreme Meinungen provozieren und absichtlich polarisieren. Doch am Ende ist es die gleiche Musik, die die Eurovisionsanhänger*innen eben auch vereint. Dass sowohl auf der Bühne als auch im Publikum jede*r so sein darf, wie er oder sie möchte, ist eine kleine Errungenschaft des Musikwettbewerbs, die in anderen Kontexten mit einer solchen Größendimension und Öffentlichkeitswirksamkeit kaum möglich ist. Der Eurovision Song Contest bietet Platz für große Gefühle, den Gedanken an Gerechtigkeit und gleichberechtigte Genderdarstellungen. Kann ein Wettbewerbssong deswegen die Welt verändern? Wohl kaum. Aber er kann zumindest für den Moment die Welt als einen besseren Ort erscheinen lassen. Kann der Eurovision Song Contest in einem unpolitischen Vakuum existieren? Keineswegs. Im Gegenteil, die Verantwortlichen sollten sich seiner politischen Dimension bewusstwerden und damit verantwortungsvoll umgehen. Der Wettbewerb kann eine – wenn auch vielleicht utopische – Alternative bieten, bei der eine heterogene Gemeinschaft alljährlich zusammenkommt, um kulturelle Vielfalt und Verständigung zu fördern. Wenn auch nur einmal im Jahr, einen Samstagabend lang.


Prof. Dr. Saskia Jaszoltowski lehrt Musikwissenschaft an der Uni Graz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Musik- und Mediengeschichte (insbesondere Filmmusik) sowie die Auseinandersetzung mit politischen, ästhetischen und ökonomischen Verflechtungen der Musikkultur.